# taz.de -- Album und Theatermusik von CocoRosie: Teufelsinsel und Nimmerland | |
> Das US-Duo CocoRosie ist zurück mit seinem grandiosen Album „Tales of a | |
> GrassWidow“ und dem Soundtrack für „Peter Pan“ am Berliner Ensemble. | |
Bild: Nehmen gerne verzweigte Nebenstraßen: CocoRosie. | |
Alfred Dreyfus war ihr berühmtester Insasse. Und beileibe nicht der einzige | |
Unschuldige, der dort unter unmenschlichen Bedingungen schmorte. Die Rede | |
ist von [1][Devil’s Island], der berüchtigten, vor der Küste von | |
Französisch-Guyana liegenden Gefängnisinsel. Ein Stück alte Welt in der | |
neuen Welt. Besungen wird dieses besonders düstere Kapitel der | |
Kolonialgeschichte von [2][CocoRosie] auf ihrem bald erscheinenden neuen | |
Album „Tales of a GrassWidow“. | |
Man muss schon genau nach „Devil’s Island“ suchen, es ist ein Hidden Trac… | |
der sich ganz am Ende des Albums verbirgt. Erst gilt es zwölf Minuten | |
peinsamer Stille zu überstehen, nach „Poison“ dem vermeintlichen Finale. | |
Plötzlich beginnt ein triumphal übersteuerter Shuffle-Beat – [3][Aphex | |
Twin] hätte ihn nicht fieser und schwindliger programmieren können – und | |
zerfasert friedlich bimmelnde Glockentöne, während die kindlich anmutende | |
Stimme von Bianca Casady schon mit einer unheimlichen Seelenruhe deklamiert | |
„I have only eyes for you“. | |
Toll, wie es CocoRosie damit ganz selbstverständlich gelingt, einen Song | |
gleichzeitig knallig und wattiert klingen zu lassen. Wie sie es schaffen, | |
ohne falsche Rührung einen Songtext über Menschen zu schreiben, die vor der | |
Gesellschaft weggeschlossen werden, unsichtbar gemacht werden, die | |
verlassen sind von Gott und der Welt. | |
Dunkle Romantik, kindliche Naivität, aber auch Einsamkeit, Tod und | |
Verderben, all das sind wiederkehrende Themen im Oeuvre des Schwesternduos, | |
das mit seiner Musik schon immer die Zukunft schrankenlos mit der | |
Vergangenheit zu verschränken wusste. | |
## Amalgan aus mehreren Songs | |
So auch mit „Devil’s Island“, einem Amalgam aus mehreren CocoRosie-Songs … | |
sie dürfen sich inzwischen auch selbst zitieren. Anklänge an ihren Lullaby | |
„Happy Eyez“ tauchen auf, zwischendrin stößt auch eine Live-Aufnahme von | |
„End of Time“ durch die morsche Klangdecke, ebenfalls ein Stück vom neuen | |
Album. Bis man seine Fassung wieder zurückgewonnen hat, hat sich „Devil’s | |
Island“, dieser Phonsturm von einem Song, wieder gelegt. Keine Frage, es | |
ist einer der Tracks des Jahres. | |
Sierra Casady klärt auf: „Die Stille nach ’Poison‘ währt zwölf Minuten… | |
zwölf Sekunden, als Erinnerung an den 12. 12. 2012, den Tag der Aufnahme. | |
Unsere Arbeiten am Album waren eigentlich schon abgeschlossen. Damals | |
sollte ja der letzte Tag auf Erden sein. Nicht für uns, im Gegenteil, | |
,Devil’s Island‘ markiert einen Anfangspunkt. Das Ende von etwas ist eine | |
Erschütterung, die einen Neuanfang einleitet. Ein sehr feierlicher Moment.“ | |
Bianca und Sierra Casady sitzen im Büro ihrer Berliner Plattenfirma. | |
Aufgeräumt wirken sie, konzentriert, neugierig und überaus positiv | |
gestimmt. Das war nicht immer der Fall bei Interviews. „Wir antworten, | |
indem wir Hoffnung spenden und Heilung für alle, die dies akzeptieren | |
möchten“, sagt Bianca Casady, aber sie klingt dabei nicht sonderlich | |
salbungsvoll. | |
Die Antwort bezieht sich auf den Song „Tears for Animals“ und seine | |
existenzphilosophische Anwerfung „Do you have love for human kind?“. | |
CocoRosie mögen hermetisch wirken, mit ihren von Märchenwesen und | |
Schauerromantikelementen bevölkerten Bilderwelt. Aber die Musik sagt | |
eindeutig ja. | |
## Singende Ergriffenheit | |
„Tears for Animals“ steht in der Chronologie des Albums an zweiter Stelle. | |
Und Sierra Casady beantwortet die Frage aus dem Songtext zusammen mit ihrem | |
Freund Antony Hegarty mit einem gerüttelt Maß an singender Ergriffenheit. | |
