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# taz.de -- Opposition in Russland: Ökonom ergreift die Flucht
> Der renommierte Wissenschaftler Sergej Gurijew setzt sich nach Frankreich
> ab. Er fühlt sich unter Druck gesetzt und fürchtet, im Knast zu landen.
Bild: Hat sich nach Paris abgesetzt: Der Ökonom Sergej Gurijew.
MOSKAU taz | Sergej Gurijew war ein Optimist. Auf internationalen
Wirtschaftsforen warb der renommierte Ökonom unermüdlich für Russland: das
Investitionsklima im Lande, versicherte er, verbessere sich stetig, auch
wenn es immer mal wieder Schwierigkeiten gebe. Westliche Investoren gaben
viel auf sein Wort. Gurijew hatte mit der New Economic School (NES) in
Moskau nicht nur eine neue Wirtschaftshochschule auf die Beine gestellt,
die nach zehn Jahren mit zu den besten der Welt zählt.
Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew nahm den 42jährigen auch in seine goldene
Kaderreserve auf, die hundert der führenden Experten des Landes
versammelte. Gurijew wirkte an mehreren Regierungsprogrammen mit und setzte
sich aktiv für das Modernisierungsprojekt Skolkowo ein, das der frühere
Kremlchef als russisches Pendant zum Silicon Valley aus der Taufe heben
ließ.
Gurijew war ein so genannter System-Liberaler, der zur Elite gehörte, sich
aber trotzdem die Freiheit nahm, gelegentlich kritische Anmerkungen zu
machen. An seiner Loyalität gegenüber dem Kreml ließ er indes nie Zweifel
aufkommen.
Inzwischen reicht Loyalität nicht mehr, in Wladimir Putins dritter Amtszeit
wird totale Loyalität verlangt. Wer die nicht garantiert, muss mit
Konsequenzen rechnen oder das Weite suchen.
## Eine bittere Botschaft
Wie Gurijew, der vergangene Woche aus dem Urlaub in Paris nicht mehr nach
Moskau zurückkehrte und von allen Ämtern zurücktrat. Für Russland und
westliche Investoren eine bittere Botschaft.
Es sei in „Paris besser als in Krasnokamensk“ schrieb er auf Facebook in
Anspielung auf das sibirische Straflager, in dem der Ex-Ölmilliardär
Michail Chodorkowskij einen Teil seiner ersten Haftstrafe verbüßte. Der
Mehrheitseigner des Yukos-Konzerns zog sich den Zorn des Kremlchefs zu,
weil er die Opposition förderte und einen alternativen Weg jenseits des
Putinschen Traditionalismus ins Auge fasste.
Seit ein paar Tagen ist die Flucht Gurijews amtlich. Er werde nicht
zurückkehren, solange nur die geringste Gefahr bestehe, die Freiheit zu
verlieren, sagte er der New York Times. „In Russland kannst du der Freiheit
beraubt werde, selbst wenn du nichts Schlechtes getan hast“. Er wolle nicht
ständig in Angst leben. Niemand hätte ihm Garantien geben können, nicht
hinter Schloss und Riegel zu landen, sagte er.
## „Wenn er zurückkommen will, soll er zurückkommen“
Derartige Ängest kann Präsident Wladimir Putin nicht nachvollziehen. Es
gebe keine Drohungen gegen Gurijew. „Seine Frau lebt und arbeitet in Paris.
Niemand bedrohte ihn, er besucht sie oft. Wenn er zurückkommen will, soll
er zurückkommen“, sagte Putin am Dienstag bei einem EU-Russland-Gipfel in
Jekaterinburg.
Der Fall Chodorkowski hätte sich auch zu einer Causa Gurijew ausweiten
können. Im April wurde der Ökonom vom russischen Ermittlungskomitee (SK)
vorgeladen und zunächst als Zeuge verhört. Es ging um Gelder, die von
ehemaligen Yukos-Strukturen für ein Gutachten über den zweiten
Chodorkowski-Prozess an die NES gezahlt worden sein sollten. Das Gutachten
von sechs unabhängigen Juristen hatte der damalige Kremlchef Dmtrij
Medwedjew in Auftrag gegeben.
Verfahren und Schuldspruch gegen Chodorkowski seien nicht haltbar, urteilte
die Sechsergruppe. Medwedjew leitete daraufhin den Bericht an die
zuständige Behörde weiter, die die Kritik jedoch zurückwies und den
Ermittlern des SK den Fall wieder überließ.
Alle Gutachter der Sechsergruppe wurden verhört und ihre Büros durchsucht.
Bei Gurijew wurde auch der e-mail-Verkehr der letzten fünf Jahre
konfisziert. Alle Beteiligten müssen mit einer Anklage wegen „Behinderung
der Justiz“ rechnen, worauf bis zu vier Jahre Gefängnis stehen.
In Moskau wird vermutet, dass die Ermittler auf der Suche nach neuem
Material für einen weiteren Chodorkowski-Prozess sind. Eigentlich müsste
der Ex-Oligarch 2014 freigelassen werden, was der Kreml jedoch verhindern
möchte.
## Modernisierung auf dem Index
Auch wenn sich die Zahlungen aus dem Umfeld von Yukos nicht nachweisen
lassen, könnte daraus trotzdem eine Anklage wegen Behinderung der Justiz
gebastelt werden. Gurijew will keine Gelder erhalten haben. Russlands
Justiz ist jedoch erfinderisch.
Der Auftraggeber des Berichts, Premierminister Dimitri Medwedjew, weigerte
sich, dem einst engen Vertrauten den Rücken zu stärken. Er fürchtet, selbst
unter die Räder zu geraten. Sein Schlagwort „Modernisierung“ steht schon
auf dem Index.
Gurijew hatte jedoch noch etwas Unverzeihlicheres begangen, indem er
Sympathien für den Oppositionellen Alexej Nawalny äußerte. Dessen Stiftung
zur Korruptionsbekämpfung überwies er 10000 Rubel (250 Euro) und riet den
Machthabern öffentlich: „Beseitigt die Korruption, und die Opposition ist
weg!“
Aktivisten wie Nawalny könnten bewirken, dass Russen 2020 statt dem
Lebensstandard eines Slowaken den eines Italieners erreichten, meinte der
Ökonom. Noch ist jedoch alles an seinem Platz nur Gurijew nicht. Das Signal
aus dem Kreml ist eindeutig: Im Interesse des Machterhalts ist die Elite
bereit, einen hohen Preis auf Kosten Russlands zu zahlen und die besten
Köpfe zu vertreiben.
5 Jun 2013
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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