# taz.de -- Musiktour durch Berlin: Den Mythen auf der Spur | |
> Thilo Schmied führt Touristinnen und Berliner in legendäre Ecken der | |
> Popmusik-Hauptstadt. Schülern erklärt er dabei, wer eigentlich dieser | |
> David Bowie war. | |
Bild: David Bowie ist der Star der Musiktour durch Berlin. | |
Wer wissen will, warum gerade die Deutschen Depeche Mode so lieben und das | |
Konzert am Sonntag im Olympiastadion im Eiltempo ausverkauften, kann gerne | |
Thilo Schmied fragen. „Als ich die Band mit dreizehn 1988 in der | |
Seelenbinder-Halle sah, war das für mich ein einschneidendes Erlebnis. Wir | |
konnten gar nicht glauben, dass die tatsächlich in der DDR spielen. Für uns | |
Ostler waren das doch unerreichbare Idole.“ | |
Heute weiß der 39-Jährige, dass in den Pophelden auch normale Typen | |
stecken. Gern erzählt er die Geschichte von Andy Fletchers Verzückung für | |
den pseudokulinarischen Snack Toast Hawaii. „Als Depeche Mode in den 80ern | |
im Hansa Studio eine Platte aufnahmen, hat er sich die Dinger ständig im | |
Restaurant nebenan reingezogen. Später nannte er sogar sein eigenes | |
Plattenlabel Toast Hawaii.“ | |
Die Anekdote hat Thilo Schmied schon Hunderte Mal erzählt und anschließend | |
„People are People“ angespielt – im Bus, mit dem er Musikinteressierte | |
durch die Stadt kutschiert. So wie an diesem Sonnabendnachmittag, an dem | |
etwa 15 Teilnehmer seine „Musictours Berlin“ gebucht haben. Paare aus | |
München und Wien, die vor allem Bowies Spuren in Berlin interessieren. Aber | |
auch eine Clique Zehntklässlerinnen aus Treptow, die bisher gar nicht | |
wussten, dass dieser David Bowie, von dem jetzt so oft zuhören war, mal in | |
ihrer Heimatstadt gelebt hat. | |
„Wir kriegen meist nur mit, was wir gern hören“, sagt Martine. „Dabei ist | |
das echt interessant, was in Berlin wo abging. Zum Beispiel in Kreuzberg, | |
mit, wie heißen die: Ton Steine Scherben.“ Auch das lernt sie bei der Tour. | |
## Pogeschichten am Straßenrand | |
Los geht die wie immer am Hotel Adlon. Auch so ein Ort, an dem sich | |
Musikergeschichten zur Musikgeschichte verdichtet haben. Thilo Schmied kann | |
sofort drauf los erzählen. „Bei den Reichstagskonzerten von Bowie und | |
Michael Jackson Ende der Achtziger stand ick selbst an der Mauer, auf der | |
Ostseite. Da haben wir natürlich blöd geguckt, aber immerhin stand der Wind | |
gut. War wohl der Wind of Change.“ | |
Bis die Volkspolizisten gegen das Westmusikhören einschritten. Sogar | |
Jacksons durchgeknallte Adlon-Aktion Jahre später, als er sein Baby aus dem | |
Hotelfenster hielt, hat er als Zeitzeuge erlebt. Mythentrash ist wichtig | |
zur Unterhaltung des Publikums, gleichwohl bittet Thilo Schmied die | |
Amüsierten, trotz allem nicht den „Respekt vor dem großartigen Künstler | |
Michael Jackson“ zu verlieren. | |
Pop lebt von Storys und Mythen, die wollen die Leute mindestens so gern | |
hören wie die Musik selbst. Der Storyteller Thilo Schmied bietet den | |
Berlin-Besuchern und Berlinern genau diese Geschichten. Wenn er erzählt, | |
dann nicht in diesem leierigen Museumsführerstakkato, sondern im launigen | |
Berliner Dialekt des Selfmade-Guides. | |
Sein Kopf ist voll mit Experten- und Fanwissen, das sich mit den Zeiten | |
angehäuft hat und permanent abrufbar ist. Eine perfekte Grundlage für das | |