„Wie bei einem Gebet hegen wir eine Spur Hoffnung. Es ist ein langer | |
Prozess, und wir sind ein Teil davon“, erklärt Sierra Casady. Eingängig ist | |
dieser Song, was auch am Beatboxing des französischen HipHop-Musikers Tez | |
liegt, der wieder mit von der Partie ist. „’Tears for Animals‘ ist Musik, | |
die mich in Bewegung versetzt“, sagt Sierra Casady. | |
„Tales of a GrassWidow“ ist das fünfte Album von CocoRosie, aber das erste | |
in ihrer nun zehn Jahre währenden Karriere, das eine klare | |
Dancefloor-Schlagseite hat. Nicht straight, nicht stur geradeaus, was die | |
Rhythmen und die Melodien angeht, CocoRosie nahmen schon immer die | |
verzweigten Nebenstraßen, verzettelten sich gerne in filigranen Details. | |
So auch auf „Tales of a GrassWidow“, wo manchmal auch zu viele | |
Hirtenflötentöne frei stehen bleiben. Zum Glück gibt es für jeden Anflug | |
von Kitsch als Gegenentwurf Autotune-Effekte für die Stimmen. Wird der | |
omnipräsente Piano-Naturalismus mit schneidenden Synthie-Melodien zerteilt. | |
Was sie unter Dancefloor verstehen, will ich wissen. „Les Mystères de Voix | |
Bulgares“, sagt Sierra Casady. „Diese Musik bringt mich zum Tanzen, sie | |
elektrisiert mich. Die Stimmen machen mich regelrecht aggressiv.“ | |
„Gravediggress, dig me a hole I can bury / All my love in / All of my holy“ | |
heißt es in der ersten Singleauskoppelung „The Gravediggress“. Bianca | |
Casady zoomt sich in diesem Text in die Zukunft und stellt sich ihr Kind | |
vor, das sie selbst als alte Frau anspricht. | |
## „Die Worte zerrinnen ihr wie Sand in der Hand“ | |
Sierra liefert die Begleitumstände: „Der Song erinnert mich an einen frühen | |
Morgen, Bianca sitzt vor ihrer Schreibmaschine in Paris und tippt, setzt | |
Worte auf Papier zusammen, dann schneidet sie diese mit der Schere aus und | |
arrangiert sie neu. Die Worte zerrinnen ihr wie Sand in der Hand. Man denkt | |
an etwas, und je mehr man Gedanken daran verschwendet, desto drastischer | |
fällt alles auseinander.“ | |
Trotz aller Drastik, trotz allen Zerfalls, die Musik von CocoRosie fühlt | |
sich altersloser denn je an, sie klingt, als sei sie unterwegs im Auftrag | |
ewiger Jugend. Ihr Leitmotiv sei „transformative Ekstase im Angesicht von | |
Verwahrlosung“, haben CocoRosie ihrem neuen Album vorausgeschickt. Da mag | |
es auch nicht verwundern, dass die beiden Künsterlinnen in dem Dramaturgen | |
Robert Wilson einen „Seelenverwandten“ (Sierra Casady) auserkoren haben. Er | |
hat CocoRosie engagiert, um [4][für seine Inszenierung von „Peter Pan“] die | |
Musik zu komponieren. Wilson sei mit seinen 70 Jahren wie ein Kind, sagt | |
Bianca Casady. | |
Flucht vor dem Erwachsenwerden ist das zentrale Motiv von „Peter Pan“. Der | |
Held ist imstande zu fliegen, und in diesem Schwebezustand, in diesem | |
ständigen Werden entflieht er in ein fantastisches Nimmerland. In Peter | |
Pans Gegenwelt aus Lagunen, Piraten, Indianern, Meerjungfrauen und | |
fliegenden Kindern fühlen sich auch Sierra und Bianca Casady wie zu Hause. | |
Man darf gespannt sein, welche musikalischen Entsprechungen sie Robert | |
Wilsons suggestiven Bilderwelten beifügen werden. | |
„Peter Pan“. Regie: Robert Wilson. Musik: CocoRosie. Premiere am 17. April, | |
Berliner Ensemble. Weitere Vorstellungen: 18. April, 19. April, 22. April. | |
CocoRosie live: 24. Mai – „Huxleys neue Welt“, Berlin; 25. Mai: „Uebel & | |
Gefährlich“, Hamburg; 1. Juni: „Alte Kongresshalle“, München. CocoRosie | |
„Tales of a GrassWidow“ (City Slang/Universal) erscheint am 24. Mai. | |
17 Apr 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Teufelsinsel | |
[2] http://www.myspace.com/cocorosie | |
[3] http://warp.net/records/aphex-twin | |
[4] http://www.berliner-ensemble.de/premieren | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
Julian Weber | |
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