# taz.de -- Schlagloch Wahl-Verwirrung: Election Blues | |
> Wähler und Nachrichtenleser werden sich immer unheimlicher. Trotz | |
> Empörung über Affären und Skandale überwiegt die Resignation. | |
Bild: Alles Flaschen – aber immerhin haben Sie die Wahl | |
Da wird eine gigantische Bespitzelungs- und Datensaugaffäre ruchbar, und | |
die Gesellschaft zerfällt prompt in zwei Teile. Die einen verstehen die | |
Welt nicht mehr und sind empört. Die anderen wollen das alles schon immer | |
gewusst haben und sind höchstens überrascht darüber, dass ein Whistleblower | |
noch solchen Aufruhr erzeugen kann. | |
Die Regierung gibt sich unwissend, will jetzt aber alles in ihrer Macht | |
stehende tun, von wegen deutscher Rechtsstaat und so. Die Mehrzahl der | |
Menschen, traut man den Umfragen, glaubt der Regierung im Allgemeinen und | |
der Kanzlerin im Besonderen davon kein Wort. Zur gleichen Zeit sagen die | |
gleichen Umfragen, dass eine fast ebenso große Mehrheit fest entschlossen | |
ist, dieser Regierung und ihrer Kanzlerin per Wahlzettel „das Vertrauen | |
auszusprechen“. | |
Dafür gibt es nur zwei Erklärungen: Entweder wählt man jemanden zum | |
Regenten, weil man es für politisch zweckmäßig und damit für einen | |
Befähigungsnachweis hält, dass ein Politiker oder eine Politikerin die | |
Bevölkerung belügt. Oder aber, wir, das Wahlvolk und wir, das | |
Nachrichtenvolk, haben eine neue Variante der politischen Schizophrenie | |
entwickelt. | |
Nächste Nachricht: Die Politikerinnen und Politiker einer großen | |
bayerischen Partei zeigen ihren Familiensinn vor allem dadurch, dass sie | |
Angehörige mit lukrativen Pöstchen und Aufträgen versehen. Der | |
Nachrichtenleser ist wahlweise entsetzt oder grimmig amüsiert. Was aber | |
macht der Wähler? Genau. Er verhilft dieser Partei zur absoluten Mehrheit. | |
Drittens. Ein Mann verbringt sieben Jahre seines Lebens in einer | |
geschlossenen psychiatrischen Einrichtung. Von Anfang an gibt es Zweifel an | |
der Einweisung, die sich für die Mehrheit der Kommentatoren und auch der | |
Bevölkerung zu Gewissheiten gewandelt haben: Hier ist einem Menschen so | |
offensichtlich bitteres Unrecht geschehen, dass man es bei den dafür | |
zuständigen Stellen nicht mehr schafft, es zu verbergen. Nicht auszudenken, | |
wie viele Fälle es gibt, bei denen das Verborgenhalten gelingt. | |
Die Politik, es ist ja Wahlzeit, möchte die Sache vom Tisch haben. Aber ein | |
mächtiges Subsystem dieser Gesellschaft, die Justiz, vereitelt das. Nicht, | |
ob diese Weigerung nach den eigenen Codes und Vorschriften rechtens ist, | |
ist hier die Frage, sondern vielmehr: Was ist passiert, wenn im Rechtsstaat | |
das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit, die Interessenlage der | |
politischen Klasse und das Recht auf Selbsterhöhung einer Instanz wie der | |
Justiz sich so weit von einander entfernt haben? | |
Zunächst: Das Vertrauen hat aufgehört, die innere Legitimation von | |
Regierung, Staat und Gesellschaft zu sein. Wir wählen als Wähler mehr oder | |
weniger vertrauensvoll Menschen (und Institutionen), denen wir als | |
Zeitungsleser jedes Vertrauen versagen müssen. Auf die Aufklärung ist die | |
Abklärung gefolgt. Die wenigsten machen sich noch Illusionen. | |
## Wähler wollen es nicht wissen | |
Daher ist, viertens, der „Fall Hoeneß“ als Experiment anzusehen. Wie viel | |
