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# taz.de -- Kirchenasyl in Deutschland: Lieber leiser
> Das Kirchenasyl war einst eine Form des zivilen Protestes gegen die
> Abschiebung von Flüchtlingen. Heute bedeutet es in erster Linie
> Diplomatie.
Bild: „Je stiller die Diplomatie ist, desto erfolgreicher ist sie“, sagt Di…
Wenn die Polizisten kommen, dann sollen sie vor dem Altar stehen, und die
Glocken sollen läuten. Thomas Heß ist den Ablauf immer wieder
durchgegangen. Mit Susan Alviola, die so dünn geworden ist, mit den Kindern
Clarizze und Alvin, mit den Nachbarn, den Aktivisten und mit seiner Frau.
Die ganze Nacht haben sie zusammen in der Kammer gesessen, oben im
Gemeindehaus seiner Hamburger St.-Stephanus-Kirche.
Der Flug nach Manila geht über Amsterdam. Start sei in den frühen
Morgenstunden, hatte die Stimme am Telefon gesagt. Doch langsam wird es
hell. Niemand steht vor der Tür. Der Anrufer hat gelogen. Als das Telefon
zum zweiten Mal klingelt, ist es die Innenbehörde. Die Abschiebung der
philippinischen Familie sei nun doch vom Tisch. Nach 24 Tagen im
Kirchenasyl dürften Frau und Kinder in Deutschland bleiben.
Bloß ein letztes Gespräch noch. Pastor Heß fährt in die Stadt, ein Tisch im
Mövenpick. Der Propst, ein Mann von der Behörde und er. Der dritte Anruf
ist von seiner Frau. Der Kellner bittet ihn ans Telefon: Polizisten
durchsuchen die Kinderzimmer.
Es ist der 15. November 1984, als Susan Alviola und ihre Kinder durch ein
Fenster ins Kirchenschiff klettern. Die Glocken schaltet ein Beamter ab.
Mit beiden Händen klammern sie sich an die Holzbänke. Fünfzehn Polizisten
tragen sie aus dem Andachtsraum. Um 19 Uhr hebt Flug LH 712 ab.
## Zeit gewinnen
Als Heß die philippinische Familie eines Seefahrers bei sich aufnimmt,
liegt das erste deutsche Kirchenasyl in Berlin gerade mal ein Jahr zurück.
In den USA hatten christliche Gemeinden bereits Ende der siebziger Jahre
begonnen, Flüchtlinge aus Lateinamerika zu verstecken. „Sanctuary Movement“
nannten sie sich: die Asylbewegung. Heß ist 33 Jahre alt. Die Hamburger
Behörde will keinen Präzedenzfall für ausländische Seefahrer schaffen – H…
will kämpfen. Er sagte: „Wir machen das jetzt.“
Petrus und die Apostel antworteten: Man muss Gott mehr gehorchen als den
Menschen. Im Neubaubüro in der Hamburger Hafencity steht Pastorin Fanny
Dethloff zwischen ihren Kakteen und spricht in ein Smartphone. „Es ist
einfacher, das Geld bei uns einzuklagen“, sagt sie: „Das wissen die meisten
Krankenhäuser, und deswegen gehen sie uns auf den Sack.“
Dethloff, Baumwollkleid, Ohrstecker aus Holz, ist Vorstandsvorsitzende der
Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Asyl in der Kirche. Gegründet
zehn Jahre nach der Ausreise von Susan Alviola. Dethloffs Zahlen für 2011:
Deutschlandweit 69 Personen in Gemeinden untergebracht, 16 Kirchenasyle
erfolgreich beendet, eine Abschiebung.
Kirchenasyl heißt für sie: Man braucht ein ganzes Team, um einen Menschen
zu bespaßen. Haft de luxe. Die psychische Anstrengung für den Flüchtling
ist groß, ebenso wie der Aufwand. Mediziner, Anwälte, Lebensmittel, die
Schule für die Kinder. Kirchenasyl bedeutet, Zeit zu gewinnen.
