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# taz.de -- Warnung vor Rückfall in Faschismus: Hilferuf aus Ungarn
> Der Schriftsteller György Konrád warnt vor autokratischen Tendenzen im
> Osten. Insbesondere die Entwicklung in Ungarn bereitet ihm Sorgen.
Bild: Kein Freund der Demokratie: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán.
In einer Zeit, in der die EU ob der Eurokrise in ihren Grundfesten
erzittert, legt der ungarische Romancier, Essayist und Dissident György
Konrád einen Band zu „Europa und die Nationalstaaten“ vor. Damit scheint
sich Konrád, der kürzlich seinen 80. Geburtstag begehen konnte, in eine
neue Tradition einzureihen, die unter anderem von Adolf Muschg, Jürgen
Habermas und Oskar Negt geprägt wurde.
Was jedoch Konráds Überlegungen von den Analysen der anderen Autoren
unterscheidet, ist seine spezifische Perspektive: die eines
ostmitteleuropäischen Intellektuellen, der als Kind und Jugendlicher den
Nationalsozialismus zufällig überlebt, dem Stalinismus und seinen etwas
weicheren Nachfolgediktaturen widerstanden und seither für eine liberale
politische Kultur kämpft.
Lesenswert sind weniger Konráds Meinungen zur Wünschbarkeit einer liberalen
Demokratie als seine auf beinahe jeder Seite deutlich werdende Befürchtung,
dass zumal Ungarn einen Rückfall nicht nur in Nationalismus, sondern in
Rassismus und Faschismus erleiden könnte.
Konrád, der es für einen Fehler des Westens hält, dem Auseinanderfallen
Jugoslawiens seinen Segen gegeben zu haben, äußert bezüglich seines eigenen
Landes drastische Wahrheiten, die ihm dort noch mehr Feinde einbringen
dürften, als er ohnehin schon hat: „Es ist an der Zeit zu entscheiden, ob
Ungarn eine liberale Demokratie wird oder aber ein postkommunistischer
nationaler Obrigkeitsstaat mit einer gewissen Nähe zum Neofaschismus.
## Ein christlich-nationaler Kurs
Der neue christlich-nationale Kurs belebt die Phraseologie der
Vorkriegszeit, beschönigt die Ermordung der Juden und will glauben machen,
dass diese der Grund für 40 Jahre Kommunismus gewesen seien.“
Während die locker aneinandergereihten, keineswegs immer systematisch
miteinander verbundenen Abschnitte des Buches anfänglich durch wohlmeinende
Plattitüden irritieren: „Der lernende Mensch ist Europas Wappen“, „Die
Europäer wenden die Moral auf die zwischenmenschlichen Beziehungen an“
sowie „Die Europäische Union ist nicht nur eine Interessengemeinschaft,
sondern auch eine Werte-, ja Sympathiegemeinschaft“, gewinnt der Essay dort
an Kraft, wo der Autor seine eigenen Erfahrungen zum Thema macht.
## Ungebrochenes Überdauern
Konráds autobiografischer Bericht über ein 1992 geführtes Gespräch mit dem
ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Antall, einem nationalen
Demokraten, liest sich wie eine Eröffnungssequenz zur weiteren Entwicklung
der politischen Kultur Ungarns: Bot doch dieser nationalliberale
Ministerpräsident dem Intellektuellen schon vor 20 Jahren an, sich von den
rechten Extremisten der eigenen Partei loszusagen, sofern sich auch die
Liberalen – in diesem Fall Konrád – von radikalliberalen Publizisten
lösten.
In der zweiten Hälfte seines Essays erörtert Konrád das Dahinschwinden der
Liberalen nach den Wahlen von 2010 sowie das von der herrschenden
Regierungspartei Fidesz geduldete Anschwellen antisemitischer und
antiziganistischer Hassgesänge.
## Traumatische Erinnerungen
Bei alledem ist sich Konrád der schmerzlichen Begrenztheit seiner Mittel
bewusst: „Meine Standpunkte schriftlich mitzuteilen, das ist das Höchste,
was ich für die anderen tun kann“, ein Unterfangen, bei dem sich die
traumatische Erinnerung an die unter dem ungarischen Faschismus und
deutschen Nationalsozialismus zufällig überstandene Jugend, an die
Kooperation von Horthy, den Pfeilkreuzlern und Eichmann bei der
Judenvernichtung immer wieder aufdrängt.
Konrád quält sich mit der Frage, ob und warum Ungarn in seiner
demokratischen Entwicklung hinter Tschechien und Polen zurückbleibt, warum
die „neugebackene ungarische Rechte“ nicht die honorige Färbung alter
konservativer Parteien in Europa annehmen kann.
Am Ende kommt er zu dem Schluss – aber das wäre ein Streit nicht nur unter
Politologen –, dass es der grundlegende Etatismus sei, der den 1989
gestürzten Staatssozialismus und die neue Rechte, Ministerpräsident Orbáns
Partei Fidesz, miteinander verbinde.
Ob aber Konráds mit dieser Analyse verbundene Sympathie für eine
marktkonforme, liberal-konservative Demokratie wirklich den überzeugenden
Gegenentwurf für den herrschenden Rechtspopulismus darstellt, darf
bezweifelt werden.
## Gegen die Obrigkeit wehren können
Schließlich ist nicht zu verkennen, dass Konráds Idee der Demokratie das
Wesen ihrer Souveränität, nämlich der „Selbstgesetzgebung“ in frei
gewählten Parlamenten, nicht kennt: Für ihn als Liberalen besteht der Wert
der Demokratie vor allem darin, dass sich die Bürger aufgrund von Gesetzen
gegen die Obrigkeit wehren können. Das ist – vor dem Hintergrund der
Mehrheitsdiktatur von Orbáns Fideszpartei – durchaus verständlich, aber für
eine progressive Entwicklung zu wenig.
Am Ende erweist sich Konráds Essay als ein immer dringlicher werdender
Hilferuf, der schonungslos das ungebrochene Überdauern nationalistischer,
rassistischer Haltungen von Horthys Faschismus über Kádárs
„Gulaschkommunismus“ bis zu Orbáns Populismus belegt.
Es kann, so die unmissverständliche Botschaft des Essays, nicht nur die
Aufgabe europäischer Kommissionen sein, der ungarischen Regierung und ihrer
parlamentarischen Mehrheit Schranken zu setzen. Das zu tun, sind wir alle
aufgerufen: die europäische Öffentlichkeit.
György Konrád: „Europa und die Nationalstaaten“. Aus d. Ungarischen v. H.
Paetzke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 180 Seiten, 14,95 Euro
27 Apr 2013
## AUTOREN
Micha Brumlik
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