# taz.de -- Ganz schön plastisch: „Das Gehirn ist nie fertig“ | |
> Verhaltens- und Denkmuster lassen sich noch im hohen Alter ändern, sagt | |
> der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther. | |
Bild: "Wenn ein Mensch immer wieder dieselbe Erfahrung macht, entsteht eine inn… | |
taz: Herr Hüther, wann ist das menschliche Gehirn fertig? | |
Gerald Hüther: Ich hoffe, nie. Das ist ja eine der schönen, Mut machenden | |
Erkenntnisse aus der Neurobiologie: dass es möglich ist, bis ins hohe Alter | |
neue Vernetzungen im Gehirn aufzubauen. Sogar Nervenzellen werden noch | |
nachgebildet. Und damit besteht die Hoffnung, dass man bis ins hohe Alter | |
die eingefahrenen Denkmuster verlassen und Neues lernen kann. Das nennt man | |
Neuroplastizität. | |
Kennt die Wissenschaft die schon lange? | |
Man hat in den 1990ern erstmals festgestellt, dass auch Erwachsenenhirne | |
neue Vernetzungen ausbilden – und zwar bei Menschen, denen man Extremitäten | |
amputiert hatte. Da entstand zur Steuerung des verbleibenden Arms oder | |
Beins ein Netzwerk im Hirn, das vorher nicht da war. Auch bei Erwachsenen, | |
die etwas Neues lernten, fand man bald neue Vernetzungen. Selbst bei | |
Senioren. Von da an war klar, dass das Gehirn bis ins hohe Alter neue | |
Netzwerke bilden kann. | |
Eine späte Entdeckung. | |
Ich fürchte, dass Wissenschaft immer auch gesellschaftliche Bedürfnisse | |
befriedigt. Und im vorigen Jahrhundert hatte man mehr Interesse daran, dass | |
im Kopf alles fix und fertig ist. Man glaubte auch, dass unveränderliche | |
genetische Prägungen unser Verhalten steuern. Diese Vorstellung war für die | |
Besitzstandswahrergesellschaft des vorigen Jahrhunderts sehr attraktiv. | |
Befriedigen Ihre Erkenntnisse nicht auch ein gesellschaftliches Bedürfnis? | |
Im alternden Westen dürfte es im allgemeinen Interesse sein, Senioren für | |
lange lernfähig zu erklären. | |
Die Neuroplastizität bis ins hohe Alter passt durchaus in den Trend – nicht | |
nur in Bezug auf die demografischen Veränderungen. Sie passt auch zu den | |
neuen Anforderungen im Beruf. Auch dort werden inzwischen eher Menschen | |
gesucht, die nicht ein Leben lang dasselbe tun. Und es passt in das, was | |
wir in Schulen erwarten sollten: dass Kinder die Chance bekommen, ihre | |
Talente zu entfalten. | |
Hat jedes Gehirn dasselbe Potenzial? | |
Theoretisch ist zumindest jeder fähig, Dinge zu entwickeln, die man ihm | |
bislang nicht zutrauen würde. Das beeindruckendste Beispiel ist die | |
Tatsache, dass inzwischen die ersten Kinder mit Trisomie 21 Abitur gemacht | |
haben. Ob der Einzelne aber tatsächlich Potenzialentfalter wird, hängt von | |
seinen Erfahrungen ab. | |
Inwiefern? | |
Kinder sind am Anfang des Lebens unglaublich offen und legen viel mehr neue | |
Netzwerke im Gehirn an als jemals später. Wenn diese Entdeckerfreude in der | |
Schule verschwindet, liegt das nicht am Hirn, sondern an dort gemachten | |
ungünstigen Erfahrungen. Daraus entwickelt sich dann eine Haltung wie: | |
„Mathe liegt mir nicht.“ | |
Sie haben mal gesagt, dass sich Erfahrungen bis auf die genetische Ebene | |
auswirken. | |
Wenn Sie eine Erfahrung machen, die Ihnen unter die Haut geht, werden im | |
Hirn emotionale Zentren aktiviert. Die setzen Botenstoffe frei, die dazu | |
führen, dass bislang ungenutzte genetische Sequenzen aktiviert und Eiweiße | |
hergestellt werden, die für den Aufbau neuer Nervenzell-Verknüpfungen im | |
Gehirn gebraucht werden. | |
Es gibt das Bild von der eingefahrenen Nerven-„Autobahn“ und dem „schmalen | |
Pfad“. | |
Das Bild müsste man modifizieren. Es werden ja beim Baby im Gehirn viele | |
winzige Straßen angelegt. Das heißt, zu Beginn der Hirnentwicklung werden | |
Überangebote für Vernetzungen bereitgestellt. Manche Verknüpfungen werden | |
oft genutzt, diese Bahnen werden dicker. Die anderen werden stillgelegt. | |
Stabilisiert wird etwas vor allem dann, wenn der Betreffende sich über | |
