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# taz.de -- Debatte Kapitalismus: Streuerhinterziehung am Küchentisch
> Salz- und Pfefferstreuer erzählen uns viel über das Wesen des
> Kapitalismus. Unendlich variierbar sind sie Begeleiter sozialer Auf- und
> Abstiege.
Bild: Hören wir genau hin, denn die Streuer erzählen uns was vom Klassenantag…
Alle reden von Steuerhinterziehung, von politischer und sonstiger Moral,
von Verteilungsgerechtigkeit, Finanzkapitalismus, schleichender Enteignung
der kleinen Sparer und vom Merkelismus. Vom Ende oder von der
Unbeendbarkeit unseres famosen, auf Wettbewerb, Wachstum und Wirrnis
beruhenden Wirtschaftssystems. Und ich? Ich rede von Salzstreuern.
Der Salzstreuer war ursprünglich eine geniale Idee; ein abgekantetes
Glasfässchen mit metallenem Schraubverschluss. Fein gemahlenes Salz hinein,
drei, vier Reiskörner dazu, das bindet die Feuchtigkeit; ab und an mit
einem Zahnstocher die Löcher von verklumptem Salz befreien, fertig ist die
praktische und mehr oder weniger hygienische Art des Salzens.
Salzen ist okay, wenn es sich zum Beispiel um ein Frühstücksei oder eine
frisch aufgeschnittene Tomate handelt. Eher nicht okay, dennoch zumindest
in Deutschland sehr verbreitet, ist das sogenannte Nachsalzen. Eine
Beleidigung für jeden Koch, wenn Sie mich fragen. Trotzdem bleibt die
Bereitstellung des Salzstreuers wohl ein Grundelement der Gastlichkeit.
Der Salzstreuer ist eines der ersten Objekte, die in einem Haushalt ihren
Platz finden. Und umgekehrt: Haushalte finden sozusagen rund um einen
Salzstreuer statt. Zu dem findet sich ein Gegenstück: der Pfefferstreuer.
## Nachpfeffern ist erlaubt
Der Pfefferstreuer stand stets im Schatten des Salzstreuers. Und vollends
obsolet wurde er durch den Siegeszug der Pfeffermühle. Die Pfeffermühle
zeigt, dass ein Haushalt gefestigt wurde. Die Wichtigkeit zentraler
kulinarischer Rituale lässt sich ohne Weiteres an der Größe der
Pfeffermühle ablesen, die dabei zum Einsatz kommt. (Für die Kenner kommt es
natürlich auch auf das Mahlwerk an.)
Vom Salzstreuer zur Pfeffermühle, das ist das erste kleine Kapitel in der
Geschichte der Kleinbürgerfamilie: Da geht es noch bergauf! Es ist das
Konsolidierungsinstrument eines Haushalts, eines von etlichen jedenfalls.
Und da schaut natürlich der Salzstreuer wieder ziemlich alt aus. Denn
Nachpfeffern ist ausdrücklich erlaubt, es zeugt von Geschmack und
Eigensinn, während Nachsalzen … Also, wo sind wir denn hier?
Salz und Pfeffer verhalten sich zueinander wie das Proletariat zum
Kleinbürgertum. Das eine ist dringend notwendig, benimmt sich aber immer
daneben, das andere hält sich selbst für was Besseres und merkt gar nicht,
wie es den Geschmack verdirbt. Wie die Pfeffermühle den Salzstreuer
überragt, so wächst man über seine Anfänge hinaus. Als Pfefferstreuer
jedenfalls kann man ziemlich tief fallen. Wenn man nämlich als
Pfefferstreuer durch eine Pfeffermühle ersetzt worden ist, steht man nur
noch so im Regal herum und ist der eigenen Hässlichkeit schutzlos
ausgeliefert. Es sei denn, man hatte sich schon zuvor mit dem Salzstreuer
zu einem zumindest theoretisch untrennbaren Set verbunden.
