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# taz.de -- Neues Album von CocoRosie: Trost für verlorene Selbst-Entwürfe
> CocoRosie zeigen, dass musikalische Eigenwelten keineswegs der Logik der
> Innovation folgen müssen. Sie können auch so politisch fortschrittlich
> sein.
Bild: Jede*r soll viele sein können: die Schwestern Bianca und Sierra Casady s…
Was, wenn es gar nicht darum ginge, auf jedem nächsten Album etwas Neues zu
schaffen? Was, wenn es nicht um musikalische Innovation ginge? Wenn die
Vorstellung eines Genies, das unter Leiden immer weiter vordränge und sich
an der Logik des Fortschritts erschöpfte, uninteressant wäre? Das sind
keine hypothetischen Fragen: Denn wenn es darum nicht geht, ist „Put The
Shine On“, das neue Album von CocoRosie, ein gutes Werk.
Das Erfolgskonzept der US-Band liegt nämlich gerade nicht darin, dass sie
immer wieder Neues hervorbringt. „Put The Shine On“ führt fort, was Bianca
und Sierra Casady [1][seit über 15 Jahren] betreiben. Sie bauen ein
Klanguniversum. In diesem Sinn geht es nicht nach vorne, es geht in die
Breite. Sie fügen an der einen Seite ein Stück hinzu, befestigen es an
einer anderen. Das heißt: CocoRosie muss man nicht nur hören, man muss es
als einen Weltentwurf begreifen.
Zwar ist auf „Put the Shine On“ etwas mehr elektrische Gitarre zu hören als
sonst. Die Attraktivität des Albums besteht aber nicht darin, etwas Neues
zu hören.
CocoRosie ist darin einer lang laufenden TV-Serie vergleichbar. Es geht für
die Zuschauer*innen weniger um die Entwicklung eines längeren
Handlungsstrangs, sondern um die Möglichkeit, immer wieder in diese Welt
zurückzukehren. Wichtig ist dann, dass diese jedes Mal so vorgefunden wird,
wie man sie verlassen hat. Und nicht, dass plötzlich alles anders ist.
Obwohl die beiden Schwestern dieser Analogie widersprechen würden.
Performing Arts heißt für sie vor allem, live auf der Bühne zu stehen: „Die
Flüchtigkeit von Konzerten reflektiert unsere Endlichkeit, die uns alle
verbindet. Es ist außerdem schön, etwas zu erleben, das ohne diese
schrecklichen Bildschirme auskommt.“
Das Grundgerüst der Welt, die dort zur Aufführung kommt, legten Bianca und
Sierra Casady im Jahr 2004. Da erschien „La maison de mon rêve“, ihr Debü…
Sierra Casady verfolgte damals eine Karriere als Opernsängerin. Um sich am
Conservatoire de Paris ausbilden zu lassen, zog sie Anfang der Nuller nach
Frankreich.
## Harfe und Rapgesang
Als Bianca Casady wenige Jahre später nachkam, nahmen sie in Sierras
Badezimmer ihr Debüt auf. Geboren war damit nicht nur der Sound von
CocoRosie, geklärt waren auch die Rollen, die die Schwestern in der Band
einnehmen.
Sierra Casady ist für das klassische Element zuständig: Sie hat eine eigene
Art des Pop-Operngesangs entwickelt, spielt Gitarre, Harfe und Klavier.
Bianca Casady kontrastiert Gesang und Spiel ihrer Schwester mit
Kinderspielzeug und anderen elektronischen Geräuscherzeugern.
Dieser Kontrast erhöht sich, wenn Bianca Casady zu rappen beginnt. Harfe
und Spielzeugkeyboard, Operngesang und Rap, high und low – diese Gegensätze
prägen den Sound von CocoRosie. Dass auf „Put the Shine On“ ein paar
Gitarrenriffs zu hören sind, verändert ihn nicht wesentlich.
Um aus dem Sound- einen Weltentwurf zu machen, ist das Talent der
Schwestern zur Inszenierung entscheidend. Bei Auftritten haben sie meistens
Unterstützung durch eine Begleitband. Diese besteht in der Regel aus
Bassist*in, Beatboxer*in und Keyboarder*in. Sie ermöglichen es den
Künstler*innen, in für die Band-Welt entworfenen Charakteren aufzutreten.
Die Schminke erinnert an die Oper, die Baseballcaps an HipHop, die
aufgemalten Bärte deuten auf das Spiel mit Geschlechterzuschreibungen, das
Teil der queeren Vorstellungswelt von CocoRosie ist. Wenn Bianca Casady
sich dann gelegentlich an die Harfe setzt, ist der Showeffekt mindestens
genauso wichtig wie die Töne.