## Reden im Hintergrund
Die evangelische Nordkirche bezahlt neben Dethloffs eigener Stelle als
Flüchtlingsbeauftragte mittlerweile Wohnungen, in denen Menschen
untertauchen können. Sie finanziert Juristen, die Flüchtlinge beraten. Und
solche, die verhandeln können. „Heute reden wir lieber im Hintergrund mit
den Behördenvertretern“, sagt Fanny Dethloff der Presse.
Ziviler Ungehorsam? Protest? Man muss mit Medien verantwortlich umgehen.
„Stilles Asyl“, sagt sie, wenn sie mit den Behörden spricht, aber nicht mit
Journalisten. Die Tür von Nahla Dali* ist bunt besprüht. Eine Comicfigur,
ein kleiner Junge – es ist der Eingang zum Jugendtreff. Dali sieht das
Graffito nicht oft. Seit einem Jahr verlässt sie diese Räume, in denen sie
nun wohnt, fast nie. In den ersten Monaten ging sie nur zum türkischen
Laden an der Ampel, kaufte ein, so schnell sie konnte, und lief zurück. Sie
weiß: „Ich bin nicht normal.“ Was passiert, wenn ein Polizist sie
kontrolliert, das weiß sie nicht.
Dali wurde in dem Moment zum Flüchtling, als ihr Mann an multipler Sklerose
erkrankte. Eigentlich lebten sie bereits weit entfernt von der gefährlichen
Heimat Syrien. Verdienten gutes Geld in Saudi-Arabien, er verkaufte
Schokoriegel, sie kümmerte sich um die Kinder. Doch als er nicht mehr
konnte, konnte sie ihn nicht vertreten. Dali darf in Saudi-Arabien nicht
Auto fahren. Sie ist eine Frau.
Vier Tage sitzen sie im Boot nach Italien. In Bayern hält sie die Polizei
an. Flüchtlingsheim. Von dort sind es zweieinhalb Kilometer Fußweg zur
Schule. Ihre beiden Töchter und sie sind die einzigen Frauen in der
Unterkunft. Dali begleitet sie zum Badezimmer, den Flur entlang. So wie
ihren Mann, der jetzt Hilfe braucht.
## Versteck im Wald
Die letzte Station ihrer Familie ist ein Versteck im Wald. Von hier aus
geht es nicht mehr weiter, nur noch zurück. Auf dem Billardtisch im
Jugendtreff liegt ein Deckel aus Holz. Er wurde an die Wand geschoben.
Darunter stehen Plastikbagger, für die zwei Kleinen. Die Zimmer sind groß,
aber die Stoffe vor den Fenstern lassen wenig Licht in den Keller. Die
Wangen der Pastorin schimmern rosa. Draußen war es warm, das spürt man hier
nicht.
„Wir haben dich vermisst“, sagt Nahla Dali. „Ich habe gestern nicht
geschlafen. Fünfhundert Menschen tot, an einem Tag. Ich habe geträumt, dass
meine Mutter stirbt. Dann bin ich aufgewacht.“ Die Pastorin blickt in die
dunklen Augen der schmalen Dali. „Durch euch ist für mich der Krieg näher�…
sagt sie. Dass Dali, ihr Mann und ihre vier Kinder hier im Kirchenanbau
leben, wissen die Hamburger Behörden.
Die Gemeinden der Stadt gelten als sicher. Alviolas Abschiebung im Herbst
1984 ist bis heute die einzige geblieben. Um welche Gemeinde es sich bei
Nahla Dali handelt, soll trotzdem geheim bleiben. Die Pastorin fürchtet
Anschläge von Rechtsextremen.
Als die Familie im letzten Jahr kam, waren die alten Frauen aus der Gegend
die Ersten, die fragten: Brauchen sie was Warmes? Essen? Decken? Die
Kriegsgeneration. Heute bringen sie Geschenke für die Jungs vorbei. „Wenn
man die Geschichte mal erzählt, haben viele Leute Mitgefühl“, sagt der
Küster. „Sonst sind wir ja hier überrannt“, ergänzt er. Von Ausländern.
