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# taz.de -- Rechtsruck in Ungarn: Volksfest gegen Entmündigung
> Zehntausende Ungarn gehen gegen die Gleichschaltung der Gesellschaft auf
> die Straße. Und die EU? Schweigt weiter zur rechtspopulistischen Politik
> Viktor Orbáns.
Bild: "Wir weigern uns, zu schweigen". Das neue ungarische Mediengesetz ist ein…
BUDAPEST taz | In Budapest wächst der Widerstand gegen die
rechtspopulistische Politik des Orbán-Regimes, die immer größere Bereiche
des öffentlichen Lebens durchdringt.
So verlangten am Samstagnachmittag etwa 2.000 Demonstranten vor dem Gebäude
des kleinen Theaters Uj Szinhaz (Neues Theater), dass Oberbürgermeister
Istvan Tarlos die Ernennung von György Dörner zum Direktor und Istvan
Csurka zum Intendanten zurücknimmt, weil Csurka bekennender Antisemit ist
und Dörner dem "entarteten, krankhaft liberalen" Theaterbetrieb den Kampf
angesagt hat.
Am Sonntagnachmittag dann fanden sich weit über 30.000 Menschen auf der
Elisabeth-Brücke zu Protesten ein. Ihr Motto: "Gefällt dir das System
nicht? - Protest!" Die ursprünglich aus dem Widerstand gegen das
Mediengesetz entstandene Gruppe legt Wert auf die Feststellung, es gehe
nicht um das Orbán-Regime allein.
Für die Kundgebung haben sie den Jahrestag des Aufstands gegen das
kommunistische Regime von 1956 gewählt. Intellektuelle wie der
Schriftsteller Péter Esterházy zeigten Präsenz. Die zerstrittenen
Gewerkschaften marschierten geschlossen auf. Es herrschte
Volksfeststimmung, die von Brezelverkäufern und der Szilvási Gipsy Folk
Band aufgeheizt wurde. Orbán, dessen Bürgerunion Fidesz dank
Zweidrittelmehrheit im Parlament Gesetze und Verfassung nach Belieben
anpassen kann, steuert nach Meinung der Demonstranten auf ein autoritäres
System zu.
## Selbst Blogger werden kontrolliert
Das Mediengesetz, das mit am 1. Juli voll in Kraft getreten ist, zeigt
Wirkung. Zoltán Farkas, Wirtschaftsredakteur des Wochenmagazins HVG, weiß
zwar von keinem Fall, bei dem die mit erweiterten Kompetenzen ausgestattete
Medienbehörde tatsächlich eine Strafe verhängt hätte, hält das aber auch
nicht für notwendig.
Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk habe der eiserne Fidesz-Besen 500
Journalistinnen und Journalisten hinausgekehrt. "Manche waren wenige Jahre
vor der Pension. Die finden nirgends einen Job", sagt Farkas. Der Rundfunk
käme jetzt mit bedeutend weniger Personal aus, weil Nachrichten zentral
zusammengestellt und den Kanälen zur Verfügung gestellt würden.
Regierungskritische Meldungen kommen nicht mehr in die Redaktionen. Seine
eigene Zeitschrift gehört zu drei Vierteln der deutschen WAZ-Gruppe und zu
einem Viertel der Belegschaft.
Das Mediengesetz erregte zu Jahresbeginn viel Aufsehen. Auch die für
Telekommunikation und digitale Dienstleistungen zuständige EU-Kommissarin
Neelie Kroes rief Orbán zur Ordnung und zählte Passagen auf, die ihrer
Meinung nach gegen die Meinungsfreiheit verstießen. Meldungen, von denen
sich - unabhängig vom Wahrheitsgehalt - Minderheiten oder auch Mehrheiten
verletzt fühlen könnten, müssten unter Strafe unterbleiben.
Die parteiisch besetzte Medienkommission kann fast nach Gutdünken Strafen
verhängen. Selbst Blogger mussten sich nach der ursprünglichen Version
registrieren lassen. Das Parlament nahm daraufhin ein paar Korrekturen vor,
fortan schwieg die EU-Kommission. Aus gutem Grund, wie János Molnár von der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest sagt. Das Mediengesetz sei formal kaum
angreifbar, "jeder Satz findet sich in einem anderen europäischen
Mediengesetz wieder". Das Gift liege in der Kombination.
## "Reiner Regierungsfunk"
Clemens Prinz, ein österreichischer Übersetzer, der in Budapest lebt und an
der Facebook-Gruppe für Pressefreiheit beteiligt ist, schaut sich im
ungarischen Fernsehen keine Nachrichten mehr an: "Das ist reiner
Regierungsfunk." Vielen Ungarn gehe es genauso. Deswegen boomen
Internetzeitungen und Blogs, die vom Mediengesetz nicht mehr erfasst
werden. Texte, die der Zensur zum Opfer fallen, werden ins Netz gestellt.
Fast jeder Redakteur hat seinen Blog.
Aber auch im Internet wurde aufgeräumt. Die beiden großen Internetzeitungen
index.hu und origo.hu sind auf dem Weg zur Gleichschaltung. Index ist ein
Boulevardmedium, dessen vulgäre Sprache und antiklerikale Linie schon oft
kritisiert wurden. Im September wurde Chefredakteur Pétér Ujj entlassen.
Origo, das der ungarischen Telekom gehört, feuerte seinen Redaktionsleiter.
Beide wurden inzwischen durch regierungsfreundliche Leute ersetzt.
