| # taz.de -- Schlagloch Bayern: Das bayerische System | |
| > Was kann Deutschland von Bayern lernen? Dass der Kapitalismus am besten | |
| > mit dem Volk, aber ohne Demokratie funktioniert. | |
| Bild: Die CSU aber ist keine Partei, sondern ein Geisteszustand. | |
| Über den Verfall der Demokratie wird in ganz Deutschland geklagt. In ganz | |
| Deutschland? Nein, in Bayern nicht. Es kann ja schließlich nix verfallen, | |
| was es nie gegeben hat. Über die Nicht-Demokratie in Bayern hat der Rest | |
| der Republik lange Zeit gespottet, so als wäre es eine Mischung aus mehr | |
| oder weniger liebenswerter Rückständigkeit, Bauernschläue, angewandtem | |
| Katholizismus und Hinterfotzigkeit. | |
| Die Uhren gehen hier halt ein bisschen anders, und die Geschäfte auch. Wir | |
| haben einen Chiemsee, BMW, ein Oktoberfest und den FC Bayern, was brauchen | |
| wir da noch eine Demokratie? | |
| Wie aber, wenn es ganz anders wäre? Wenn der bayerische Sonderweg nicht | |
| Rückständigkeit, sondern einen Vorgriff darstellte? Eine | |
| „Erfolgsgeschichte“ ist dieses Land von Laptop und Lederhosen doch allemal. | |
| Es zeigt, dass ein Kapitalismus am besten mit dem Volk, aber ohne | |
| Demokratie funktioniert. Alle paar Jahre wird das Volk gefragt, ob es denn | |
| eine Demokratie will. Und das Volk antwortet: Nein, wir wollen lieber CSU. | |
| ## Erst komm ich, dann die Spezln | |
| Die CSU aber ist keine Partei, sondern ein Geisteszustand. Einer, der auch | |
| viele ergriffen hat, die gar nicht in der Partei sind. Die Grundprinzipien | |
| dieses Geisteszustandes sind sehr einfach, wie das meiste in diesem Land: | |
| 1. Oberstes Gebot ist die persönliche Bereicherung. Jeder Bayer träumt | |
| davon, ein reicher Bayer zu sein. Weil, als ein reicher Bayer kannst du das | |
| Leben wirklich genießen. Wir haben hier nicht einen protestantisch-analen, | |
| sondern einen oral-katholizistischen Kapitalismus. Einen hedonistischen | |
| Kapitalismus. Aber nicht so einen „Trink doch einen mit, haste ooch kein | |
| Jeld“-Hedonismus, sondern so einen „Ein jeder schaut, wo er | |
| bleibt“-Hedonismus. | |
| 2. Erst komm ich, dann kommt die Familie, dann kommen die Freunde, Spezln | |
| genannt, dann kommen die Partei, der Verein, der Stammtisch, halt alles, wo | |
| man Geschäfte ausmacht und bestimmt, wer dazugehört und wer nicht, dann | |
| kommt ein Wir, das am besten im Bierzelt zu sich kommt. Diese Reihenfolge | |
| bedingt, dass es zwar eine funktionierende Spezlwirtschaft gibt, man | |
| allerdings auch einen Spezl sofort fallen lässt, wenn es ums Geld geht. Das | |
| bayerische System besteht aus Beziehungen und Interessen, nicht aus Werten | |
| oder Codes. | |
| 3. Wer zahlt, schafft an. Wenn einer aber gut im Anschaffen ist, kann er | |
| andere für sich zahlen lassen. Aus dem System der Abhängigkeiten und | |
| Interessen ist eine ziemlich brutale Hierarchie geworden, in der sich das | |
| Pastorale und Feudale in der Machtpraxis mit der Bürokratie verbinden. | |
| 4. Alles, was innerhalb dieses Systems geschieht, wird vergeben, möglichst | |
| öffentlich. Wenn einer bestraft gehört in Bayern, dann nicht ein | |
| Steuerhinterzieher wie Hoeneß, sondern einer, der den Steuerhinterzieher | |
| mit Dreck bewirft. Wer erinnert sich nicht an das Gejammer der Madeleine | |
| Schickedanz, dass sie, wenn man ihre Arcandor sterben ließe, kein Dach über | |
| dem Kopf mehr hätte. Nachher sind dann doch die Millionen herausgekommen, | |
| die sie gebunkert hat. Für dieses Schauspiel hat man sie sehr bewundert, in | |
| Bayern. | |
| Das lehrt: Das Bazitum in Bayern ist keineswegs eine rein männliche | |
| Angelegenheit, was man auch an den Politikerinnen in der Regierung sieht. | |
| Sie beherrschen das Handwerk des Bazitums so perfekt wie die Männer, setzen | |
