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# taz.de -- Neurobiologische Geschlechtsunterschiede: Das Geschlecht im Kopf
> Die psychologischen und hirnbiologischen Unterschiede sind kleiner als
> gedacht. Die Neurobiologie distanziert sich zunehmend von
> Rollenzuweisungen.
Bild: Warum wohl fahren Jungs so auf Autos ab?
MÜNCHEN taz | Wenn sich bei Frauen ein Babybäuchlein wölbt, ist gemeinhin
die erste Frage: Junge oder Mädchen? Erst dann erkundigen sich die meisten
Menschen nach der Gesundheit von Mutter oder Kind. Warum das so ist? „Das
Geschlecht ist ein Werkzeug der sozialen Kategorisierung, stärker sogar als
die Ethnie“, sagt [1][Harry Reis, Psychologe der Universität Rochester].
Die Menschen nutzten dieses Schubladendenken, um eine komplizierte Welt zu
vereinfachen.
„So eine Kategorisierung ist aber nur dann sinnvoll, wenn sich Männer und
Frauen tatsächlich fundamental unterscheiden. Das tun sie aber nicht“,
fasst der Psychologe das Ergebnis einer aktuellen [2][Meta-Analyse zum
Thema Geschlechtsunterschiede (pdf)] zusammen.
In seiner Forschungsarbeit hat der Wissenschaftler 13 Studien mit mehr als
13.000 ProbandInnen ausgewertet. In den Studien wurde etwa abgefragt, wie
sich die ProbandInnen in Sachen Unabhängigkeitsstreben, Gewissenhaftigkeit
oder Partnerwahl verhielten.
Das Fazit: Es gibt Unterschiede, aber die männlichen und weiblichen
Eigenschaften überschneiden sich über weite Teile. „Ein Mann, der stark und
aggressiv ist, kann durchaus schlecht in Mathe sein“, erläutert Harry Reis.
Was der britische Psychologe hier aufgedeckt hat, ist beileibe kein Novum.
In den letzten Jahren wird immer deutlicher, dass Frauen und Männer nicht
unterschiedliche Planeten bewohnen, sondern durchaus beide ErdbewohnerInnen
sind.
Auch die Männern zugeschriebenen Fähigkeiten, zu systematisieren oder sich
in Räumen zurechtzufinden, oder die angeblich typisch weiblichen Talente
wie Empathie, Sprachgefühl oder Multitaskingfähigkeit werden nicht mit den
Geschlechtschromosomen in die Wiege gelegt.
Dabei verneint niemand der Forscher, dass es Unterschiede etwa in der
Hirnbiologie oder dem Einfluss der Hormone Östrogen, Progesteron, Oxytozin
oder Testosteron gibt. Strukturell besehen ist das Jungenhirn rund 10
Prozent größer und enthält mehr Neuronen. Das Mädchengehirn reift dagegen
schneller und ist um die Pubertät ein bis zwei Jahre dem der Jungs voraus.
Zudem ist der Gehirnbalken, der rechte und linke Gehirnhälfte verschaltet,
bei Frauen in der Regel größer.
Allerdings lassen sich aus all diesen Unterschieden keine typisch
weiblichen oder typisch männlichen Verhaltensweisen ableiten, das zeigt
etwa das Beispiel Sprachverarbeitung: Das weibliche Gehirn soll wegen des
dickeren Faserstrangs symmetrischer arbeiten und Frauen sprachgewandter
machen.
## Nicht wiederholbare Ergebnisse
So gab es etwa im Jahr 1995 eine vieldiskutierte [3][Nature-Studie in
Sachen Reimerkennung]. Hierbei wurden 19 weibliche und 19 männliche
ProbandInnen in den Gehirnscanner geschoben. Bei den männlichen Probanden
war bei dem Test der linksseitige Hirnvorderlappen aktiv, während bei 11
Frauen beide Gehirnhälften involviert waren.
„Viele nachfolgende Studien haben diese Arbeit aber nicht belegen können“,
meint [4][Sigrid Schmitz, Gender-Forscherin an der Universität in Wien].
Zudem habe die Studie wie viele andere Arbeiten zu dem Thema eine zu
geringe ProbandInnenzahl, um wirklich aussagekräftig zu sein.
Trotzdem würde vor allem aufgrund dieser Studie bis heute behauptet, dass
Frauen von Natur aus sprachbegabter seien, moniert Schmitz. Dabei sagt die
Dicke des neuronalen Verbindungskabels nicht viel aus: So haben etwa auch
beidhändige Musiker einen dickeren Faserstrang als unmusikalische
Zeitgenossen, wenn sie bereits in frühen Jahren mit dem Üben beginnen.
Es ist also vor allem die Umwelt, die das Gehirn prägt und formt, es gibt
keine auf alle Ewigkeit festgelegten Hirntypen, keine geschlechtspezifische
Hardware. Das hat die Wiener Wissenschaftlerin auch in einem
interdisziplinären Forschungsprojekt zur Raumorientierung gezeigt.
## Typisches Geschlechtsverhalten
Das Ergebnis: Die individuelle Erfahrung spielt für die Ausbildung von
räumlichen Strategien ebenso eine Rolle wie die Verbindung mit Sicherheits-
und Angstgefühlen. Beispielsweise könnten Kinder, die schon früh allein in
die Schule gehen, sich besser orientieren als Kinder, meist Mädchen, die
regelmäßig aus Sicherheitsgründen zur Schule gebracht werden.
„So kann man typisches Geschlechterverhalten anerziehen“, meint Schmitz.
