# taz.de -- Publizist über Medienkrise: „Mut bindet“ | |
> Der Publizist Constantin Seibt erklärt, warum der Begriff | |
> „Qualitätsjournalismus“ Quatsch ist und Seriosität allein nicht reicht. | |
Bild: Mut zum Sprung – können Zeitungen davon lernen? | |
sonntaz: Herr Seibt, Sie fordern die Neuerfindung des Journalismus. | |
Skizzieren Sie das bitte. | |
Constantin Seibt: Der Journalismus hat zwei Kernprobleme: Sein | |
Geschäftsmodell zerbricht, weil die Werbung ins Netz geht. Und die | |
Beziehung zum Publikum verändert sich fundamental. Früher verkauften | |
Informationsmedien neben Informationen eine der stärksten Drogen überhaupt: | |
Gewohnheiten. Ein Frühstück ohne Zeitung fühlte sich unvollständig an. So | |
wie ein Abendessen ohne „Tagesschau“. Daraus folgte, dass Journalisten | |
primär den Job hatten, niemanden zu vertreiben. Nicht zu enttäuschen | |
genügte, um ein Gewohnheitspublikum bei der Stange zu halten. | |
Das ist Vergangenheit? | |
Richtig. Heute ist erstens unser wichtigstes Produkt – die Nachrichten – | |
inflationär und praktisch wertlos geworden. Und zweitens ist das Publikum | |
wählerisch geworden. Eine Zeitung konkurriert heute nicht nur mit allen | |
Zeitungen der Welt, sondern auch mit Facebook, Twitter, Youtube, Games. Das | |
heißt, dass fehlerfreier, mittelguter Journalismus nicht mehr genügt. Das | |
Publikum muss aktiv begeistert werden. Es muss bei einer Zeitung das Gefühl | |
haben: Wow, das ist mein Ding. | |
Letztlich ist Frühstück mit Zeitung passé und Journalismus wird auf | |
Mobilgeräten in Häppchen zwischendurch verzehrt? | |
Das Erfreuliche daran: Hier bleibt unser Job gleich – die möglichst | |
raffinierte Verzuckerung von Neuem. Denn Leser hassen Neues unverzuckert. | |
Drei Punkte: Wann ist ein Medium künftig erfolgreich? | |
Erfolg garantiert in dieser Branche nichts und niemand mehr. Aber ich bin | |
überzeugt, dass die Zeitung der Zukunft drei Punkte berücksichtigen muss: | |
1. Sie darf nicht kleckern: schon gar nicht in Sachen Themen, Ambition und | |
Herz. Bravheit hat in der globalisierten Aufmerksamkeitsbranche keine | |
Chance. 2. Sie muss ein Projekt sein, mit dem sich Redaktion und Publikum | |
identifizieren. Loyalität wächst heute nicht mehr aus Gewohnheit. 3. Das | |
Handwerk muss präzise durchdacht werden. Denn die erprobten Routinen | |
produzieren nur austauschbare, also unverkäufliche Ware. | |
War Zeitung womöglich nie Instrument der Aufklärung, sondern auch nur eine | |
Art, seine Zeit zu verbringen? | |
Das Leben besteht ja auch aus Zeitverschwendung. Und nicht darin, | |
Instrument der Aufklärung zu sein. Gedanken macht man sich dann aus | |
Langweile. Erkenntnis ist auch nur eine Form des Entertainments. | |
Nicht zu enttäuschen, die politische Linie zu halten, Fehler zu vermeiden – | |
das zählt nicht mehr? | |
Doch, Seriosität zählt noch. Aber sie genügt nicht mehr. | |
Bezahlt wird künftig derjenige, der Leute begeistert. Wie geht das? | |
Das beste Mittel, ein Publikum fesseln, ist Kühnheit. Mut bindet. Man merkt | |
das ja als Zeitung, dass man bei kühnen Recherchen, Analysen, sogar Gags | |
die Leute auf seiner Seite hat. Falls man nicht abstürzt, denn dann wird | |
man geschlachtet. Die cleverste Strategie, den Journalismus zu erneuern, | |
ist der Tabubruch. Weniger der Bruch der gesellschaftlichen Tabus. Sondern | |
der Tabus der eigenen Branche. | |
Das heißt? | |
Man muss den trockenen, pseudoobjektiven Imponierstil killen. Oder | |
Erneuerungen nicht in der Chefetage planen, sondern in Konferenzen mit | |
Redaktion und Leserschaft. Oder ganze Kontinente besiedeln, die die Presse | |
bisher ignoriert hat: das Finstere und Existenzielle, das Reich der | |
Schönheit, die jüngere Vergangenheit. Oder man muss das verwaiste Reich der | |
Intellektuellen übernehmen. Wichtig ist vor allem eine gewisse | |
Unverschämtheit der Pläne. Ohne Unverschämtheit kein Wagnis. Ohne Wagnis | |
keine Identifikation. Und ohne die kein Geld. | |
