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# taz.de -- Experte über Lernen: „Das Hirn ist ein Sozialorgan“
> Wie lernt das Gehirn? Erziehungswissenschaftler André Frank Zimpel über
> Montessori-Pädagogik, Aufmerksamkeitsspannen und Bulimielernen.
Bild: Lernen findet überall im Hirn statt
taz am wochenende: Herr Zimpel, welche Hirnregionen brauchen wir, um gut zu
lernen?
André Frank Zimpel: Alle, weil Lernen in jeder Zelle verortet ist. Überall,
wo Netzwerke sind, passiert Lernen.
Aber einige Regionen sind doch besonders wichtig?
Ja richtig, der Hippocampus ist zum Beispiel besonders beteiligt, wenn es
darum geht, Dinge aus dem Gedächtnis abzurufen und zu verankern. Der
Hippocampus ist wahrscheinlich der älteste Teil unseres Gehirns. Zum
Beispiel hat man bei der [1][Drosophila-Fliege], dem Haustier der
Genetiker, Gene gefunden, die für die Bildung des Hippocampus
verantwortlich sind. Wenn zwei Dinge zusammenkommen, ein elektrisches
Signal und ein Neurotransmitter, meistens ist das Glutamat, dann werden in
dieser Hirnregion Verbindungen gestärkt oder neu gebildet.
Lernen ist nicht mehr möglich, wenn der Hippocampus beschädigt ist?
Es erschwert das explizite Lernen oder macht es unmöglich.
Was bedeutet explizites Lernen?
Wenn wir etwas ganz bewusst lernen. Bei einem meiner Patienten wurden durch
einen Unfall beide Hippocampi so stark verletzt, dass er in einigen Minuten
alles wieder vergisst. Wir haben mit diesem Patienten geübt, einen
Elektrorollstuhl zu fahren. Er hat sich jedes Mal überschwänglich bedankt,
nach unserem Namen gefragt. Am nächsten Tag war alles schon wieder weg.
Aber er hat trotzdem noch gelernt, denn es ging mit der Bedienung immer
schneller. Wir mussten es immer wieder erklären, aber er hat es in immer
kürzerer Zeit verstanden. Ein implizites Lernen, also ein unbewusstes
Lernen, fand also noch statt.
Sie sprachen gerade von dem Botenstoff Glutamat. Welche Neurotransmitter
sind noch wichtig?
Zum einen das Acetylcholin, es fokussiert auf bestimmte Inhalte. Sie kennen
wahrscheinlich [2][das Experiment] mit zwei Mannschaften in weißen und
schwarzen Trikots, die sich Bälle zuwerfen. Die Zuschauer werden
aufgefordert, zu zählen, wie oft die Weißen den Ball in der Hand haben.
Dann geht eine Person in einem schwarzen Gorillakostüm durch die Szene. Die
meisten Menschen sehen die Person aber nicht. Das nennt man
Aufmerksamkeitsblindheit.
Aufmerksamkeit ist ganz wichtig für konzentriertes Lernen. Dopamin ist für
begeistertes Lernen verantwortlich, auch wenn es Schwierigkeiten gibt, das
machen schon kleine Kinder und Babys. Neurotransmitter sind immer mit
Emotionen verbunden. Wenn wir gut lernen wollen, sollten wir es immer mit
Emotionen verbinden. Das gilt auch für Stress. Unter Stress lernen wir
paradoxerweise ziemlich gut.
Das ist aber doch kein nachhaltiges Lernen?
Sicher nicht, man erinnert sich nämlich nicht nur ans Gelernte, sondern
auch an die Emotionen. Darum heißt es Bulimielernen, weil man versucht,
schnell zu vergessen. Nachhaltiges Lernen ist immer mit positiven Emotionen
verbunden. Wir erinnern uns dann gern und jedes Erinnern festigt wieder das
Gelernte.
Vielen fällt es aber schwer, positive Emotionen beim Lernen zu schaffen.
Daher ist Spielen so entscheidend. Im freiwilligen Spiel lernen wir am
besten. Das hat ja schon Maria Montessori entdeckt. Sie nannte es die
Polarisation der Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, sich intensiv zu
konzentrieren, wenn Kinder ihre Lerngegenstände frei wählen können. Das
passiert natürlich meist unter der Anleitung von Erwachsenen. Kinder sind
weder über- noch unterfordert, weil sie sich das wählen, was sie
herausfordert und voranbringt.
