# taz.de -- Streit um Genderstudies: Biologistische Grenzziehungen | |
> Die Unterstellungen sind bekannt: Genderstudies sind unwissenschaftlich. | |
> Das „Zeit-Magazin“ versucht diese Debatte neu zu entfachen – eine Repli… | |
Bild: Es sind nicht die Hormone allein, die die Zukunft bestimmen. | |
Wir haben wieder eine „Gender-Debatte“. Die Wochenzeitung [1][Die Zeit] | |
meint derzeit mit der Diskreditierung der Genderstudies als „Glaube“, gar | |
„Antiwissenschaft“ Auflage machen zu können. | |
In den Weiten der Social Media empören sich aufgebrachte Menschen auf meist | |
wenig zivilisierte Weise über die angebliche Gehirnwäsche durch Gender, die | |
vermeintliche Verschwendung aberwitziger Summen öffentlicher | |
(Steuer-!)Gelder für Gender, über die angebliche Profilierungssüchtigkeit | |
der „Genderfrauen“ – so der Kolumnist Harald Martenstein, ansonsten bekan… | |
für sein Engagement zur Rettung der Berliner Gaslaternen, im | |
[2][Zeit-Magazin] – und über den Untergang von Bildung, Kultur und | |
Abendland durch Gender. | |
Was aber ist das, dieses ominöse Gender? Die Genderstudies liefern auf | |
diese Frage nicht keine, aber keine eindeutige Antwort. Gender meint | |
zunächst eine Grenzziehung, die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen. | |
Diese Grenzziehung halten wir im Alltag und seit der modernen | |
Verwissenschaftlichung der Welt für biologisch gegeben. | |
Dieser Annahme folgen durchaus Teile der Genderstudies, etwa wenn sie | |
beforschen, welche Männer und welche Frauen mit welchen Optionen arbeiten, | |
wie sie ihre Freizeit verbringen, welchen – geschlechtsspezifischen – | |
Krankheitsrisiken sie jeweils wie begegnen oder wie sie in den Medien | |
dargestellt und wie sie sozialisiert werden. Und sie tun dies durchaus auch | |
mithilfe naturwissenschaftlicher Methoden. | |
Nun ist, aller Meinung zum Trotz, Wissenschaftlichkeit allerdings mehr als | |
naturwissenschaftliche Methode. Die forschende Auseinandersetzung mit allen | |
Bereichen der Welt – Menschen inklusive – bringt es mit sich, dass man sich | |
dabei mit von Menschen (mindestens mit-)erzeugten Phänomenen | |
auseinandersetzen muss. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit | |
Gender gilt dies im besonderen Maße. | |
Zugleich ist kaum eine Leitdifferenz der Gegenwart derart eng geknüpft an | |
ein biologisches, genauer: biologistisches Verständnis. Seit dem Ende des | |
18. Jahrhunderts halten wir das Geschlecht für eine unverrückbare, | |
universale und unhintergehbare Naturtatsache, die an einem bestimmten | |
physikalischen Ort der menschlichen Körper angesiedelt sei. Selbst wenn | |
dies stimmte, so ist es doch höchst interessant und erkenntnisreich, sich | |
mit der Geschichte dieser Tatsache zu befassen. | |
Genau das tun einige in den Genderstudies. Anders als davon auszugehen, | |
dass es Männer und Frauen (qua Genetik, Gebärmutter, Anatomie oder | |
Hirnwindung) an und für sich „gibt“, erforschen sie die historisch | |
konstituierte, kulturell geregelte und subjektiv interpretierte Bedeutung | |
des Geschlechtsunterschieds. | |
Historische Arbeiten im Feld der Genderstudies stellen etwa fest, dass | |
diese Universaltatsache der biologischen Geschlechterdifferenz sich je nach | |
geschichtlicher Konstellation recht unterschiedlich ausnimmt. „Alles, was | |
wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine | |
Dependenz des Eierstocks“, schrieb der preußische Mediziner Rudolf Virchow | |
1848. | |
Und die holländische Gesundheits- und Hormonforscherin Nelly Oudshoorn | |
zeichnete nach, wie sich die Idee der „Geschlechtshormone“ allmählich im | |
Kontext alltagsweltlicher Deutungen verselbständigte – und zwar entgegen | |
vielfachen klinischen Evidenzen. | |
## Ein Verdienst der Genderstudies | |
Dass wir von vielen kruden Vorstellungen zur Geschlechterdifferenz heute | |
weit entfernt sind, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Genderstudies. Denn | |
diese haben Argumentationen, die Biologie als Schicksal setzen, und die | |
lange auch das (natur- wie sozial- und kultur-)wissenschaftliche Wissen | |
beherrschten, hinterfragt und herausgefordert. | |
Was gerade durch wissenschaftshistorische Arbeiten in diesem Feld klar | |
wurde, ist, dass die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur mitnichten so | |
offen zutage liegt. Diese erkenntnistheoretisch völlig triviale Einsicht | |
stellt allerdings für viele Journalisten und Kommentatorinnen außerhalb der | |
Wissenschaft offenbar eine schwer zu schluckende Kröte dar. | |
Es ist indes eine Einsicht, die NaturwissenschaftlerInnen und | |
GeschlechterforscherInnen teilen. Jedenfalls ist es von der Position etwa | |
des Cambridger Neurowissenschaftlers Simon Baron Cohen, der die alte | |