Geschäftsmodell Bus- und Walking-Touren durch die Musikstadt Berlin, wo die | |
großen und kleinen Popgeschichten haufenweise am Straßenrand liegen. Hinter | |
grauen Häuserfassaden (die einstige HipHop-Zentrale Aggro Berlin) oder an | |
der bunt bemalten Eastside Gallery (wo jüngst David Hasselhoff sang). Man | |
muss sie nur abfahren und erzählen. | |
Thilo Schmied war mit Sicherheit nicht der Erste, der diese Idee hatte, | |
aber er hat sie als Erster 2005 umgesetzt. Das lag auch daran, dass sich | |
der einstige Toningenieur und Labelpromoter einen neuen Platz in der | |
abschwingenden Musikwirtschaft suchen wollte, musste. Die Grenzen sind | |
bekanntlich fließend in Krisenzeiten. Jedenfalls hat er aus der Not eine | |
Tugend gemacht. | |
## Weiterbildung in Pophistorie | |
Jetzt erzählt er den Musikfans halt, was in den besseren Zeiten der | |
Popmusikära so abging und warum in Berlin immer wieder Neues auf und in | |
alten Ruinen entstand. Zum Beispiel im Tresor, dem Techno-Tempel der | |
Neunziger. In dem war Thilo Schmied als Teenager zwar auch, aber die alten | |
Schnorren lässt er lieber die Szeneberühmtheiten erzählen, die er für seine | |
im Bus laufenden Videos interviewte. Clubbetreiber Dimitri Hegemann | |
schildert, wie eine Frau nach einem Partywochenende versehentlich | |
eingeschlossen wurde. Daraufhin habe sie erst den ganzen Laden geputzt, ehe | |
sie nach zwei Tagen doch die Polizei rief, um sich befreien zu lassen. | |
Die Fülle an Popanekdoten, die sich in Berlin angesammelt hat, ist enorm. | |
Wenn Thilo Schmied sie nicht selbst erzählt, tun das die Promis der | |
Berliner Musikszene via Video: Nina Hagen, Markus Kavka, Bushido oder | |
Ärzte-Bassist Rod Gonzalez. Vorbei geht’s am SO 36 zu Straßenkampfmusik von | |
Atari Teenage Riot oder am ehemaligen Knaack in Prenzlauer Berg, dort wo | |
die frühen Rammstein auftraten. Zu sehen gibt’s freilich nur eine | |
Baustelle, weil das Haus, aus dem das Knaack längst ausziehen musste, | |
saniert wird. | |
Kreuz und quer geht es durch die Stadt, bis der Bus irgendwann in | |
Schöneberg parkt, vor dem Haus, in dem David Bowie und Iggy Pop in den | |
Siebzigern wohnten. Deshalb sind Bowie-Fans aus aller Welt Dauergäste bei | |
den Touren, seit Jahresanfang noch verstärkt. „Sein Comeback war natürlich | |
ein Megageschenk“, sagt Schmied, der auch die Kuratorin der großen Londoner | |
Bowie-Ausstellung exklusiv durch Berlin führte. | |
Wie überhaupt seine Kundschaft ausgesprochen vielfältig ist. So buchen | |
regelmäßig große Plattenfirmen [1][die Musictours], als eine Art | |
betriebliche Weiterbildung in Pophistorie für die nachrückenden jungen | |
Kollegen. Und weil das Jugendradio Fritz sein Medienpartner ist, führt | |
Schmied häufig ganze Schulklassen durch die Stadt. Denen erzählt er nicht | |
nur, wovon sie im Musikunterricht noch nie gehört haben. Er spricht sogar | |
ein uncooles Thema an. Dass nämlich Musik nicht aus dem Nichts kommt und | |
man mit illegalen Downloads nicht nur die Superstars trifft, sondern „auch | |
viele, die mit Herzblut Musik machen und nie groß rauskommen“. Ein bisschen | |
Moral zwischen all den lustigen Geschichten darf ruhig sein. | |
6 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.musictours-berlin.de | |
## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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