# taz.de -- Hirnforscher über das Gedankenlesen: „Denken ist immer elektrisc… | |
> Gedankenlesen ist möglich. Es ist nur eine Frage, wie viele Elektroden | |
> man am Gehirn anbringt, meint Neurobiologe Nils Birbaumer. | |
Bild: Damit einem ein Licht aufgeht, benötigt es elektrische Impulse | |
taz am wochenende: Herr Birbaumer, können Sie Gedanken lesen? | |
Niels Birbaumer: Nein, leider nicht. Ich wollte, ich könnte. Wir können im | |
Moment nur die Antworten auf einfache Fragen aus dem Gehirn eruieren. Und | |
wir können vollständig Gelähmte dazu bringen, mit dem Gehirn Buchstaben | |
auszuwählen und damit Sätze zu bilden. | |
Was passiert denn überhaupt im Gehirn, wenn wir denken? | |
Das ist ziemlich kompliziert. Aber letztlich passiert das, was schon die | |
alten Griechen erkannt haben: Es werden zwischen den verschiedenen Zellen | |
im Gehirn assoziative Verbindungen hergestellt. Wenn Sie zum Beispiel vor | |
einer Mauer stehen und Sie sehen einen Rüssel, der über die Mauer reicht, | |
dann assoziieren Sie mit dem Rüssel sofort einen Elefanten, weil niemand | |
sonst einen Rüssel hat. Die Ansicht des Rüssels löst im Gehirn automatisch | |
das Bild des gesamten Elefanten aus. Oder wenn Sie sagen: „Ich gehe“, dann | |
entsteht Erregung in den Arealen des Gehirns, in denen das Gehen gesteuert | |
wird. Man nennt das assoziatives Netzwerk, so funktioniert das Gehirn und | |
alles Denken. | |
Und wie kann man das messen? | |
Denken ist prinzipiell immer elektrisch. In dem Moment, in dem wir denken, | |
wird durch das Feuern der Zellen Energie verbraucht. Ein paar Sekunden | |
später fließt dann Blut, vor allem Zucker und Sauerstoff, in diese Zellen. | |
Dieser Nährstoff stellt das Gleichgewicht wieder her. Die Durchblutung kann | |
man an der Schädeloberfläche messen, mit der Nahinfrarotspektroskopie | |
(NIRS) oder der Kernspintomografie (MRT). Mit der Elektroenzephalografie | |
(EEG) messen Sie die elektrische Aktivität vieler Millionen Nervenzellen | |
gleichzeitig, können aber nicht genau sagen, aus welchen Zellen die | |
Aktivität kommt. Aber wenn Sie den Gedanken in den einzelnen Zellen selbst | |
messen, was sehr viel genauer ist, können Sie das nur elektrisch oder | |
magnetisch. | |
Denken ist also wirklich Sport? | |
Natürlich! Nur ohne Bewegung, es ist sozusagen Bewegung im Stillstand. 30 | |
Prozent Energie verbraucht das Gehirn, wenn Sie nicht einmal besonders | |
aktiv sind. Wenn Sie zum Beispiel eine neue Sprache lernen, wird der | |
Energieverbrauch noch mal deutlich erhöht. Das Gehirn ist das Organ im | |
Körper, das angesichts seiner geringen Größe verhältnismäßig am meisten | |
Energie verbraucht. | |
Sie sind der erste Wissenschaftler, der es geschafft hat, mit | |
„Locked-In-Syndrom“-Patienten in Kontakt zu treten – also Menschen, die | |
wegen eines Schlaganfalles oder der Nervenkrankheit ALS komplett gelähmt | |
sind und nicht mehr kommunizieren können, während ihr Gehirn nach wie vor | |
funktioniert. Wie machen Sie das? | |
Bei manchen dauert es Jahrzehnte, bis sie vollständig gelähmt sind, | |
[1][Stephen Hawking] war es selbst am Ende seines Lebens nicht. Für | |
Menschen, die ihre Augen noch bewegen können, gibt es sogenannte | |
Eye-Tracker zur Kommunikation. Damit kann man Buchstaben und Wörter aus | |
einem Computermenü mit Augenbewegungen auswählen und damit fast genauso | |
