# taz.de -- Filme über den Terror der Roten Khmer: Dann ist bald niemand mehr … | |
> Rithy Panh hält in seinen Filmen die Erinnerung an den Terror der Roten | |
> Khmer wach. Jetzt erscheint seine Autobiographie „Auslöschung" auf | |
> Deutsch. | |
Bild: Ein Tourist besucht das ehemalige S-21-Lager in Pnom Penh. Heute ist es M… | |
Rithy Panh verdankt sein Leben einer Reihe von glücklichen Zufällen. Einmal | |
hebt er zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen einen | |
Bewässerungskanal aus, dabei verletzt er sich mit der Hacke am Fuß. Nicht | |
schlimm. „Doch die feuchte Erde“, schreibt er rückblickend, „der Staub, … | |
Schweiß, der Schlamm, das stehende Wasser, der Mangel an Nahrung und Schlaf | |
sorgten dafür, dass sich die Wunde entzündete.“ Weil es im Kambodscha der | |
Roten Khmer an Medikamenten mangelt, verschlechtert sich der Zustand des | |
Jungen, schließlich landet er auf der Sterbestation eines Krankenhauses. | |
Der Patient auf der Nachbarpritsche hat eine ähnliche faulige Wunde, an der | |
sich Fliegen zu schaffen machen. Eines Tages zieht ein Arzt einen weißen | |
Wurm daraus hervor, bald darauf stirbt der Mann. Rithy Panh hat Glück, | |
seiner Mutter gelingt es, heimlich aufbewahrtes Gold gegen eine | |
Penizillintablette zu tauschen. Nachdem sie die Wunde damit bestäubt hat, | |
genest ihr Sohn. | |
Als die Roten Khmer 1975 die Macht in Kambodscha übernehmen, ist Rithy Panh | |
elf Jahre alt. „Ich hatte das Glück, zwischen zwei Lebensabschnitten zu | |
sein“, schreibt er. „Ich hatte die Feigheit eines Kindes und die | |
Widerstandskraft eines Erwachsenen. ’Feigheit‘ schreibe ich, meine aber | |
wohl eher ’Gerissenheit‘. Jünger oder älter, wäre ich an Erschöpfung | |
gestorben – oder unter den Schlägen der Roten Khmer.“ | |
In lebensbedrohliche Lagen gerät er trotzdem, einmal ist es die entzündete | |
Wunde am Fuß, dann die Ruhr, an der er fast stirbt, ein drittes Mal eine | |
Kobra in einem Erdloch, in das er auf der Suche nach Essbarem um ein Haar | |
hineingegriffen hätte, um eine Ratte zu fangen. Der Junge, der es an seiner | |
Stelle wagt, stirbt einen Tag später an der Wirkung des Schlangengifts. | |
## Hass auf alles Bürgerliche | |
Heute ist Rithy Panh Filmemacher, sein Hauptwohnsitz ist Paris, und mit | |
dokumentarischen Arbeiten wie „S 21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer“ | |
(2003) oder „Les artistes du théâtre brulé“ (2005) trägt er dazu bei, d… | |
die Erinnerung an den Terror der Roten Khmer nicht verblasst. In den vier | |
Jahren, die das Regime Pol Pots dauerte, von 1975 bis 1979, sterben 1,7 | |
Millionen Menschen. | |
Mord, Folter, willkürliche Verhaftungen, Denunziationen, systematische | |
Hungersnot und ein eliminatorischer Hass auf alles, was als bürgerlich | |
erachtet wird, sei’s ein Vorname, eine Brille oder eine Heirat aus Liebe, | |
sind Alltag. Mit Unterstützung des Autors Christophe Bataille hat Rithy | |
Panh ein Buch über all dies verfasst, das 2011 in Frankreich erschien und | |
seit Kurzem auch auf Deutsch vorliegt: „Auslöschung. Ein Überlebender der | |
Roten Khmer berichtet“. | |
Es besteht aus zwei Strängen: Panhs Erinnerungen an seine Kindheit, die von | |
Hunger, Zwangsumsiedlung, Zwangsarbeit und dem Verlust der engsten | |
Angehörigen geprägt ist (sein Vater verhungert, seine Mutter stirbt an | |
Entkräftung). Parallel dazu schildert er, wie er Kaing Guek Eav interviewt. | |
Dieser Mann, besser bekannt als Duch, stand dem Straf- und Folterlager S 21 | |
in Pnom Penh vor. | |
Zum Zeitpunkt der Interviews ist er in Haft; ihm wird der Prozess gemacht, | |
mittlerweile ist er im Revisionsverfahren zu lebenslanger Haft verurteilt, | |
und die Interviews sind in Panhs Dokumentarfilm „Duch – Der Schmiedemeister | |
der Hölle“ (2011) eingeflossen. Die Wechsel zwischen den beiden Strängen | |
erfolgen abrupt, das Buch wirkt deshalb sprunghaft, das Material | |
ungebändigt. | |
In Rithy Panhs Filmen ist dies anders. Obwohl sie vom Terror handeln, | |
finden sie zu einer souveränen Form. In „S 21 – Die Todesmaschine der Roten | |
Khmer“ zum Beispiel setzt Rithy Panh das Mittel des Re-Enactments auf | |
kluge, an Claude Lanzmanns „Shoah“ geschulte Weise ein. | |
## Wörter wie Geständnis sind kontaminiert | |
Die einstigen Folterer bewegen sich durch die Zellen und Gänge des | |
S-21-Lagers, das heute eine Gedenkstätte ist, und führen an imaginären | |
Gefangenen die Gesten und Handbewegungen aus, die zwischen 1975 und 1979 | |
ihr Tagwerk waren. Über ihre Verstricktheit in den Terror sprechen sie | |
nicht oder nur verdruckst, doch in den Re-Enactments, in den viele Jahre | |
