# taz.de -- Jahrestag der Anti-Putin-Proteste: Wer in die Mühlen gerät | |
> Gegen Artjem Saweljow lag nichts vor. Er demonstrierte gewaltlos. | |
> Trotzdem wird er nun in Russland der „Anstiftung zum Massenaufruhr“ | |
> beschuldigt. | |
Bild: Kransnojarsk: Auch in Sibirien fordern Demonstranten Freiheit für die Ge… | |
MOSKAU taz | Viktor Saweljow hat den Humor nicht verloren, auch wenn dem | |
rüstigen Rentner nicht nach Lachen zumute ist. Die Sache sei jedoch zu | |
absurd, meint der 65-Jährige. | |
Seit Monaten dreht sich sein Leben nur noch um den jüngsten Sohn, Artjem. | |
Der ist 32 Jahre alt, steht auf eigenen Beinen, ist kerngesund und ein | |
anständiger Kerl, versichert der Vater. Dennoch ist Saweljow seinetwegen | |
ständig unterwegs: Von der Ermittlungsbehörde in die Haftanstalt, von | |
Sitzungen mit Rechtsanwälten zu Treffen mit anderen Angehörigen, die sich | |
zum „Komitee 6. Mai“ zusammengeschlossen haben, [1][weil ihnen Ähnliches | |
widerfuhr]. Im Juli 2012 wurde Artjem wegen „Anstiftung zu Massenaufruhr“ | |
von der Straße weg verhaftet. Er ist nur einer von vielen. | |
Artjem Saweljow sitzt seit mehr als zehn Monaten in U-Haft. „Aufstachelung | |
zu Massenunruhe“ und „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ werden ihm zur | |
Last gelegt. Viktor Saweljow rekonstruierte anhand von Videoaufnahmen | |
Artjems Bewegungsprofil auf der Demo. Nirgends leistet er Gegenwehr, | |
widerstandslos lässt er sich festnehmen und wird später wieder auf freien | |
Fuß gesetzt, da nichts gegen ihn vorlag. | |
Die Häscher kommen Wochen später wieder und nehmen ihn mit. „Ich wusste | |
nicht, wo er ist“, sagt sein Vater, der ihn nach tagelanger Suche in der | |
berüchtigten Polizeistation Petrowka 38 im Zentrum entdeckte. | |
Acht Jahre Lagerhaft drohen dem Sohn. Laut Protokoll rief er durch | |
Skandieren von Antiregierungsparolen zum Umsturz auf. Vater Saweljow | |
schüttelt den Kpf: „Artjem hat seit der Pubertät ein Problem, er stottert | |
und spricht nicht gern. Jetzt soll aus ihm ein Volkstribun gemacht werden!“ | |
Die Armee hätte ihn wegen dieses Makels nicht einmal eingezogen. | |
Ermittler versuchen den Vater zu überreden, den Sohn zu einem Geständnis zu | |
bewegen. Sie locken mit drei statt acht Jahren Haft.“ Möchtest du drei | |
Jahre unschuldig absitzen?“, fragte Saweljow den Beamten. Der Rentner hat | |
keine Angst. Und er ist stolz auf seinen Sohn, den er in zehn Monaten nur | |
viermal besuchen durfte. Dem Druck der Justiz gab Artjem in unzähligen | |
Verhören nicht nach. „Ein kräftiger und anspruchsloser Bursche, der einiges | |
wegstecken kann“, sagt der Vater. | |
## Nicht alle ernten Mitgefühl | |
Dem Rentner hilft die Solidarität der Nachbarn. An einem Tag sammelte er | |
580.000 Rubel (14.500 Euro) unter den Hausbewohnern des riesigen | |
Plattenbaus für eine Kaution, der dann nicht stattgegeben wurde. Heute | |
begrüßen die Mitbewohner Saweljow mit Handschlag und erkundigen sich nach | |
dem Sohn. | |
Natalja Kawkaskij stieß bei Nachbarn nicht auf so viel Mitgefühl. Die | |
meisten lehnten es ab, sich für den Sohn Nikolai auch nur mit einer | |
Unterschrift einzusetzen. Anders verhielten sich Nikolais ehemalige Lehrer | |
und Professoren, die positive Gutachten für die Behörden verfassten. | |
Dennoch sei sie nach der Festnahme wochenlang kopflos gewesen, meint die | |
Pädagogin. „Mit Politik habe ich mich nie befasst. Musik und Kirche waren | |
meine Welt“, sagt die russisch-orthodoxe Musiklehrerin. | |
Eigentlich sollte auch Nikolai, der eine Musikschule absolvierte, Cellist | |