schnell kommunizieren, wie wir Gesunde das tun. Das Problem, mit dem wir | |
uns beschäftigt haben, tritt eben dann auf, wenn die Augen nicht mehr | |
funktionieren, oder so schlecht, dass die Eye-Tracker nicht mehr | |
ansprechen. Eingeschlossene Patienten sind außerdem oft schon nach wenigen | |
Minuten so müde mit den Augen, dass sie das nicht mehr schaffen. Dann | |
können sie nur noch mit dem Gehirn kommunizieren, weil sie ja keinen | |
anderen Muskel mehr haben, mit dem sie eine Nachricht an die Umgebung | |
abgeben können. | |
Und wie kommuniziert man mithilfe seines Gehirns? | |
In speziellen Fällen müssen wir die Schädeldecke öffnen – wenn der Patient | |
oder die Angehörigen das wollen – und dann stechen wir Elektroden in das | |
Gehirn ein. So können wir die Antworten aus den Zellen direkt registrieren. | |
Da bekommt man natürlich die beste Antwort, aber das kann man nicht mit | |
jedem machen. Bei älteren, sehr kranken Leuten ist das sehr riskant. | |
Ansonsten sind wir auf das angewiesen, was an der Schädeloberfläche an | |
Elektrizität oder Blutfluss ohnehin rauskommt. Das kann man im Moment nur | |
mit dem EEG oder der Nahinfrarotspektroskopie messen, also dem Blutfluss im | |
Gehirn, oder mit dem Kernspintomografen, aber der ist viel zu groß und zu | |
teuer, um ihn zum Patienten zu transportieren. | |
Angenommen, der Patient bekommt so einen Chip ins Gehirn eingepflanzt. Wie | |
funktioniert das? | |
Der Patient sieht oder hört bestimmte Buchstaben. Zum Beispiel zuerst „E“, | |
weil das am häufigsten im Deutschen vorkommt, dann „B“ und so weiter. Und | |
wenn der richtige Buchstabe kommt, dann denkt er sich was. Er kann etwa | |
denken: „Jetzt will ich“, oder er stellt sich was vor, zum Beispiel eine | |
Handbewegung, andere sagen sich einfach: „Klick“, als ob sie eine | |
Computermaus in Gedanken bedienen, und dann feuern die Zellen, in denen | |
sich die Elektroden befinden. Und das benutzen wir, um den Buchstaben | |
auszuwählen. | |
Jeder Patient denkt sich also ein eigenes Codewort aus, damit der Computer | |
anspringt? | |
Jeder hat seine eigene Art. Wenn Sie „Ja“ denken oder „Jetzt“, dann mac… | |
Sie das ganz anders als ich. An einer ganz anderen Stelle, mit anderen | |
Zellen. Aber wir haben ja mindestens hundert Elektroden, und da können wir | |
immer ein paar Zellen finden, die antworten. Und wenn ein korrektes Wort | |
geformt wird, dann wissen Sie auch, dass die Antwort aus dem Hirn korrekt | |
war. | |
Muss man sich das so vorstellen, dass den Patienten Tag und Nacht | |
Buchstaben vorgelesen werden? Das wäre ja schrecklich. | |
Nein, es gibt einen Befehl, dass sie jetzt kommunizieren wollen. Und genau | |
wie bei Ihrem iPhone lernt der Computer. Nach einiger Zeit weiß er also | |
nach zwei Buchstaben, welches Wort Sie meinen. | |
In einem Artikel über Ihre Arbeit mit Locked-In-Patienten wird beschrieben, | |
dass sich der Sauerstoffgehalt im Gehirn verringert, wenn der Patient | |
„Nein“ denkt. Denkt er an „Ja“, wird das Gehirn hingegen besser | |
durchblutet. | |
Bei den meisten ist das so, aber nicht bei allen. | |
Heißt das, Ja sagen ist anstrengender als Nein sagen? | |
Nein. Aber ich könnte mir vorstellen, dass eine affirmative Feststellung | |
ein sehr viel stärkeres assoziatives Umfeld hat. Mit „Ja“ sind meistens | |
sehr viel mehr Dinge assoziiert als mit „Nein“, und dann sind natürlich | |