Der exilungarische Publizist Paul Lendvai ging bereits 2010 davon aus, dass
die Fidesz 80 Prozent der Medien kontrolliert. Inzwischen dürften es noch
mehr sein. Bei einer Arbeitslosenquote von 11 Prozent wage es niemand,
einen Rauswurf zu provozieren, meint auch HVG-Redakteur Zoltán Farkas.
Alle, die während der sozialdemokratischen Regierungen aktiv waren, stünden
ohnehin unter Beobachtung.
Der Umgang mit den Medien ist symptomatisch für den Umgang der Regierung
Orbán mit der Demokratie. Einerseits werden demokratische Standards
zurückgeschraubt, andererseits läuft alles formal korrekt ab. Die
Zweidrittelmehrheit, über die er gebietet, erlaubt es Orbán, nahezu nach
Belieben zu handeln. Für den Fall, dass er bei den nächsten Wahlen seine
Mehrheit verlieren sollte, sorgt er vor.
## Orbán hat vorgesorgt
Etwa beim Verfassungsgerichtshof, dessen Richter bisher von einem
parlamentarischen Ausschuss bestellt wurden, in dem jede im Parlament
vertretene Partei mit einem Mitglied vertreten war. Doch jetzt konnte
Fidesz die Nachbesetzung von zwei frei gewordenen Posten blockieren. Nach
ihren neuen Spielregeln herrschen im Ausschuss die gleichen Mehrheiten wie
im Plenum. So konnten flugs zwei Vertrauensleute von Orbán installiert
werden, gleichzeitig wurde das Richterkollegium von elf auf 15 Mitglieder
aufgestockt.
Jetzt verfügt Fidesz für lange Zeit im Verfassungsgericht über eine
Zweidrittelmehrheit.
Als Generalstaatsanwalt installierte Orbán seinen Vertrauten Péter Polt und
ließ dessen Amtszeit von sechs auf neun Jahre verlängern. Vermutlich wird
er aber 18 Jahre amtieren, da er nach der ersten Periode nur ersetzt werden
kann, wenn es das Parlament mit Zweidrittelmehrheit beschließt. Orbán baut
für die Zeit vor, in der seine rechtspopulistische Fidesz nur mehr über
eine Sperrminorität verfügen könnte.
Reformen im Wahlgesetz, die die Grenzen der Wahlkreise verändern werden,
dürften auf Dauer dazu führen, dass Fidesz die bestimmende Kraft bleibt.
Zünglein an der Waage könnten dann auch die ethnischen Ungarn in den
Nachbarländern spielen, die dank Orbán Anspruch auf einen ungarischen Pass
haben und 2014 wahlberechtigt sein werden. Rund 150.000 potenzielle Wähler
in der Slowakei, Rumänien und Serbien haben bereits einen Pass beantragt.
Man kann davon ausgehen, dass sich viele von ihnen für Fidesz stimmen.
## Peking als Vorbild
Der Soziologieprofessor Pál Tamás konstatiert einen deutlichen Rechtsruck.
Gegen die autoritären Tendenzen rege sich kaum Widerstand. Gegen Kritik von
außen sichert sich Orbán ab. Vor jeder kontroversen Entscheidung bestelle
er Analysen, die die EU-Verträglichkeit durchleuchten, versichert János
Molnár. Für jeden Einwand aus Brüssel habe er dann das passende Argument
parat. Langfristig scheint sich Orbán ohnedies von Europa weg zu
orientieren. Seine Annäherung an China und andere Schwellenländer wird
zelebriert. Der Journalist Farkas glaubt, dass sich der Premier auch das
politische Modell Pekings zum Vorbild nimmt.
Der noch von der Vorgängerregierung angepeilte Beitritt zur Eurozone steht
derzeit nicht einmal mittelfristig auf der Agenda. András Inotai, Professor
am Institut für Weltwirtschaft in Budapest, hält es allerdings für eine
Illusion, wenn die Regierung glaube, sich wirtschaftlich von Europa lösen
zu können.
Zwar habe sich der Handel mit China 2010 verdoppelt, doch auf niedrigem
Niveau: von ein auf zwei Prozent. "70 Prozent werden nach wie vor mit der
EU abgewickelt, 40 Prozent allein mit Deutschland", erklärt Inotai. Er hält
das Orbán-Team für dilettantisch. Auf der einen Seite betreibe es mit der
Sondersteuer für Banken und internationale Unternehmen linke Politik, auf
der anderen Seite liege sie mit der Einführung einer Flat Tax von nur 16
Prozent auf neoliberalem Kurs.
Die Konsequenzen der Fehlentscheidung, Fremdwährungskredite zu empfehlen,
wird jetzt den ausländischen, meist österreichischen Banken aufgebürdet.
Schuldner, die wegen des Wertverfalls des Forint ihre Eurokredite nicht
mehr bedienen können, dürfen sich durch eine Einmalzahlung zu einem stark
begünstigten Kurs aus der Schuldenfalle retten. Die Differenz zahlen die
Banken.
Damit auch jene, die die fällige Summe nicht aufbringen können, in den
Genuss der Schuldenerleichterung kommen, helfen die kleinen ungarischen
Banken mit Überbrückungskrediten aus - gefördert vom Staat. Die
ausländischen Banken demonstrieren nicht auf der Straße. Doch Ungarn wird
zu einem Hochrisikoland für Investitionen. Die Konsequenzen eines solchen
Rufs werden Orbán mehr schmerzen, als Demos für die Pressefreiheit.
24 Oct 2011
## AUTOREN
Ralf Leonhard
## TAGS
Ungarn
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