# taz.de -- Syrischer Schmied bei Facebook: Die Liebste und das Regime | |
> Aboud Saeeds Facebook-Miniaturen über den Alltag im Bürgerkrieg sind | |
> persönlich, politisch, lyrisch, witzig – und jetzt als E-Book erschienen. | |
Bild: „Und, wie geht’s so? Gibt’s bei euch immer noch Probleme?“ – �… | |
Es passiert nicht oft, dass jemand ohne Absicht, quasi aus Versehen, ein | |
Buch schreibt. Und es passiert noch viel seltener, wenn dieser Jemand ein | |
syrischer Schmied ist, der kaum Möbel besitzt und mit seinen sieben | |
Geschwistern in einem Zimmer schlafen muss. | |
Aboud Saeed ist so ein syrischer Schmied. Er ist 30 Jahre alt, lebt in der | |
Provinz von Aleppo im Norden Syriens und gerade ist sein erstes E-Book | |
erschienen: „Der klügste Mensch im Facebook. Statusmeldungen aus Syrien.“ | |
Denn Saeed hat einen Laptop und seit 2009 auch ein [1][Profil bei | |
Facebook], wo er täglich über sein Leben berichtet. Wie Millionen andere | |
Leute schreibt er über Rauchen und Kaffeetassen, übers Verliebtsein und | |
seine Arbeit. Nur eben aus Syrien, aus einem Land, wo die Regierung ihre | |
Bevölkerung bombardiert. | |
„30. Dezember 2011 um 00:07 – Ich werde alles schreiben, was ich gerade | |
denke / über die Leere / die aus mir einen Pseudo-Dichter gemacht hat. 34 | |
Likes“, so beginnt Saeeds Buch. Vor jeder Statusmeldung steht das Datum und | |
die Uhrzeit, darunter die Anzahl der Likes, die Saeed dafür bekommen hat. | |
Wie auf Facebook, nur die Kommentare anderer User wurden weggelassen. | |
## Die Konstruktion des Ich | |
Aboud Saeed schreibt persönlich, politisch, lyrisch, witzig. Manchmal | |
abwechselnd, manchmal alles gleichzeitig. Er schreibt „Möge der Tyrann | |
fallen!“ und im nächsten Eintrag darüber, wie er seiner Mutter das Rauchen | |
beigebracht hat. Und manchmal bricht das Politische in denkbar ungünstigen | |
Momenten in sein Leben: „Am Telefon / genau, als sie beschloss, mir zu | |
verraten, was sie anhat / warf das Flugzeug die Bombe ab.“ | |
Es lässt sich kaum sagen, wie viel davon real ist und wie viel fiktiv oder | |
literarisch. Denn irgendwie zeigen Social-Media-Profile natürlich immer | |
konstruierte Persönlichkeiten und Wunschidentitäten, genau wie früher | |
Poesiealbumeinträge. | |
Wie bei vielen Leuten sind Saeeds Facebook-Meldungen eine Mischung aus | |
Selbstdarstellung, zugespitzten Anekdoten und Aphorismen, deren Wert sich | |
in Likes misst. „Oh, meine Liebste, du und das Regime / Ihr unterdrückt | |
mich“, schreibt Saeed, und ob es diese Liebste gibt, ist um der Pointe | |
willen eigentlich egal. | |
Die Beiträge für das Buch wurden ausgewählt und aus dem Arabischen | |
übersetzt von Sandra Hetzl, die als Netzaktivistin, Dokumentarfilmerin und | |
Übersetzerin arbeitet. Verlegt wurde es von Nikola Richter, die Anfang des | |
Jahres den Berliner Verlag Mikrotext gegründet hat. | |
## Hier sind wir nackt | |
Der erste Kontakt zwischen Richter und Saeed kam im Januar dieses Jahres | |
zustande, im März erschien das E-Book. Da Saeed kein Autor im klassischen | |
Sinne ist, verliefen auch die geschäftlichen Gespräche mit ihm nicht wie | |
üblich. | |
„Wir haben per Facebook und Skype gechattet“, sagt Verlegerin Richter, „er | |
fand die Idee mit dem E-Book gut, hat aber auch gleich gesagt, er will mich | |
