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# taz.de -- Wie Nazi-Gesetze im Norden fortwirken: Jagen à la Göring
> In Norddeutschland haben sich Dutzende NS-Gesetze ins geltende
> Landesrecht „gerettet“, Reichsgesetze wirken fort – mit unangenehmen
> Folgen.
Bild: Nach Görings Gusto: Jagd in Deutschland.
## Der Friedhofszwang
Heiner Schomburg steht zwischen bunten Särgen. Mitten im belebten Bremer
„Viertel“ hat der Bestatter einen „Trauerraum“ eingerichtet, in dem fast
alles anders ist, als man das sonst von Beerdigungs-Instituten kennt –
alles bis auf das, was die Nazis nicht erlauben. Denn deren
„Feuerbestattungsgesetz“ von 1934 ist in wesentlichen Teilen noch immer
gültig.
Seither gilt der Friedhofszwang – den es europaweit ausschließlich in
Deutschland und Österreich gibt. Dessen Aufhebung sei „absolut notwendig“,
sagt Schomburg. Immer mehr Menschen hätten das Bedürfnis nach persönlichen
Bestattungsformen, etwa durch Asche-Verstreuung auf einem Berg. Das aber
ist seit 1934 nur noch auf See zulässig. Auch die Bremer Grünen wollen den
Friedhofszwang abschaffen – das kleinste Bundesland wäre das erste, das die
nationalsozialistisch verordnete Totenruhe beendet.
Da die Bestatter die Urne nicht den Angehörigen aushändigen dürfen, gebe es
einen „Leichen-Export“, etwa in die Niederlande, sagt die Bremer
Grünen-Politikerin Maike Schaefer. Von dort aus würde die Asche – à la „…
im Kofferraum“ – dann nach Deutschland gebracht. Schaefer: „Eine solche
Grauzone widerspricht der Pietät und Menschenwürde.“ Seit 1934.
## Die Stellplatzpflicht
Dorothea Heintze zieht verspätet in ihr Hamburger Wohnprojekt ein – und das
hat mit der Reichsgaragenordnung von 1939 zu tun. Aus ihr haben die
Bundesländer die „Stellplatzpflicht“ übernommen: Bauherren müssen für j…
neue Wohneinheit Parkplätze vorhalten.
Für komplett autofreie Siedlungen gibt es mittlerweile Ausnahmen – doch für
Gemeinschafts-Bauvorhaben wie Heintzes „Dock 71“ stellt die
Stellplatzpflicht immer noch ein zeit- und kostenaufwendiges Problem dar.
52 Familien, die Hälfte ohne Auto, haben sich zusammengeschlossen, um
gemeinsam in der Hafencity zu wohnen. „Wir haben eine sehr gute
ÖPNV-Anbindung“, sagt Heintze. Um keine zweite Tiefgaragen-Ebene für
überflüssige Stellplätze finanzieren zu müssen, können die
Gemeinschaftsbauer zwischen zwei Übeln wählen: Sie zahlen pro nicht
gebauten Parkplatz zwischen 8.000 und 16.000 Euro Ablöse, oder sie erklären
per Grundbuch-Eintrag, niemals ein Auto zu nutzen – was dann auch für
spätere Erben gilt. Heintze: „Das ist eine unglaublich komplizierte und
nervige Hürde.“
Berlin hat die Stellplatzverordnung abgeschafft, Bremen hat sie modifiziert
– der Stadtstaat Hamburg jedoch mochte bislang nicht auf sie verzichten.
Immerhin passt sie zum Primat der Motorisierung, das auch die seit 1934
existierende Straßenverkehrsordnung durchzieht. In deren Ursprungspräambel
heißt es: „Die Förderung des Kraftfahrzeugs ist das durch den Reichskanzler
und Führer gewiesene Ziel.“ In Sachen Stellplatz gilt das noch immer.
## Der Meisterzwang
Jonas Kuckuk kämpft schon lange – gegen den Meisterzwang im Handwerk. Den
gibt es seit 1935 und er besagt, dass Gesellen in der Regel nicht
selbstständig arbeiten dürfen. Ein herber Rückschlag für die
Gewerbefreiheit, den auch die Novellierungen der Handwerksordnung von 1994
und 2003 nicht korrigierten
Kuckuk ist Dachdecker. „Wir haben ständig Ärger mit der Innung und den
Behörden“, sagt er – es gäbe Klagen, Hausdurchsuchungen, Propaganda gegen
„Dachhaie“ und angeblich „unlautere Haustürgeschäfte“ fahrender Gesel…
1994 gründete Kuckuk im Wendland den „Berufsverband unabhängiger
Handwerker“, der seine kleine Geschäftsstelle mittlerweile in Verden hat.