später noch sitzenden Handgriffen, tritt sie klar zutage. | |
Dem Buch dagegen fehlt diese Fähigkeit, dem Gegenstand beizukommen, ihn zu | |
bewältigen, bisweilen meint man, der Text kollabiere, so wie Rithy Panh | |
immer wieder unter der Last der Erinnerungen kollabiert. Trotzdem muss | |
dieses Buch geschrieben werden: „Ich glaube an die Arbeit in der Zeit, an | |
die Arbeit der Zeit. Ich möchte verstehen, erklären, mich erinnern – und | |
zwar genau in dieser Reihenfolge.“ | |
Der Wunsch zu verstehen und zu erklären ist es denn auch, der Panh durch | |
die Interviews mit Duch trägt. Denn diese Gespräche sind voller | |
Fallstricke, zum einen, weil Panh fürchtet, Duch instrumentalisiere ihn für | |
seine Zwecke, indem er seine Rolle im Straflager herunterspiele und sich | |
selbst entlaste. Zum anderen, weil Panh, ob er will oder nicht, eine | |
Situation wiederholt, die im Terrorsystem der Roten Khmer ihren festen | |
Platz hatte: die des Verhörs. Er will ein Geständnis aus Duch herausholen, | |
will, dass der die Wahrheit über das Lager S 21 sagt. | |
Doch Wörter wie Geständnis und Wahrheit sind kontaminiert, weil die Roten | |
Khmer geradezu obsessiv daran arbeiteten, mit Hilfe der Folter etwas zu | |
produzieren, was sie Geständnis und Wahrheit nannten. Rithy Panh entkommt | |
diesem Dilemma, indem er einen strikt aufklärerischen Ansatz verfolgt. Er | |
spricht mit Duch, weil er die historischen Fakten sichern und so einen | |
wichtigen Beitrag dazu leisten will, dass die kambodschanische Gesellschaft | |
ihre Geschichtsvergessenheit überwindet und Schritte zur Selbstaufklärung | |
unternimmt. | |
## „Eisige Poesie“ der Khmer-Sprache | |
Wie weit die Macht der als Wahrheit verkleideten Lüge zu Zeiten der Roten | |
Khmer reichte, zeigt sich in einer Szene von „S 21 – Die Todesmaschine der | |
Roten Khmer“, in der Vann Nath und Chum Mey, zwei der wenigen überlebenden | |
Häftlinge des Lagers, Akten einsehen. Sie stoßen auf eine Liste mit 64 | |
Namen. Es sind die Menschen, die Chum Mey unter der Folter denunziert hat, | |
zum Teil, ohne sie überhaupt gekannt zu haben. | |
Er bereut sichtlich, was er tat, erklärt aber auch, dass er der | |
körperlichen Qual wegen nicht anders konnte, als die Namen zu nennen. Vann | |
Nath rechnet: Wenn Chum Mey 64 Menschen denunziert, diese wiederum je 64 | |
denunzieren, die dann noch einmal je 64 und so weiter, dann ist bald | |
niemand mehr übrig. | |
Vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Lüge nimmt Panh die Sprache der | |
Roten Khmer ins Visier, die „eisige Poesie“ ihrer Slogans und Lieder, die | |
Neologismen, die Tilgung von Eigennamen oder Wörtern wie „Frau“ und | |
„Ehemann“ aus dem Sprachgebrauch, weil die „sexuellen oder bürgerlichen | |
Konnotationen“ Missfallen erregen. | |
Panh beruft sich dabei auf „LTI“, Victor Klemperers Studie über die Sprache | |
im Nationalsozialismus, und auch an anderen Stellen führt er Zeugnisse des | |
Holocausts an, die Bücher Charlotte Delbos etwa oder Alain Resnais’ Film | |
„Nacht und Nebel“, den er im Alter von 18 Jahren sieht: „Ich bin | |
überrascht. Das ist genau dasselbe. Das ist anderswo. Das ist vor unserer | |
Zeit. Aber das sind wir.“ | |
## Abwesenheit von Empathie | |
Zu den Lügengespinsten gehört noch etwas: Intellektuelle im Westen reden | |
Pol Pots Regime schön, weil es ihrer antiimperialistischen Gesinnung | |
widerspräche, kritisch zu sein. Alain Badiou beklagt im Januar 1979 in der | |
französischen Zeitung Le Monde unter dem Titel „Kampuchea wird siegen!“ | |
unter anderem „die unsägliche antikambodschanische Kampagne der vergangenen | |
drei Jahre“. | |
Kampuchea ist der Name, den die Roten Khmer dem Land geben. Noam Chomsky | |
äußert sich ähnlich, nachdem das Regime endlich überwunden ist. Offenbar | |
sind beide so sehr in der Logik des Kalten Krieges gefangen, dass sie | |
wirklich glauben, der Feind ihrer Feinde sei ihr Freund. Die Abwesenheit | |
von Empathie ist umso erschütternder, wenn man bedenkt, wie fürchterlich es | |
für Überlebende von Gräueln ist, werden diese Gräuel nachträglich | |
angezweifelt. | |
Fast 35 Jahre sind vergangen, seit Rithy Panh nach Frankreich ging. | |
Trotzdem erlebt er noch immer Augenblicke plötzlicher Lähmung und Atemnot, | |
etwa wenn er beim Arzt ist, sich Blut abnehmen lässt und ihm unwillkürlich | |
vor Augen tritt, was Duch über tödlich verlaufende Blutabnahmen im | |
Straflager erzählt. Über Chomsky und Badiou schreibt Panh knapp: „Ich lese | |
diese Sätze noch einmal. Die Wörter verschwimmen und entgleiten mir. Ich | |
verstehe sie nicht.“ | |
4 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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