Ein Salzstreuer der traditionellen Art dagegen ist ein nur mäßig variiertes
Industrieprodukt. Weil es jeder Haushalt braucht, unterliegt es dem, was
Georg Simmel die konsumtive Preisbegrenzung nannte: „Viele Güter sind in
solcher Masse vorhanden, dass sie von den zahlungsfähigsten Elementen der
Gesellschaft nicht konsumiert werden können, sondern, um überhaupt
abgesetzt werden zu können, auch den ärmeren und ärmsten Schichten
angeboten werden müssen. Deshalb dürfen derartige Waren nicht teurer sein,
als diese Schichten im äußersten Fall zu zahlen imstande sind.“
## Die feinen Unterschiede
Salzstreuer haben nun freilich, um aus der Falle der konsumtiven
Preisbegrenzung zu entkommen, eine ästhetisch-mythische Spirale in Gang
gesetzt. Das Ding aus Glas mit durchlöchertem Blechdeckel, das man unter
anderem aus Lokalen mit mäßiger Reputation kennt, wurde durch Salz- und
Pfefferstreuer von abenteuerlichen Formen und Materialien ersetzt, oft
zusammengeführt in Körbchen oder anderen Behältnissen. Es gibt nichts auf
dieser Welt, was nicht die Form von Salz- und Pfefferstreuern im
praktischen Set annehmen kann: Köche, Katzen, Eier, Weltrevolutionäre,
Eisenbahnwaggons, Kakteen, Kutschen, Omas und Opas, Menschenfüße, schiefe
Türme, Dampfer …
Für den oben genannten Haushalt, der ja auch so seine eigene Geschichte
hinter sich zu bringen hat, zeitigt die ästhetische Explosion der Salz- und
Pfefferstreuer fatale Folgen. Sie werden nämlich, nur zum Beispiel, zu
einem dieser Mitbringsel und Geschenke, die sich häufen, ohne dass man sie
zu entsorgen wagt. Zur gleichen Zeit aber werden Salz- und Pfefferstreuer
zu Objekten, die beweisen, wie man zum Zeitgeist, zum Geschmack, zum Humor
und zur Idee der Tischdekoration steht. Nie war der Mensch so nackt wie mit
seinem Salzstreuer.
Aus dem ursprünglichen Massenobjekt, das auch eine klassenübergreifende
Praxis ermöglichte (Reichen Sie mir mal bitte das Salz rüber? Ein Satz, den
man nicht zufällig nur noch sehr selten hört) und eines jener Gemeinschaft
über alle Einkommens- und Kulturgrenzen stiftenden Kulturobjekte war, wurde
ein militantes Differenzierungsinstrument. Ich sage nur:
Designer-Salzstreuer. Ein echt antikes Stück, übrigens. Ach wissen Sie, ein
Weihnachtsgeschenk, das uns die Kinder aus Burma mitgebracht haben. Der
postmoderne Salzstreuer ersetzt ein Tischgespräch über Subjektphilosophie.
## Salzstreuer beim Sonnenkönig
Und am schlimmsten erwischt es natürlich wieder einmal die weniger
verdienenden Opfer der Discounter-Kultur. Plastiksalzstreuer im
1-Euro-Regal; ach komm, ist doch mal was anderes. Und wenn sie beim ersten
Versuch, dem Salzklumpen ein gleichmäßiges Würzen abzuringen, zusammen mit
dem Mahl kaputtgehen, das man zu verbessern trachtete? Morgen gibt es neue
Salzstreuer.
Aus der konsumtiven Preisbegrenzung ist eine eklatante Überversorgung der
Menschheit mit Salz- und Pfefferstreuern geworden. Unendlich variierbar
nicht nur in Form und Farbe, sondern auch in kulturellem Anspruch und in
der Sinnproduktion. Wohin träumst du mich, kleiner Salzstreuer? In selige
Kindheit, in Aufbau und Fortschritt, an den Hof des Sonnenkönigs, nach
Chemnitz gar?
Die Unkaputtbarkeit des Kapitalismus kann man zweifellos am
Salzstreuer-Markt erklären. Immer mehr Salzstreuer! Immer andere
Salzstreuer! Salzstreuer mit eingebauter Kaputtgarantie, Salzstreuer mit
einer „Ich kann’s nicht mehr sehen!“-Garantie, Salzstreuer als Begleiter
sozialer Auf- und Abstiege.
Und nun? Man kann bei gewissen sehr hippen Läden einen Salzstreuer ganz in
der traditionellen Art erwerben; ganz billig ist diese Rückbesinnung
allerdings nicht.
Wenn mich also mal jemand fragen sollte, wie der Kapitalismus funktioniert
und was für verheerende Folgen er für jeden Einzelnen von uns hat, dann
antworte ich nur: Salzstreuer.
8 May 2013
## AUTOREN
Georg Seesslen
## TAGS
Steuerhinterziehung
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