Die Themen, das gilt auch für das neue Album „Put the Shine On“, kreisen um
das Verhältnis von Unschuld und ihrem Verlust. Daraus ergeben sich die
Motive der Songs: Traum und Wahnsinn, biblische Themenkreise wie im Song
„Lamb and the Wolf“ und Kindheit. In all diesen Zusammenhängen fragen
CocoRosie nach der Möglichkeit eines Lebens ohne Schuld, zwischen
nostalgischer Hoffnung und dem Wissen um dessen Unmöglichkeit.
## Die Position der Schwachen
Dabei ergreifen sie emphatisch die [2][Position der Schwachen]: „Wir gehen
zwar von unseren eigenen Erfahrungen aus, versuchen aber immer einen Platz
für diejenigen zu finden, die keine Stimme haben.“
Insofern verfolgen CocoRosie ein politisches Projekt. Sie kreieren eine
imaginäre Gegenwelt zur Realität, die Möglichkeiten eröffnen soll, die in
der Gegenwart nicht bestehen. 2017 nahmen CocoRosie zusammen mit ANOHNI
einen Protestsong gegen US-Präsident Donald Trump mit dem Titel „Smoke ’em
Out“ auf.
Auf „Put the Shine On“ stehen psychisch kranke Menschen im Fokus des Songs
„Smash My Head“, dessen industrieller Sound ein wenig nach Marilyn Manson
klingt: „Im Westen werden Menschen mit ‚psychischen Krankheiten‘ oft
isoliert, beschämt, mit Medikamenten ruhig gestellt, ein- und weggesperrt.“
Das Video zum Song exerziert diese Handlungen symbolisch durch.
## Maximalisierung der Möglichkeiten
Die Casady-Schwestern treten für eine Maximalisierung der Möglichkeiten
aller ein. Jede*r soll viele sein können. Nicht immer hat das unbedingt
einen politischen Hintergrund, genauso wenig wie die Kollaborationen der
Band. 2019 waren sie auf dem Debütalbum von Chance The Rapper zu hören. Mit
ihm verbindet die Schwestern neben der Vorliebe für HipHop die
Auseinandersetzung mit christlichen Motiven, die von einer Mischung aus
Faszination und Zweifel getragen ist.
Auf musikalischer Ebene führt diese Auseinandersetzung zu einem
nostalgischen Grundton. Die Nostalgie lässt sich einerseits über das Thema
der Kindheit erklären: „Wir kehren oft zu unserer Kindheit zurück, denn sie
verlässt uns niemals wirklich. Wir werden durch sie geformt und tragen sie
mit uns, wie eine Matroschka.“
Andererseits liegt in diesem nostalgischen Grundton die Attraktivität der
CocoRosie-Vorstellungswelt. Denn Nostalgie richtet sich in der Regel nicht
auf reale historische Orte, sondern imaginiert eine ideale Vergangenheit,
die es real nie gegeben hat.
## Die Frage nach der Nostalgie
CocoRosie zu hören heißt gemeinsam in diese imaginäre verlorene Welt
zurückzukehren und sie für einige Momente zu bewohnen. Wie deutlich dies
den beiden Schwestern ist, lässt sich daraus schließen, dass sie die Frage
nach der Nostalgie nicht kommentieren wollen.
In Bezug auf das Thema der Kindheit sagen sie hingegen: „In uns sind all
diese früheren Selbstentwürfe. Wir haben Zugang zu ihnen und können als
Erwachsene sogar Zeitreisen zu ihnen unternehmen, zu den verlorenen
Entwürfen sprechen und sie trösten.“ Das deutet den fundamentalen
Unterschied zum ebenso nostalgischen „Make America Great Again“ an:
CocoRosie geht es um Inklusion und nicht um Exklusion.
Die Welt von CocoRosie lädt dazu ein, jenen individuellen und kollektiven
Momenten der Vergangenheit nachzuspüren, die in der Gegenwart nicht mehr
präsent sind. Um politisch fortschrittlich zu sein, muss diese Welt
musikalisch nicht der Logik der Innovation folgen. Das ist den
Casady-Schwestern ganz bewusst.
In diesem Sinn ruft das Cover von „Put the Shine On“ die Steampunk-Ästhetik
auf: „Wir unternehmen viele Zeitreisen in unserer Musik. Alle Popmusik
macht das. Sie ist eine Vermischung dessen, was schon war.“
9 Mar 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Elias Kreuzmair
## TAGS
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Pop
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