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# taz.de -- Das Facebook-Ich: Like me!
> Auf Facebook sind alle Menschen ständig gut gelaunt, vernetzt,
> erfolgreich und im Urlaub. Dislikes würden in der schönen heilen Welt nur
> stören.
Bild: Gegenentwurf des Facebook-Nutzers: Clark Kent. Der ist nämlich nur im Ve…
Die To-do-Liste der Menschheit wird jeden Tag länger: Müll runterbringen,
ins Fitnessstudio gehen, erfüllte Sexualität haben, Selbstverwirklichung
leben, erfolgreich sein, die richtigen Lebensmittel und Substanzen
konsumieren, gut aussehen. Hinzu gekommen ist aber nun seit einigen Jahren
die Pflicht, all diese Dinge möglichst täglich, mindestens aber wöchentlich
in die sozialen Medien zu tragen oder zu posten.
Es geht darum, ein Facebook-Ich zu gestalten, das als digitaler Ausweis
fungiert, alles richtig zu machen – und zugleich ein schimmernd-strahlendes
Image des Selbst verbreitet. Holla, ich habe gerade einen Apfelkuchen
gebacken, aber nicht, weil ich etwa furchtbaren Liebeskummer hätte, den ich
mit Fresssucht zu heilen suche. Hey, ich habe mal wieder eine Ausstellung
in der und der Galerie, sitze aber eigentlich im Augenblick im Callcenter
und mache Outbound für eine finstere Versicherung, was nun wirklich nicht
jeder wissen muss.
Das Facebook-Ich befindet sich im Prinzip ständig in einer
Bewerbungsgesprächssituation: „Ich bin nicht hier, um über meine Schwächen
zu sprechen, sondern über meine Stärken!“ Mit dem Unterschied, dass
eigentlich nie jemand nicht eingestellt wird. Im Gegenteil wird fast jede
Bekundung entweder „geliked“ oder schlimmstenfalls ignoriert. Dislikes, in
welcher Form auch immer, würden in der schönen heilen Welt des
durchschnittlichen Facebook-Users nur stören.
## Meine Reise, mein Buch, mein Baby
Zumindest in Deutschland und weiten Teilen der westlichen Welt. Die
dortigen Facebook-User halten sich nämlich ständig an irgendwelchen
internationalen Flughäfen auf („Zürich, 8.45 Uhr. Wo ist hier der
Starbucks?“), habe gerade ein Buch veröffentlicht („Mein neues Baby“) od…
wirklich eines in die Welt geworfen („Anna-Lisa ist da“).
Wenn das Facebook-Ich gerade nicht zwischen Barcelona–London–Tel Aviv
unterwegs ist, um dort an tollen Stränden zu liegen oder irre interessante
Messen oder Festivals zu besuchen, dann macht es zum Beispiel Witze oder
postet lustige Comics. Oder es ist mit seinem Smartphone unterwegs, um
drollige Begebenheiten des Alltags festzuhalten.
Sicher, es gibt auch in der Facebook-Welt immer mal wieder zarte, fragile
oder melancholische Momente: Wenn zum Beispiel jemand triste Wartesäle in
einem Krankenhaus dokumentiert, weil er dort gerade in Behandlung ist. Oder
wenn jemand seinen Beziehungsstatus in „Single“ ändert – und jedermann v…
dem Problem steht: Kann man so was liken?
## Das Facebook-Ich ist ständig auf Prozac
Doch in der Regel sind die Facebook-Ichs so eine Art gut gelaunte
Surfer-Combo, die sich im Laufe der Zeit immer ähnlicher werden, weil das
Sozialverhalten der kritischen „Freunde“-Masse auf die Dauer eine extrem
normative Wirkung hat. So wie sich bei Facebook-Revolutionären von Syrien
bis Ägypten ein gemeinsamer Kampfgeist entwickelt hat, konfiguriert sich in
Ländern wie – sagen wir: Deutschland – eine permanent stramm stehende
Fanmeile von Grinsekatzen, die mit diversen Endgeräten ausgerüstet sind.
Das Facebook-Ich ist ständig auf Prozac, auch wenn es eigentlich Ritalin
schlucken müsste, leidet es doch vor allem an ADHS.
Und das Facebook-Ich braucht scheinbar Geld, denn es ist nicht nur
unermüdlich im Selfmarketing, sondern auch im Networking. Hier einen
Kontakt pflegen, dort einen Auftrag akquirieren. Hier zeigen, dass man auf
dem gerade angesagten und bedeutsamen Event durchaus eingeladen war – immer
noch steht man auf der Gästeliste, so wie im letzten Jahr – und natürlich,
dass man mit den wichtigen Personen auf einem Foto zu sehen ist.
Das Facebook-Ich ist aufgrund seiner exponierten Lage stets auch ein wenig
paranoid, und das zu Recht: Ein falsches, larmoyant wirkendes Posting,
schon läuft man Gefahr, dass die Leute keine Lust mehr haben, negative
Energie zu sharen. Noch schlimmer wäre es, wenn man sich komplett der
Lächerlichkeit preisgibt, indem man etwas extrem Uncooles, nicht politisch
Korrektes oder sonst wie Peinliches in die Öffentlichkeit haut.
## Soziale Kontrolle
Damit aber der Paranoia noch nicht genug: Das Facebook-Ich unterliegt nicht
nur einer sozialen Kontrolle, die man sonst nur aus Kleinstädten und
überdachten Gymnasial-Pausenhöfen kennt, sondern auch der ganz konkreten
Überwachung durch eifersüchtige LebenspartnerInnen: „WARUM SIEHT MAN DICH
AUF DEM FOTO VON NILS PARTY STÄNDIG NEBEN DOREEN STEHEN!!!???“. Die
Dokumentation des eigenen Lebens in Livestream-Form bietet eben nicht nur
Einblicke, sondern auch Kommentierungsmöglichkeiten; „Warum war ich nicht
eingeladen?“ – „Kann es sein, das du ein Parallelleben führst?“
Wirklich offen sein können die Facebook-Ichs nur im Facebook-Untergrund,
also auf der Ebene der individuellen Mails – wobei es auch in dieser
Hinsicht schon so manchem User übel erging, weil er aus Versehen private
Mitteilungen öffentlich gepostet hat, ohne es zu bemerken. Der
Reply-to-all-Effekt in der Social-Media-Variante.
Das Facebook-Ich ist ein etwas seltsames Individuum. Es will und muss
individuell wirken, damit es existiert, wahrgenommen wird. Es muss um
Aufmerksamkeit heischen und sich gleichzeitig ständig bei anderen Ichs
einklinken, damit es noch dazugehört, Teil der Community ist. Es muss sich
anpassen und an die informellen Spielregeln halten.
Wie schön es doch wäre, wenn man in den richtig dreckigen Momenten des
Lebens – Angst, Kummer, finanzielle Sorgen, schwere Krankheit, Einsamkeit –
mit einem kleinen Klick zu seinem Facebook-Ich mutieren könnte.
Man wäre dann wieder so, wie die Welt es gerade von einem erwartet.
Funktionierend.
Dieser Text erscheint in der sonntaz vom 29. Dezember. Ein ganzes Heft zur
Frage: Wem gehört das Internet?
28 Dec 2012
## AUTOREN
Martin Reichert
Martin Reichert
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Internet
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Tadschikistan
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