Bei Erwachsenen ist die Fähigkeit oft verschüttet. Die Montessori-Pädagogik
ist weltweit herausragend. Die Gründer von Google – und ich glaube, auch
der Gründer von Amazon – sind ehemalige Montessori-Schüler. Im Spiel
erlernen Kinder außerdem die Selbsteinschätzung. Der wichtigste Punkt beim
Lernen ist die Selbsteinschätzung, das hat die [3][Hattie-Studie], die
größte Bildungsstudie weltweit, entdeckt.
Gibt es eigentlich verschiedene Lerntypen? Wenn zum Beispiel ein visueller
Typ vor allem visuelle Sinneskanäle nutzt?
Die Sinne tragen nur wenig zum Lernen bei. Wir haben immer noch die
Vorstellung, da ist die Welt draußen und die ziehen wir uns über die Sinne
in das Gehirn hinein. So passiert Lernen aber nicht. Es ist genau
umgekehrt. Es passiert über Fantasie. Wir machen uns in der Fantasie ein
Bild von der Welt und überprüfen es. Man kann sich gar nicht vorstellen,
wie wenig wir sehen würden, wenn wir nur die Signale von den Augen hätten.
Die meisten Informationen beziehen wir aus dem Gedächtnis. Das ist unser
Fantasiebild von der Welt, und die Sinne überprüfen hin und wieder, ob
dieses Bild noch gültig ist. Wir sind immer weniger auf die Sinne
angewiesen, wenn wir uns kognitiv entwickeln. Lernen ist eine Befreiung von
den Sinnen.
Wir lernen also auf unterschiedliche Weise?
Ja. Zum einen gibt es Menschen, die ihre Fantasie vor allem über die
Sprache aufbauen. Als Kinder haben sie viele Selbstgespräche geführt. Sie
machen sich ein Bild von der Welt, indem sie innere Selbstgespräche führen.
Die lernen am besten, wenn sie sich Notizen machen und sich etwas
aufschreiben?
Nicht unbedingt. Vor allem sollten sie sprechen. Das sind Menschen, die zu
jemanden reden, aber einen gar nicht meinen, weil sie ihre Gedanken
sortieren. Um hinterher klar zu sein. Sie nutzen die Lautsprache. Die
Schriftsprache ist schon wieder kompliziert, weil Buchstaben auch Bilder
sind. Ein weiterer Typ ist mehr visueller Natur und macht sich vor allem
filmartige Vorstellungen. Das sind Menschen, die konkrete Vorstellungen
haben, wie etwas aussehen und wie sich etwas anfühlen muss.
Gibt es noch eine dritte Gruppe?
Ja, das sind Menschen, die vor allem Muster bilden. Sie machen sich von
einem Prinzip, einer Formel oder einer Melodie abstrakte Vorstellungen.
Also mathematische Typen?
Ja, mathematisch-musikalische. Sie können zum Beispiel gut Melodien
erfassen oder mathematische Strukturen. Sie müssen sich einen Überblick
über die Struktur des Lerninhalts verschaffen. Bildliche Denker und
Denkerinnen sollten sich ein konkretes Bild machen. Wenn sie eine Sprache
lernen, bräuchten sie ein Wörterbuch mit Bildern. Für Sprachdenkende ist
das klassische Wörterbuch besser. Für sie wäre auch ein Wörterbuch mit
Umschreibungen gut. Musterdenkende wiederum würden eher mit Grammatik
arbeiten und die passenden Wörter einsetzen. Aber all diese Lerntypen haben
aber nichts mit den Sinnen zu tun. Blinde Menschen können bilddenkend und
Gehörlose Personen können sprachdenkend sein.
Einer Ihrer Schwerpunkte sind Lernschwierigkeiten. Wie lernen zum Beispiel
Menschen mit Trisomie 21?