Natur-versus- Kultur-Debatte in Bezug auf Geschlecht als geradezu absurd | |
simplistisch bezeichnet und dafür plädiert, die Interaktion zwischen beidem | |
in den Blick zu nehmen, nicht weit bis zum Plädoyer der in Berkeley | |
lehrenden Philosophin Judith Butler, die Geschlechterdifferenz als jenen | |
Ort zu verstehen, an dem die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum | |
Kulturellen gestellt werden müsse. | |
Denn die psychischen, somatischen und sozialen Dimensionen der | |
Geschlechterdifferenz ließen sich niemals gänzlich ineinander überführen, | |
sie seien aber ebenso wenig als voneinander geschieden zu verstehen. | |
## Ohne Antwort | |
Das Programm, das die Genderstudies daher nüchtern wie vorurteilsfrei | |
verfolgen, besteht folglich genau darin, am Ort der Geschlechterdifferenz | |
die Frage nach dem Verhältnis des Biologischen zum Kulturellen zu stellen. | |
Und zwar sie immer wieder zu stellen, da sie, wie Butler sagt, zwar | |
gestellt werden muss, aber, streng genommen, nie beantwortet werden kann. | |
Nimmt man also ernst, dass simplistische Natur/Kultur-Debatten in einem | |
falschen Binarismus verfangen sind, so folgt daraus durchaus, dass es | |
Materialitäten (etwa Strukturen des Gehirns, Anatomie, Hormone) geben kann, | |
die bei Männern und Frauen häufiger oder seltener vorkommen. | |
Es folgt daraus allerdings ebenso logisch, dass diese Materialitäten mit | |
sozialen Umständen und Erfahrungen interagieren: So sind Hormone auch von | |
UV-Licht oder der Diät abhängig, sie reagieren auf Angst oder Lust, sie | |
treten je nach Alter einer Person unterschiedlich auf. Und umgekehrt: | |
Hormone beeinflussen Angst und Lust, sie machen Hunger oder müde. Doch | |
Hormone machen ebenso wenig wie bestimmte Hirnstrukturen oder | |
Chromosomensätze Frauen und Männer. | |
## Zellen erkennen Testosteron nicht | |
Was es also bedeutet, individuell und gesellschaftlich eine „Frau“ oder ein | |
„Mann“ zu sein, das wird nicht durch eine biologische Essenz festgelegt. | |
Die Berliner Genetikerin Heidemarie Neitzel beschreibt, dass die | |
Untersuchung des Hormonspiegels nicht unbedingt Eindeutiges ergibt. Es gebe | |
Beispiele, wo Androgene wie Testosteron in männlicher Dosierung vorhanden | |
seien, aber von den Zellen nicht erkannt würden. | |
Solche Befunde aber belegen nichts anderes, als dass die „Wahrheit des | |
Geschlechts“ seit jeher keine nackte, sondern eine höchst bekleidete | |
Wahrheit ist. Es sind solche Erkenntnisse – Erkenntnisse, die den | |
Alltagsverstand, der zwei und nur zwei eindeutige Geschlechter kennt, | |
erschüttern –, von denen Martenstein und Konsorten nichts wissen wollen. | |
Wie gesagt, wir reden hier von wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten, | |
die spätestens seit Kants Kritik der reinen Vernunft zum Grundwissen | |
moderner Wissenschaften gehören. | |
Bleibt zu fragen, warum es dagegen derzeit erneut eine medial geschürte | |
Abwehr gibt? Es ist erst rund hundert Jahre her, dass deutsche | |
Wissenschaftler wie Rudolf Virchow sich mit dem Rekurs auf die Natur gegen | |
das Recht von Frauen, zu studieren, stellten. | |
## Statusangst der Professorenschaft | |
Virchow, Max Planck und Kollegen fürchteten einen möglicherweise sogar | |
irreversiblen Eingriff in die Naturgesetze, sollten Frauen als Gleiche in | |
die Akademie einziehen. Es sei dahingestellt, inwieweit sie dies für eine | |
wissenschaftlich fundierte Aussage hielten oder ob sie sich nur taktisch | |
des wirkmächtigen Diskurses einer naturalisierten Geschlechterdifferenz | |
bedienten, um sowohl eine gesellschaftlich prestigereiche Position zu | |
verteidigen als auch die in der deutschen Professorenschaft damals weit | |
verbreitete Statusangst, die sich als Angst vor der Feminisierung ihres | |
Berufes äußerte, zu bekämpfen. To allow women to be like men would be to | |
risk men becoming like women – so hat die US-amerikanische Historikerin | |
Joan Scott dies für einen anderen Kontext bilanziert. | |
Spricht aus der Diskreditierung der Genderstudies, inklusive der | |
„Genderfrauen“, nichts als die Angst vor Uneindeutigkeit? Die Kultur, das | |
„Volk“, das Abendland, die Wissenschaft, ja selbst die Natur sind bislang | |
nicht untergegangen an der wachsenden Einsicht darin, dass Gender | |
wesentlich mehr und anderes ist als Eierstöcke oder Hoden. Daran wird sich | |
auch zukünftig wenig ändern, selbst wenn die Genderstudies derart wichtig | |
und einflussreich würden, wie ihnen unterstellt wird. | |
14 Jun 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.zeit.de/2013/24/genderforschung-kulturelle-unterschiede | |
[2] http://www.zeit.de/2013/24/genderforschung-kulturelle-unterschiede | |
## AUTOREN | |
Sabine Hark | |
Paula-Irene Villa | |
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