| aber an die Stelle der Bierzelt- die Rosenkranz-Miene auf. Die Täter in | |
| diesem System sind immer Opfer, und die Opfer dieses Systems sind immer | |
| Täter. | |
| ## Opposition geht gar nicht | |
| 5. Wir richten uns gern nach dem Volk, das darf auch leben, besonders auf | |
| sogenannten Volksfesten, auf denen Trachtengewand Pflicht ist, aber eine | |
| Opposition, das geht nicht. Da hört der Spaß auf. Das eine Gesicht der | |
| bayerischen Politik wird durch Trachtenjanker und Dauergrinsen gebildet, | |
| für das andere sind Polizei und Justiz zuständig. | |
| Das Selbstverständnis dieser Institutionen ist gerade dabei, den Eintritt | |
| ins 19. Jahrhundert zu vermeiden (nämlich ins Zeitalter der bürgerlichen | |
| Zivilgesellschaft). Zwar werden überall in Deutschland Polizei und Justiz | |
| politisch missbraucht, und überall gibt es dabei auch Leute mit einem Hang | |
| zur Unmenschlichkeit. In Bayern aber ist der Normalzustand, was anderswo | |
| der Ausrutscher ist. | |
| 6. Es kann gar nicht anders sein: Wer gegen dieses System etwas hat, sagt | |
| oder tut, der muss verrückt sein. Dass ein Mann, der eine Schwarzgeldaffäre | |
| aufdeckt, in die Psychiatrie gesperrt wird, sieben Jahre lang, und dass | |
| gegen alle Offensichtlichkeit nichts korrigiert wird, das ist keineswegs | |
| eine typisch bayerische Sturheit, es ist eine Kampfansage: Jeder und jede | |
| soll es wissen! So etwas kann hier jedem und jeder passieren. Jederzeit. | |
| Wer das System stört, ist schuldig und soll leiden. | |
| 7. Das Wesen der bayerischen Gesellschaft besteht mithin in Mechanismen des | |
| Dazugehörens. Das Dazugehören wird besiegelt an den Stellen, wo sich die | |
| folkloristische Maskerade und die nichtdemokratische politische Praxis | |
| treffen. Deswegen müssen die Rituale des Dazugehörens so furchtbar laut | |
| sein. Und deswegen müssen auch die Kritiker irgendwie zum Dazugehören | |
| gelangen. In der Kunst nennt man das dann meistens eine Hassliebesbeziehung | |
| zur Heimat. Man soll nicht glauben, dass das ein besonders schönes Gefühl | |
| ist. | |
| Warum wir derzeit überhaupt über dieses geschmeidige System reden? | |
| Offensichtlich erlebt es eine mittlere Krise. Es wäre innerhalb dieses | |
| System gar nicht weiter erwähnenswert, dass die Politiker in Bayern ihren | |
| Familienangehörigen Posten und Aufträge zuschanzen, quer durch die Parteien | |
| (wie gesagt: die CSU ist als Geisteszustand nicht auf diese Partei | |
| beschränkt), auch dann noch, nachdem es schon „verboten“ ist. | |
| ## Kampf zweier Linien | |
| Hinter Dauergrinsen und Folklore, hinter Tracht und Niedertracht tobt aber | |
| ein mächtiger Streit zwischen zwei Fraktionen des bayerischen Systems, | |
| zwischen den Radikalkonservativen der Spezl-Ökonomie, die einfach so | |
| weitermachen wollen wie bisher – erstens, weil man in einer Kultur des | |
| Nehmens nie genug haben kann, und zweitens schon aus Trotz – und zwischen | |
| den Modernisierern, die kapiert haben, dass es für das bayerische System | |
| von Vorteil ist, wenn es sich ein kleines bissel an das deutsche und | |
| europäische Umfeld anpasst, weil nämlich dann, wenn Bayern ein bisschen | |
| „demokratischer“ wird, die Chance wächst, dass die Welt ein bisschen | |
| bayerischer wird. | |
| Das bayerische System war schon berlusconistisch, da hat der Berlusconi | |
| noch Pornohefte auf dem Schulhof verkauft. Was im Berlusconismus die | |
| „furbi“ sind, die Gewitzten, das sind in Bayern die Spezln, Amigos und | |
| Bazis. Die geben ihren Reichtum und ihre Macht so schnell nicht her. Aber | |
| wie der Berlusconismus ist auch das bayerische System nicht für die | |
| Ewigkeit gedacht. Es will nur ums Verrecken nicht sterben. | |
| 23 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Seesslen | |
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