werden sich die Zeitungsleser einerseits zumuten lassen, die Wähler | |
andererseits? Wie lässt sich ein Fußballverein propagandistisch einsetzen, | |
wenn altmodische Vorstellungen wie Gerechtigkeit verabschiedet werden? | |
Fünftens: Es ist ja Wahlzeit. Bemerkenswerterweise setzen sich die drei | |
großen, nun ja, „Volksparteien“ nicht so sehr gegeneinander ab, sondern | |
versuchen im Gegenteil, sich gegenseitig Themen, Motive, Begriffe zu | |
klauen. Sie ersticken sich gegenseitig. Sie sagen nichts, sondern sie | |
erwürgen gemeinsam die politische Sprache. | |
Offenbar liegt das Geheimnis all dieser bemerkenswerten Ungleichungen in | |
einer nach allgemeinem Konsens organisierten Differenz zwischen dem, was | |
wir wissen müssen und dem, was wir wissen wollen. Wir, das seltsame | |
Wahlvolk, wir sind entschlossen, das Lügen zu wählen. Denn als | |
Zeitungsleser und Nachrichtengucker wissen wir, was nach der Wahl auf uns | |
zu kommt: nichts Gutes. | |
Neue Belastungen. Neuer Abbau der Rechte. Neue Umverteilungen nach oben. | |
Neue Einschränkungen der Sozialleistungen. Neue Brutalitäten der | |
Austeritätspolitik. Man muss für diese Erkenntnisse kein Pessimist sein, | |
nicht einmal ein Linker; es genügt die Lektüre der bürgerlichen Presse. | |
## Mitmacher, ran an die Urne | |
Die Postdemokratie hat einen neuen Feindtypus. Und sie zeigt, egal ob im | |
Polizeieinsatz in Stuttgart und anderswo, oder wie im Fall Gustl Mollath, | |
mit welcher Brutalität sie ihn zu verfolgen bereit ist. Es ist nicht der | |
Analytiker, nicht der Opponent, nicht der Dissident. Der neue Feind ist der | |
Lästige. Jener Mensch, der das reibungslose Funktionieren der geschmeidigen | |
Verbindungen der Subsysteme untereinander und ihre Abschottungen gegenüber | |
demokratischer Kontrolle zu stören imstande ist. | |
Die Anzeigenkampagne des Deutschen Bundestags („mit freundlicher | |
Unterstützung von Gruner + Jahr“) ist beredt, denn sie entwirft den | |
Gegenspieler: Ein Profiboxer erklärt, warum man dringend wählen gehen soll: | |
„Wer hier nicht mitmacht, hat den Gong nicht gehört.“ Fragen Sie mich | |
nicht, was diese Metapher bedeuten soll, achten Sie lieber auf das Motto: | |
Bei „Du hast die Wahl“ ist das „hast“ überschrieben mit einem „bist�… | |
Also: Wir haben zwar keine Wahl, aber wir sind eine Wahl. Ein | |
Demokratiesimulationsevent. Wir beginnen zu begreifen, was an die Stelle | |
von Vertrauen und Kontrolle zwischen Regierung und Volk treten soll. Ein so | |
vages wie verpflichtendes Mitmachgefühl, der Mitmacher. Ich fühl mich wahl. | |
Als Wähler schaffen wir offenbar Legitimation für eine politische Klasse, | |
zu der wir kein Vertrauen haben. Die selbst benutzt das Projekt der | |
Demokratie nur noch als Oberflächenreiz und erzeugt immer neue | |
undemokratische Inseln. Und tut nichts dafür, ihre Instrumente des | |
Gewaltmonopols – Polizei, Bürokratie und Justiz – demokratischer und | |
aufgeklärter zu machen. | |
Das alles ist keine „Meinung“, schon gar keine extreme. Es ist die | |
Quintessenz der politischen Nachrichten, die uns erreichen. Ein Wähler | |
sollte in der Wahlperiode den Nachrichtenkonsum dringend einstellen. | |
4 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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