Weil sie einen kleineren Aufmerksamkeitsumfang haben, bekommen sie immer
nur die Hälfte mit. Wenn wir die Buchstaben V und W vergleichen, sehen wir
beim V zwei Striche und beim W vier Striche. Das sehen wir auf einen Blick,
weil wir in einer Viertelsekunde vier Dinge auffassen. Hätte ich jetzt 47
Chromosomen in jeder Zelle, würde ich nur zwei Striche simultan erkennen
können und müsste bei dem V und dem W zwei Mal hinschauen. Nach unserem
Standard erscheinen uns Menschen mit Trisomie 21 als geistig behindert. Das
ist aber kein unabwendbares Schicksal, denn es gibt Menschen mit Trisomie
21, die einen Uniabschluss haben. Der Ökonom [4][Francesco Aglio] hat sogar
promoviert.
Müssen sie also doppelt so lange lernen?
Doppelt macht nicht besser. Das ist ähnlich wie bei Gehörlosen, die früher
Lippenlesen lernten. Dabei bekommt man auch nur etwa die Hälfte mit. Sie
galten daher als schwachsinnig. Seitdem sie die Gebärdensprache nutzen,
machen gehörlose Studierende genauso gute Abschlüsse wie Hörende. Ich muss
nur dafür sorgen, dass immer Dolmetscher da sind. Irgendwann werden wir
auch wissen, was Menschen mit Trisomie 21 hilft. Einige Dinge wissen wir
schon. So lernen zwei Jahre alte Kinder, bevor sie sprechen können, nach
der Ganzwortmethode lesen.
Wie funktioniert die Ganzwortmethode?
Man fängt an, mit den Zweijährigen Bilder zu sortieren, gleich und
ungleich, und sortiert dann geschriebene Wörter nach gleich und ungleich.
Dabei nimmt man Wörter, für die sich Kinder interessieren, die sie
begeistern. Dann sprechen sie die Wörter und schauen sich das geschriebene
Wort an und bekommen so ein Gefühl für das ganze Wort. Das flüchtig
gesprochene Wort können sie schwer greifen.
Wenn ich ein Kind mit Trisomie 21 auffordere, das Wort Universität zu
sagen, sagt das Kind „Tität“ und ist total glücklich. Ein Mädchen stand
einmal in der Uni vor einer Wand mit Bildern von Tieren und es rief immer
Affe und zeigte auf die Wand. Da waren aber nur Krokodile, Dromedare, Kühe,
aber kein Affe. Bis jemand darauf kam, dass sie Giraffe meinte. Wir haben
vor Kurzem eine Mathe-App für Menschen mit Trisomie 21 entwickelt, mit der
sie Zahlvorstellungen entwickeln können. So verstehen sie abstrakte
Beziehungen zwischen Zahlen.
Was können wir von Menschen mit Trisomie 21 lernen?
Dass auch wir eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne besitzen, also vier
Dinge in einer Viertelsekunde aufnehmen. Der größte Aufmerksamkeitsumfang,
den ich je gemessen habe, lag übrigens bei 37 in einer Viertelsekunde.
Ähnlich wie bei [5][Stephen Wiltshire], der einmal über Rom fliegt und ein
Panoramabild der Stadt aus dem Gedächtnis malt. Wir lernen von Menschen im
Neurodiversitätsspektrum, dass die Aufmerksamkeitsspanne und wie sie
berücksichtigt wird, darüber entscheidet, wie sich meine Intelligenz
entwickelt.
Welcher Faktor hat den meisten Einfluss auf gutes Lernen?
Das soziale Umfeld. Unser Gehirn ist vor allem ein Sozialorgan. Was uns zum
Lernen motiviert und uns möglichst wenig Abkürzungen gehen lässt, sind
andere Menschen. Am besten für das Lernen sind inspirierende Menschen.
Martin Buber hat das einmal schön gesagt: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“
9 Jan 2020
## LINKS
[1] /Die-Fruchtfliege-und-die-Wissenschaft/!5494593
[2] https://www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-der-unsichtbare-gorilla-1.27…
[3] https://visible-learning.org/de/hattie-rangliste-einflussgroessen-effekte-l…
[4] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-07/inklusion-chancengle…
[5] https://www.stephenwiltshire.co.uk/
## AUTOREN
Angelika Sylvia Friedl
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Gehirn
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