# taz.de -- Kolumne Nullen und Einsen: Reality Bites | |
> Computerspiele sollen immer wirklichkeitsgetreuer werden. Nur warum? Nach | |
> 32 Jahren als Testspieler der Realitäts-Betaversion bin ich schwer | |
> enttäuscht. | |
Bild: Tolle Shading- und Lichteffekte, aber das war es dann auch: Gebirgslevel … | |
In [1][Neal Stephensons Roman „Error”] wird ein autistisch veranlagter | |
Geologe beschrieben. Er ist so verbittert über das unrealistische Design | |
von Bergen in Computerspielen, dass er eine Engine programmiert, die | |
Milliarden Jahre der Gebirgswerdung simuliert. Vulkanausbrüche, | |
Plattentektonik, Witterung, das ganze Programm. Seine Berge sind also nicht | |
mehr eine Firnisschicht Pixeltextur auf weißen Polygonen, sondern bis ganz | |
unten durchgerechnete Steinhaufen. | |
Auch in der Realität ist die Realität der heilige Gral der Gamingbranche. | |
Alles soll immer noch natürlicher aussehen, sich immer noch echter anhören | |
und beim Level- und Storydesign sollen es immer noch mehr Freiheitsgrade | |
sein, sollen möglichst alle herumstehenden Gegenstände und Personen nicht | |
nur Pixelrequisite sein, sondern Spielinhalte, mit denen sich interagieren | |
lässt. | |
So ist die Realität längst zum Selbstzweck geworden. Dabei bin ich nach 32 | |
Jahren als Testspieler der Realitäts-Betaversion schwer enttäuscht. Denn | |
klar, als Open-World-Simulation ist das Spielkonzept State of the Art, das | |
ruckelfreie Echtzeitrendering mit einer scheinbar unbegrenzten Farbpalette | |
in höchster Auflösung ist beeindruckend (Vorsicht: nichts für alte | |
Grafikkarten!), die Physik-Engine sucht ihresgleichen und der Surroundsound | |
ist von ungewohnter Klangtiefe. | |
Aber das alles wird kaum ausgespielt, meist bleibt das Leveldesign | |
erschreckend monoton (Sibirien, Sahara, deutsche Fußgängerzonen), und über | |
zwei Drittel der Spielfläche bestehen ohnehin aus langweilig animiertem | |
Wasser. Hier haben die Projektmanager eindeutig am falschen Ende gespart – | |
wie bei so vielen anderen Dingen. | |
Eine komplette Zumutung ist etwa das Game-Controlling: Gefühlt dauert es | |
Jahre, auch nur die grundlegenden Funktionen zu lernen. Wer hat schon so | |
viel Zeit? Klar, mit der „Hand“ wurde ein vielseitiges Steuerungselement | |
geschaffen, das erstaunliche Kombos hinbekommt – aber das geht auf Kosten | |
fast aller anderen Spielfunktionen. Oder kennen Sie irgendein Spiel, wo man | |
selbst mit Übung kaum höher springen kann als die eigene Körpergröße? | |
Auch mögen sieben Milliarden Non-Player-Charaktere beeindruckend klingen – | |
doch reden sie fast alle unverständliches Zeug und sind zum größten Teil | |
auch noch langweilig. So verkommt künstliche Intelligenz zur Dutzendware! | |
Ähnlich unausgegoren ist die Editorfunktion: Theoretisch lässt sich zwar | |
alles Denkbare verändern, praktisch haben selbst hochgezüchtete Charaktere | |
nicht genug Stärkepunkte, um auch nur einen kleineren Berg zu versetzen. | |
Dazu kommen Detailfehler wie die oftmals grausame Menüführung | |
(Steuererklärung), das stark limitierte Inventory, in dem man trotzdem nie | |
was findet (Haustürschlüssel), oder die Unmengen an Zeit, die man für | |
Transport und Regeneration des Charakters aufwenden muss. | |
Komplett indiskutabel ist schließlich der Verzicht auf eine | |
Speicherfunktion. Hat man sich in eine Sackgasse gespielt, bleibt nur der | |
Reset-Knopf – was besonders ärgerlich ist, wenn man nach rund 25 Jahren | |
erstmals substanzielle Fortschritte gemacht hat. Die Risikofreude geht so | |
deutlich zurück. | |
Immerhin haben die Programmierer unzählige Quests und Missionen eingebaut, | |
von denen viele auch im Multiplayermodus spielbar sind. Das komplett | |
instransparente Erfahrungspunktesystem macht ein gezieltes Hochleveln des | |
eigenen Charakters aber unmöglich. Und das Spielkonzept ist so | |
undurchsichtig, dass man sich irgendwann fragt, welchen Sinn das alles hat. | |
Fazit: die Realität – eine Sackgasse! | |
21 Jun 2013 | |
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## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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