Der Verband wehrt sich „gegen das Führerprinzip“, wie Kuckuk sagt, und will
Lobbyarbeit für die Gewerbefreiheit leisten.
Zum Beispiel auf dem Bremer Marktplatz, mit einem Info-Stand. Ob der Herr
Wirtschaftssenator ein Stück Geburtstagstorte wolle, fragt Kuckuk
freundlich. Immerhin sei heute der 152. Jahrestag der Bremer
Gewerbefreiheit. Der Senator, Martin Günthner von der SPD, läuft blicklos
vorbei.
## Führerprinzip bis in die Kommunalpolitik
Stefanie Müller ist enttäuscht: Da geht sie am Abend extra zur
Beiratssitzung, auf der der Bausenator höchstpersönlich zur umstrittenen
Klinikerweiterung in ihrem Quartier Stellung nimmt. Das denkt die Lehrerin
– doch weit und breit ist kein Senator in Sicht. Obwohl er angekündigt zu
sein scheint.
Müller sitzt einer sprachlichen Tücke der Bremer Verwaltung auf: Die
huldigt formalsprachlich nach wie vor dem Führerprinzip, das 1933 Einzug
ins Behördendeutsch hielt. Der NS-Staat legte großen Wert darauf, die
Legitimität allen amtlichen Handelns explizit vom jeweiligen
Ressort-„Führer“ abzuleiten. Dass man noch heute nicht wahrheitsgemäß ei…
schlichten Behörden-Referenten ankündigt, sondern „Herrn X, Senator für
Bau, Straßen und Verkehr“, und somit für Verwirrung sorgt, ist eine späte
Rache des Dritten Reichs an seinem naiven Volk. Immer wieder aufs Neue.
## Sonderrechte für Jäger
Darf man Hunde auf flügellahme, also chancenlose Enten jagen? Muss man es
erst beantragen, wenn auf dem eigenen Grund und Boden keine Tiere tot
geschossen werden sollen? Man darf, man muss. Denn immer noch gelten große
Teile des Reichjagdgesetzes von 1934.
Hermann Göring, Hitlers „Reichsjägermeister“, hat es sich auf den Leib
geschrieben – und selbst die Europäische Union kommt nur mühsam gegen
Görings Rechtssetzungen an. Zwar ist es Waldbesitzern dank der EU seit
kurzem möglich, sich gegen die Zwangsmitgliedschaft im genossenschaftlichen
Jagdbetrieb zu wehren – doch die schwarz-gelbe Bundesregierung sorgte
prompt dafür, dass dafür hohe bürokratische Hindernisse zu überwinden sind.
„Mich ärgern besonders die zahlreichen Einschränkungen des Tierschutzes
zugunsten der Jäger“, sagt der Hannoveraner Detlef Arndt – und zwar so
sehr, dass Arndt einen Anti-Jagd-Blog im Internet eingerichtet hat. Dort
listet er minutiös auf, was das „Jagen à la Göring“ für Sonderrechte mit
sich bringt: Jäger dürfen Haustiere erschießen, Tiere aufeinander hetzen
und Füchse zwecks Hundedressur in Röhren zwängen. Jagdfreie Lebensräume für
Wildtiere? „Sind mit dem Nazi-Gesetz schwierig einzurichten“, sagt Arndt.
## Bürgerbeteiligung ausgehebelt
Für Dierk Eckhard Becker, Aktivist vom Verein „Mehr Demokratie“, ist
Hamburg eine undemokratische Stadt. Vor allem über das Evokationsrecht, mit
dem der Senat Bürgerentscheide, die auf Bezirksebene laufen, an sich ziehen
kann, ärgert er sich: Bei den Bürgerbegehren zur Wulff’schen Siedlung in
Langenhorn, Ikea in Altona oder zum Erhalt des Bismarckbads habe der Senat
den Willen der BürgerInnen immer wieder ausgehebelt.
Schuld daran ist die Hamburgische Verfassung von 1952, die den Bezirken,
anders als in Berlin, nur abgeleitete Befugnisse zugesteht. In diesem Punkt
knüpft die Nachkriegs-Verfassung an das „Reichsgesetz über die Verfassung
und Verwaltung der Hansestadt Hamburg“ von 1938 an, das Hamburg als
„Einheitsgemeinde“ definiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte der
britische Feldmarschall Bernard Montgomery Hamburg wieder dezentralisieren
und den Bezirken mehr Macht geben. Doch daraus wurde nichts. „Heute hat der
Bezirksamtsleiter von Altona weniger Einfluss als der Landrat von
Pinneberg“, sagt Becker.
21 Apr 2013
## AUTOREN
Henning Bleyl
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