Und das tun unbewusst auch viele Eltern: So hat eine Studie aus dem Jahr
2012 belegt, dass Eltern mit ihren 20 bis 27 Monate alten Babys
unterschiedlich sprechen. Jungs werden viel öfter auf mathematische Dinge
wie Formen oder Zahlen, etwa: wie viele Enten schwimmen in der Badewanne,
hingewiesen als Mädchen. Und die Stereotypisierung durch die Umwelt geht
weiter bei Büchern, im Spielzeugladen, in Frauenzeitschriften oder auf
Werbeplakaten.
Und all dies hinterlässt Spuren: „Das Gehirn ist ein Fluidum, es entwickelt
sich durch Interaktion mit der Umwelt“, meint [5][Cordelia Fine,
Psychologin an der Universität von Melbourne]. „Hirnscan-Studien machen
hingegen immer nur eine Momentaufnahme.“
Geschlechtsunterschiede, die sich aus hirnbiologischen Forschungsarbeiten
ableiten, sind also kaum belegt und taugen schon gar nicht dazu, den
Geschlechtern Rollen und Fähigkeiten zuzuweisen. Trotzdem sind heute viele
Menschen überzeugt, dass Frauen einfach besser zuhören und Männer
zielgenauer einparken können.
## Auf wackligen Füßen
Warum? Das liegt einmal daran, dass Forschungsarbeiten, die keine
Unterschiede feststellen, seltener oder weniger prominent in Fachjournalen
publiziert werden und damit seltener an die Öffentlichkeit gelangen. Zudem
versäumen es viele WissenschaftlerInnen, zu betonen, dass gefundene
Unterschiede oft sehr klein sind oder womöglich auch Folge von
Umwelteinflüssen, also erlernt.
Auch die Erklärungen für diese vermeintlich starken Unterschiede zwischen
Mann und Frau stehen zunehmend auf wackeligen Füßen.
Gerne wird etwa kolportiert, die Unterschiede im Gehirn und die daraus
resultierenden Fähigkeiten wären der Evolution geschuldet. So habe der Mann
einen so guten Orientierungssinn, da er in der Savanne nach langer Jagd
wieder nach Hause finden musste, während die Frau bemutternde Eigenschaften
besitzen müsse, um ihr einen Vorteil beim Aufziehen der Kinder zu gewähren.
Dabei scheint die Steinzeit-Frau nicht so sesshaft gewesen zu sein wie
angenommen. Sie hat sich laut neuester Studien als Sammlerin sehr viel
weiter von der Feuerstelle weggewagt als bislang vermutet – auch sie
brauchte also eine funktionierende Raumorientierung
## Neurosexismus pur
Obwohl sich einige NeurowissenschaftlerInnen schon von früheren, voreilig
gezogenen Schlussfolgerungen distanzieren, ist vor allem in der
populärwissenschaftlichen Literatur ein regelrechter Neurosexismus zu
beobachten, moniert Fine.
[6][Allan und Barbara Pease] behaupten etwa in ihrem Bestseller „Warum
Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“, dass Frauen überhaupt
keine Raumareale im Gehirn besäßen. Und dies ist keineswegs ein harmloses
Auf-die-Schippe-Nehmen der Geschlechter. Das Herunterrattern von
vermeintlich großen Geschlechtsunterschieden zementiere Stereotype und
beeinflusse das Verhalten und die Leistung, glaubt Cordelia Fine. So ist
das Lösen von Matheaufgaben bei Frauen abhängig davon, wie sie auf den Test
vorbereitet werden, in welchem Kontext so ein Test stattfindet.
Wird ihnen etwa gesagt, dass es genetische Unterschiede beim
Matheverständnis gäbe oder ist der Testraum voller Männer, oder auch wenn
die Probandinnen nur ein Häkchen bei Mann oder Frau machen müssen,
schneiden sie schlechter ab, als wenn es keine sogenannte
Stereotypbedrohung gibt.
## Das Einpark-Problem
Ähnliches belegte eine Studie der Ruhr-Universität im Jahr 2010: Frauen
parkten im Durchschnitt nicht so gekonnt ein wie Männer ein, aber
selbstbewusste Frauen schnitten ebenso gut ab wie das männliche Geschlecht.
Aber warum ziehen sich vor allem auch Frauen, ohne aufzumucken, dieses
mentale Korsett an? Warum leben so viele moderne Paare wie eine spießige
Kleinfamilie, in der die Frau für Küche und Kinder zuständig ist, während
der Mann zumindest den Großteil des Einkommens anschafft?
Die australische Wissenschaftlerin Fine glaubt: „Frauen nehmen das auch
gern an, weil sie sich dann nicht mit den sozialen Strukturen
auseinandersetzen müssen, keine ständigen Konflikte vom Zaun brechen
wollen. Es ist einfacher, Rollen als naturgegeben hinzunehmen.“
Gerade in Zeiten der wirtschaftlichen Krise, in der große Teile der
Mittelschicht sich vor einem sozialen Absturz fürchten, werden tradierte
Rollen anscheinend kaum mehr hinterfragt.
1 Jul 2013
## LINKS
[1] http://www.psych.rochester.edu/people/reis_harry/index.html
[2] http://www.psych.rochester.edu/people/reis_harry/assets/pdf/CarothersReis_2…
[3] http://www.nature.com/nature/journal/v373/n6515/abs/373607a0.html
[4] http://www.sigrid-schmitz.de/
[5] http://cordeliafine.com/
[6] http://www.peaseinternational.com/Body%20Language,%20Communication,%20Commu…
## AUTOREN
Kathrin Burger
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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