Jemand schrieb in Ihrem Blog den Kommentar, Journalisten seien | |
„Sesselpupser“, die nicht plötzlich „aufregend“ werden können. | |
Der Mann hat wenig Fantasie. Der Journalismus hat über hundert Jahre Erfolg | |
und Routine hinter sich. Kein Wunder, dass er etwas angerostet ist. Was | |
auch heißt: Er lässt sich mit wenig Aufwand anders machen. | |
Was sind die hohlsten Leitartikelfloskeln, warum Journalismus unbedingt | |
bewahrt werden muss? | |
Der hohlste Unfug ist wohl: Ohne Journalismus würden die Leute verblöden. | |
Leider bleiben die auch ohne Zeitungen intelligent. | |
Ist Journalismus ein Menschenrecht? | |
Nein. Aber es ist die sozial am wenigsten definierte Industrie von allen: | |
Als Reporter kommt man unter Bauarbeiter wie ins Bundeskanzleramt. Diese | |
Nichtfestgelegtheit macht Journalismus zum aufregendsten Job der Welt. Und | |
die Presse zur perfekten Institution, um andere Institutionen zu zu ärgern. | |
Und gelegentlich sogar zu ängstigen. | |
Definieren Sie, nach welcher Logik FAZ oder taz vom Staat subventioniert | |
werden müsste, Bild und der Dorf-Bote aber nicht? | |
Es gibt keine. Über die Frage, wie man lebendige, vom Staat oder per | |
Stiftung finanzierte Nachrichtenorganisationen baut, ist noch zu wenig | |
nachgedacht worden. | |
Gibt es einen publizistischen Auftrag, die Gesellschaft zu verändern oder | |
zu retten? | |
Ich halte es hier mit Hannah Arendt: Den Auftrag, einen neuen Anfang zu | |
machen, hat jeder Mensch durch Geburt. | |
Der Begriff „Qualitätsjournalismus“? | |
Er ist ein Krisensymptom. Etwas wirklich Einleuchtendes braucht das Präfix | |
„Qualität“ nicht. Es gibt keinen Qualitätssex oder Qualitäts-Rolls-Royce. | |
Der einzige Ort, wo man sonst von Qualität spricht, sind Billigläden. | |
Sie sagen, die besten Artikel seien immer nur Transportvehikel für | |
Kleinanzeigen und Immobilienteil gewesen. Ihre auch? | |
Jep. Und das hatte ja auch Charme: Schreibender in einer Würstchenbude zu | |
sein. Nur verschwinden ja jetzt die Anzeigen ins Netz. | |
Noch eine These von Ihnen: Opposition gegen die Herrschenden ist letztlich | |
auch nur Opportunismus und Geschäftsinteresse, weil damit die Zeitung | |
verkauft werden soll. | |
Auch für Zeitungen gilt, was Hitchcock sagte: Je größer der Schurke, desto | |
besser der Film. Der Kampf gegen Mächtige ist immer auch eine gute Show. | |
Also ein Geschäft. Deshalb rentiert sich zahnloser Nachrichtenjournalismus | |
auch nicht: So wie ein zahnloser Hundekampf. | |
Sollte man ein Thema auf die Seite eins nehmen, über das keiner spricht, | |
weil man will, dass Menschen darüber sprechen? | |
Es gibt für linke Zeitungen immer zwei Optionen. Entweder man fährt die | |
Nische groß: den Biobergbauern oder den albanischen Lyriker. Oder man | |
begibt sich in die politische Arena, wo sich alle tummeln, und versucht | |
dort origineller, frecher und böser als der Rest zu sein. Also den | |
Bürgerlichen zu zeigen, was eine Harke ist. Die taz versucht es auf ihrer | |
Frontseite mit letzterer Strategie und sie hat Recht. | |
Darf in guten Geschichten auch Sex vorkommen? | |
Das Hauptproblem bei Sex ist, dass als Hauptakteur ein großes, stummes | |
Organ beteiligt ist, das nur wenig Worte kennt: die Haut. Deshalb gibt es | |
fast keine vernünftigen Geschichten über Sex. Sondern nur, wenn es davor, | |
danach oder dabei Ärger gibt. | |
Warum erfinden wir Journalisten unsere Arbeit nicht einfach neu, statt zu | |
lamentieren, wie schlimm alles wird? | |
Gelegentliches Fluchen ist angebracht. Aber Journalismus ist eine Sache, | |
für die es sich zu kämpfen lohnt. Ich hatte einen Großonkel, der war | |
Landarzt. Eines Tages kam ein Bauer zu ihm, der Masern hatte. Der fragte | |
ihn: Was soll ich tun? Mein Großonkel antwortete: Seien Sie glücklich. Denn | |
wenn Sie nicht glücklich sind, werden Sie auch Masern haben. | |
20 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
Peter Unfried | |
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