etwas, was er gelernt hat, besonders freut – etwa darüber, dass er ein | |
Problem bewältigt hat. | |
Also Freude- statt Verhaltenstherapien, um Menschen zu ändern? | |
Ein Verhaltenstherapie reicht nicht, und die alleinige Arbeit mit der | |
Emotion auch nicht. Das hat die Vergangenheit ja gezeigt: Da hat man | |
versucht, das Verhalten von Menschen durch Belohnung und Bestrafung zu | |
ändern. Also durch Ziehen und Drücken. Ich nenne es Dressur. | |
Was schlagen Sie vor? | |
Neuere Untersuchungen zeigen: Das Verhalten eines Menschen ist Ausdruck | |
einer inneren Einstellung. Bisher hat man dies als Charakterzug betrachtet | |
und gesagt, diese Persönlichkeit ist eben so. Jetzt wird klar: Unsere | |
inneren Haltungen entstehen durch die Erfahrungen, die wir im Lauf des | |
Lebens machen. Und bei jeder Erfahrung werden im Hirn zwei Netzwerke | |
gleichzeitig aktiviert: ein kognitives und ein emotionales. Diese beiden | |
Netzwerke verkoppeln sich, und wenn ein Mensch immer wieder dieselbe | |
Erfahrung macht, verdichten sie sich, und es entsteht eine innere Haltung. | |
Wie lässt sich die verändern? | |
Das kann man nicht erzwingen. Man kann Menschen nur einladen, ermutigen und | |
inspirieren, eine andere, günstigere Erfahrung machen zu wollen. | |
Ging es um neue Erfahrungen, als Sie mit Ende 20 aus der DDR flüchteten? | |
Ich bin 1979 mit einem selbst gefälschten Ausreisevisum nach Jugoslawien | |
ausgereist. An diesem Vorhaben habe ich ein Jahr lang gearbeitet, habe | |
gelernt, wie man Stempel fälscht. Der eigentliche Grund für den Entschluss | |
war, dass ich zu den Menschen gehöre, die man nicht gut einsperren kann. | |
Das mag mit meiner Kindheit zusammenhängen. | |
Inwiefern? | |
Ich bin auf dem Land in einer Wassermühle groß geworden – mit vielen | |
Cousins und Cousinen – und habe erfahren, wie schön es ist, gemeinsam Dinge | |
zu gestalten. Im Lauf von Schulzeit und Studium in der damaligen DDR sah | |
ich dann, wie begrenzt die realen Möglichkeiten waren. So stand ich vor der | |
Frage: Entweder du trittst in die Partei ein und machst dort mit – denn | |
anders lässt sich nichts bewegen – oder du haust ab. In die Partei wollte | |
ich auf keinen Fall. | |
Gab es einen Anlass? | |
Ja. Ich habe 1977 miterlebt, wie Freunde von mir als 27-jährige | |
Assistenzärzte darüber entscheiden mussten, wer in Leipzig an die | |
künstliche Niere kam – und wer starb. Es gab nur eine Dialyse, weil der | |
Staat angeblich nicht genug Devisen hatte, um eine zweite zu kaufen. Er | |
hatte aber genug Devisen, um ein großes internationales Jugendsportfestival | |
zu organisieren. | |
Haben Sie irgendwen in Ihre Fluchtpläne eingeweiht? | |
Davon kann man niemandem etwas sagen, ohne ihn zu gefährden. Nach meiner | |
Flucht sind meine Angehörigen ja von den DDR-Behörden verhört worden, und | |
es war ein großes Glück, dass sie nichts wussten. | |
Haben Sie Ihre Eltern wiedergesehen? | |
Vier, fünf Jahre später. Die BRD gab der DDR Kredite, die an eine Amnestie | |
für die Flüchtlinge gekoppelt waren. Nachdem man mir versichert hatte, dass | |
ich rüberfahren kann, habe ich es getan. Mit zitternden Knien, aber es ist | |
gut gegangen. | |
Inzwischen diskutieren Sie öffentlich mit dem Dalai Lama. Bestätigen die | |
Neurowissenschaften buddhistische Erfahrungen? | |
Wenn eine Disziplin wie die Hirnforschung Entdeckungen macht, die | |
Erfahrungen bestätigen, die Menschen schon vor 3.000 Jahren gesammelt | |
haben, dann halte ich dieses Erfahrungswissen für etwas, das man sehr ernst | |
nehmen sollte. Deshalb freue mich darüber, dass jetzt auch die moderne | |
Wissenschaft nachweisen kann, was unsere Ahnen schon wussten. Ich bin sogar | |
der Meinung, dass sich Wissenschaft nicht nur dadurch legitimiert, dass sie | |
Neues findet. Es ist vielleicht auch Aufgabe von Forschern, etwas | |
wiederzufinden, was wir verloren haben. | |
19 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
Petra Schellen | |
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