## Aktenordner und eine Orchidee
Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.
Diplomsozialpädagogin Anne Harms, 45 Jahre alt, früher
Menschenrechtsaktivistin, sitzt zwischen weiß beklebten Aktenordnern und
einer Orchidee. Der Bleistiftspitzer summt leise unter ihrer Tischplatte.
Aus ihrem Büro in Hamburg-Altona leitet sie die kirchliche Hilfsstelle
Fluchtpunkt. Gründungsjahr: 1994. „Politische Kampagnen sind für Gemeinden
oft eine Überforderung“, sagt Harms.
Sie ist bereits einige Male zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
nach Nürnberg geflogen. „Je stiller die Diplomatie ist, desto erfolgreicher
ist sie.“ Fluchtpunkt begann als Initiative. Heute hat die Organisation ein
Standing. Man arbeite transparent, sagt Harms, denn die Politik wisse:
Bevor die skandalisieren, rufen sie uns an.
Seit Jahrzehnten, sagt auch Christiane Germann vom Nürnberger Bundesamt,
stehe man mit Kirchenvertretern im Dialog. Mit Bischöfen, mit der Caritas
und der Diakonie, mit der Bundesarbeitsgemeinschaft für Kirchenasyl und in
Expertenrunden: konstruktive, vertrauensvolle Gespräche. „Einzelfälle“,
sagt Germann, würden so „im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten auch
relativ oft einer Lösung zugeführt“.
Ob ein Kirchenasyl mit einer Aufenthaltserlaubnis für die Schützlinge
endet, hänge „davon ab, ob die Kirchen in der Lage sind, die politisch
Verantwortlichen von einer humanitären Lösung zu überzeugen“, glaubt Günt…
Burkhardt. Er ist der Geschäftsführer der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl.
Anne Harms sagt, sie werde nicht die Klappe halten, damit der
Gesprächsfaden nicht abreißt.
## Kampftrinkergrieche
Ein Edelgrieche ist dort eingezogen, wo früher der Kampftrinkergrieche war.
Eimsbüttel hat sich verändert, seit Thomas Heß die Gemeinde verließ. Die
St.-Stephanus-Kirche ist heute entwidmet. Auf dem rauen Steinboden im
Keller liegt jetzt Parkett, der Altar ist verschwunden. Werbegrafiker haben
an seiner Stelle graue Sofas aufgestellt, für Kreativrunden.
Flachbildschirme und Topfpflanzen im ganzen Kirchenraum.
Als die Bänke noch standen, hatte die Seefahrerfrau Alviola gesagt: „Mein
Pastor und mein Anwalt schreien sich an.“ Heß wollte die harte Linie,
wollte die Sache politisch durchziehen. Es kann doch nicht sein, dass wir
Leute abschieben, weil Reeder Gewinn machen wollen! Es gab
Solidaritätsveranstaltungen hier, sonntags war die Kirche proppenvoll,
Ausgetretene kamen zurück, sogar Liedermacher Wolf Biermann spielte. Doch
der Anwalt wollte verhandeln.
Als es vorbei war, engagierte sich Heß im Flüchtlingsrat, später auch bei
Fluchtpunkt. In Eimsbüttel suchte nie wieder jemand Schutz. Die
Stephanuskirche war verbrannt. Das Kirchenasyl sei heute
erfolgsorientierter, es sei professionell geworden, sagt Heß: „Ich war
naiv.“
Er predigt jetzt draußen in Bergedorf. Eine Vorstadtgemeinde. Seine Haut
ist weich geworden und sein Haar ergraut. Noch drei Jahre bis zur
Pensionierung. Als vor einiger Zeit Hamburger Kurden in den Hungerstreik
traten, da bot ihnen Heß noch einmal an, zu kommen. Doch die Kurden lehnten
ab. Wollten in ihrem Stadtteil bleiben. St. Georg, in Hauptbahnhofsnähe.
Dort gibt es mehr Presse.
*Name geändert
2 May 2013
## AUTOREN
Kristiana Ludwig
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