im Bikini sehen, wenn er mal nach Deutschland kommt.“ Der Autor sei eben | |
daran gewöhnt, im Chat zu flirten. „Ich hab ihm gesagt, hier in Deutschland | |
sind wir am Strand aber alle nackt“, erzählt Richter und lacht. | |
„Der klügste Mensch im Facebook“ ist die erste Veröffentlichung des | |
Mikrotext-Verlages. Hier sollen immer zwei thematisch zusammengehörende | |
E-Books gleichzeitig erscheinen – im Frühjahr 2013 ist das neben Saeeds | |
Buch ein Aufsatz von Alexander Kluge: „Die Entsprechung einer Oase“. | |
Verlegerin Richter nennt das, was sie macht, „E-Book-Basisarbeit“. Sie will | |
das E-Book nicht als Ersatz oder Nebenprodukt zum gedruckten Buch | |
verkaufen, sondern eigene E-Book-Formate entwickeln: kleine, teilweise auch | |
experimentelle Texte, die man etwa auf dem Smartphone in der U-Bahn lesen | |
kann. Die Statusmeldungen von Aboud Saeed sind für Richter ein Beispiel | |
dafür, wie Literatur heute entstehen kann: zufällig, in ungewohnter Form, | |
auf neuen Medien. | |
Der Titel „Der klügste Mensch im Facebook“ ist ein Zitat von Saeeds Mutter, | |
die nicht schreiben kann, aber inzwischen weiß, wie Smileys funktionieren | |
und die der Nachbarstochter verbietet, ihrem Sohn Herzchen auf die Pinnwand | |
zu posten. Es müsste „auf Facebook“ heißen, und Saeed selbst hat sich | |
mehrfach so genannt: „Ich bin der klügste Mensch auf Facebook.“ Aber Saeeds | |
Mutter sagt eben: „Das ist Aboud, mein Jüngster. Er ist der klügste Mensch | |
im Facebook.“ | |
## Zwei verwobene Leben | |
Viele von Saeeds Statusmeldungen beziehen sich auf Facebook selbst, auf | |
seine Flirts im Chat („Ich liebe dich. Solange du online bist“) oder | |
darauf, wie er zögert, dass regimetreue Mädchen aus seiner Freundesliste zu | |
löschen, weil es doch Bilder von sich im Bikini postet. | |
So ungewohnt es ist, die Beiträge so aneinandergereiht zu lesen, so | |
zusammenhanglos, wie sie aufeinander folgen, ergeben sie doch eine | |
Geschichte, ein Porträt des Autors und der Gesellschaft, in der er lebt. | |
Sie zeigen aber auch, wie eng verwoben das reale und das virtuelle Leben | |
sein können und dass das eine nicht eine weniger wahre Variante des anderen | |
ist. | |
Bei jemandem wie Saeed, der zu Hause so wenig Raum für sich selbst hat, | |
dass er seine Liebesbriefe im Hühnerstall verstecken muss, ist der | |
virtuelle Raum vielleicht sogar noch wichtiger, weil er dort Intimität und | |
Abenteuer erleben kann, ohne dass seine ganze Familie zusieht. | |
Für alle, die Arabisch lesen können, geht Saeeds Geschichte auf Facebook | |
weiter. Wer sich mit ihm anfreundet, kann seine aktuellen Statusmeldungen | |
lesen – wenn Saeeds Internetverbindung funktioniert, was in Syrien momentan | |
nicht immer der Fall ist. Allerdings nimmt der Autor nicht mehr alle | |
Freundschaftsanfragen an, um nicht das Maximum von 5.000 zu erreichen – und | |
weil er es nicht nötig hat, als „klügster Mensch im Facebook“. | |
Aboud Saeed: „Der klügste Mensch im Facebook. Statusmeldungen aus Syrien“. | |
Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl, Verlag Mikrotext, etwa 250 Seiten auf | |
dem Smartphone, 2,99 Euro | |
27 Apr 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.facebook.com/aboud.saeed | |
## AUTOREN | |
Margarete Stokowski | |
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