werden, studierte dann aber doch Jura. Vor der Inhaftierung arbeitete der | |
26-Jährige als Anwalt in der NGO „Bürgerrechte“. Die dunkle Seite des | |
Lebens, sagt Natalja leise, hätte sie erst seit Nikolais Verhaftung | |
kennengelernt. | |
Noch immer spüre sie den damaligen Schmerz. Heute, nachdem sie im Komitee | |
6. Mai Anschluss fand, fiele es ihr schon leichter, sagt sie. „Mir blieb | |
nichts anderes übrig, als mich auf Politik einzulassen“, sagt sie. Wer | |
sonst würde der Verleumdung entgegentreten, dass der Sohn ein Verbrecher | |
sei. | |
## Wie Stalins Schauprozesse | |
Die Bolotnaja-Verfahren seien mit heißer Nadel gestrickt, bestenfalls | |
würden formale Kriterien bei den Ermittlungen eingehalten, meint | |
Kawakaskij, sie fühlt sich an die Schauprozesse 1937 unter Stalin erinnert, | |
als sich Angeklagte zu absurden Vorwürfen bekannten. Die Maxime des | |
Diktators damals, „Für jeden Paragrafen findet sich auch ein Angeklagter“, | |
sei bis heute Leitmotiv einer willfährigen Justiz geblieben: Wer in die | |
Mühlen gerät, entkommt nicht mehr, schuldig oder nicht schuldig. Nur | |
erschossen werde heute keiner mehr, sagt sie. | |
Nikolai drohen auch acht Jahre Gefängnis, obwohl die Anklage gegen ihn | |
besonders haltlos ist: Sein vermeintliches Opfer – ein Polizist, an dem | |
sich Nikolai während des Handgemenges festhielt und dem er ein Hämatom | |
zugefügt haben soll – konnte nicht mehr ermittelt werden. | |
Anwalt Wadim Klugwant, der schon den früheren Öloligarchen Michail | |
Chodorkowskij verteidigte, hält die Anklage für künstlich aufgeblasen: ohne | |
Straftatbestand und Klage des Opfers sei der Vorwurf gegenstandslos. Die | |
Staatsanwaltschaft ignoriert die Einwände jedoch. „Unter den Moskauer | |
Ermittlern gab es anfangs noch einige anständige“, meint Kawkaskij. Nach | |
und nach seien die professionelleren Ermittler jedoch durch Nachrücker aus | |
der Provinz ausgewechselt worden. Mit Privilegien wurden die neuen | |
geködert. | |
## Ein abgekartetes Spiel | |
Für die Musikerin gleicht alles einem abgekarteten Spiel: Auch die | |
identifizierbaren Steinewerfer auf der Demo seien nicht festgenommen | |
worden. Handelte es sich dabei um Provokateure, die gedeckt werden sollen, | |
fragt sie. | |
So oft es geht, bringt Kawkaskij dem Sohn frisches Obst und Gemüse ins | |
Gefängnis. Nikolai ist Vegetarier und das Butyrka-Gefängnis eine | |
gefürchtete Adresse in Moskau. Im Jahr 2009 verstarb der Anwalt Sergej | |
Magnitsky in der Haft wegen unterlassener Hilfeleistung. Der Jurist war | |
einem Korruptions- und Steuerskandal nachgegangen und deshalb eingesperrt | |
worden. Die korrupten Beamten hingegen wurden – wie auch die für den Tod | |
verantwortlichen Justizangestellten – verschont. | |
Nikolai geht es nicht gut. In der Haft legte er 20 Kilo zu, weil ihm | |
Bewegung fehlt und er sich falsch ernährt. „Anspruch auf Gesundheit hat ein | |
Häftling nicht“, meint Kawkaskij. Einem Demonstranten, der langsam | |
erblindet, verweigerte der Richter die Umwandlung der U-Haft in Hausarrest. | |
Der Staat führt einen gnadenlosen Feldzug, um die aktiveren Bürger mundtot | |
zu machen. Kawkaskij ist überzeugt, dass dieser fabrizierte Prozess in die | |
Geschichte eingeht. Ein Justizbeamter sagt ihr dazu:„Sie mögen mit ihm in | |
die Geschichte eingehen, ich hänge in dieser misslichen Geschichte schon zu | |
tief drin.“ | |
7 May 2013 | |
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## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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