mehr Hirnzellen aktiviert, was zu einer verstärkten Durchblutung führt und | |
das wiederum zu einem verstärkten Sauerstoffbedarf. Auf der anderen Seite | |
haben wir auch Patienten, bei denen es genau umgekehrt ist. Die haben bei | |
„Nein“ eine verstärkte Durchblutung. Und beim einen ist es in der vorderen, | |
linken Seite des Gehirns, beim anderen in der rechten. Das ist individuell | |
sehr verschieden. | |
Wenn Denken so individuell ist, ist Gedankenlesen, das für alle | |
funktioniert, doch eigentlich undenkbar. | |
Nein, überhaupt nicht. Das ist nur eine Frage der Elektrodenzahl, die Sie | |
im Gehirn platzieren. Und die Zahl der Antworten, die Sie aus dem Gehirn | |
herausfiltern möchten. Wenn Sie das Ja und Nein ausweiten, brauchen Sie | |
einfach ein Mehr an Ableitungen. Und natürlich können Sie im Prinzip | |
Gedanken lesen, wenn Sie eine Million Elektroden haben, wie das [2][der | |
Herr Elon Musk] jetzt versucht. Wir ja auch, aber mit viel weniger Geld. | |
Dann könnten Sie in der Sprachregion auch ganze Worte lesen. Aber über 100 | |
sind wir bisher nicht hinausgekommen. | |
Facebook arbeitet seit Frühjahr 2017 daran, Gedanken in Schrift | |
umzuwandeln, Wissenschaftler versuchen seit Jahren, Träume zu lesen, und | |
Elon Musk will mit seinem Unternehmen Neuralink Gedanken lesen. Liegt das | |
im Bereich des Möglichen? | |
Das, was der Herr Musk will, ist schon denkbar. Die wollen ja, dass mit der | |
Nahrung Elektroden oder elektrodenähnliche Substanzen aufgenommen werden, | |
die sich dann im Gehirn festsetzen und sozusagen von den Blutgefäßen oder | |
den Zellen – wenn sie denn mit Energie versorgt werden können – ihre | |
Nachrichten nach außen senden. Also zum Beispiel, wann die Zelle feuert und | |
wann nicht. Mehr brauchen wir ja nicht zu wissen. Nur, wann eine Zelle | |
feuert und wie der Zusammenhang mit anderen Zellen in der Umgebung ist. | |
Daraus kann man dann schon die wesentlichen Dinge rauslesen. Zurzeit ist | |
das aber rein futuristisch, und in keinem demokratischen Land kann er dafür | |
eine Genehmigung erhalten. | |
Kann man eigentlich auch nichts denken? | |
Na ja, ich habe darüber ja ein ganzes Buch mit meinem Freund Zittlau | |
geschrieben („Denken wird überschätzt“), das versucht, Ihre Frage zu | |
beantworten. Aber ich komme auch zu keinem wirklichen Resultat. Wir haben | |
nur verschiedene Situationen aufgezählt, in denen der Denkapparat relativ | |
still ist. Der vordere Hirnteil, der das Denken wesentlich steuert, also | |
bewusstes Denken, wenn der abgetrennt ist vom hinteren, vom wahrnehmenden | |
Hirnteil, dann scheint es so zu sein, dass zumindest die Anzahl der | |
Gedanken nachlässt. Das weiß man in kulturhistorischen Zusammenhängen schon | |
seit Langem. Das ist ja genau das, was die ostasiatischen | |
Meditationstechniken machen, die wollen auch in einen denkfreien Zustand | |
gelangen. | |
Aber es funktioniert offenbar nur bedingt. | |
Ein Teil der Nervenzellen des Gehirns ist immer aktiv, egal ob Sie | |
schlafen, wach sind, bewusstlos sind. Ein Teil ist Ihr ganzes Leben still | |
und wird nur in bestimmten Notsituationen aktiviert. Es ist immer nur ein | |
relatives Weniger oder ein relatives Mehr. Aber erst im Hirntod kann man | |
sagen, dass keine Gedanken mehr ablaufen. | |
5 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Franziska Seyboldt | |
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