# taz.de -- NSU-Prozess in München: Blutige Pflanzen, umgestürzte Kübel | |
> Im NSU-Prozess wird der Mord an Enver Şimşek untersucht. Derweil taucht | |
> eine neue Quelle des Verfassungsschutzes auf. | |
Bild: Erinnerung an Enver Simsek zwischen Absperrgittern vor dem Oberlandesgeri… | |
MÜNCHEN taz | Enver Şimşek war das mutmaßlich erste Opfer des | |
„Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU). Am 9. September 2000 sollen | |
Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt den damals 38-jährigen Blumenhändler in | |
Nürnberg erschossen haben. | |
Nach ihm folgten sieben weitere türkischstämmige und ein griechischer | |
Kleinunternehmer, die laut Anklage auf das Konto von Mundlos und Böhnhardt | |
sowie von Beate Zschäpe gehen sollen. Seit Dienstagnachmittag nun werden | |
die Beweise für den ersten der insgesamt neun Cesca-Morde vor dem | |
Oberlandesgericht in München aufgenommen. | |
In Kopf, Schulter und Rücken des Blumenhändlers steckten Projektile, | |
berichteten am Mittwochvormittag zwei Beamte der Nürnberger | |
Kriminalpolizei. Şimşek, der seinen Blumenstand an einer vielbefahrenen | |
Straße im Süden Nürnbergs aufgebaut hatte, wurde im Frachtraum seines | |
weißen Kleintransporters angeschossen. Neun Schüsse sollen die Täter laut | |
Anklage auf den Mann abgegeben haben. Offenbar hatten die NSU-Terroristen | |
den Mann aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet. | |
Der Beamte, der die Spuren sicherte, berichtete am Mittwoch von blutigen | |
Pflanzenresten und umgestürzten Blumenkübeln, die er am Tatort vorfand. | |
„Diese stammten vom Todeskampf des Herrn Şimşek und von den | |
Rettungsleuten“, sagte er aus. Kunden hatten die Polizei verständigt, | |
nachdem sie vergeblich am Stand auf den Blumenverkäufer gewartet hatten. | |
Als Polizei und Rettungskräfte am Tatort eintrafen, war Şimşek noch am | |
Leben. Er verstarb zwei Tage später aufgrund der schweren Verletzungen im | |
Krankenhaus. | |
## Männer in schwarzen „Radlerhosen“ | |
Ein Rentner, der an jenem 9. September 2000 gemeinsam mit seinem Sohn den | |
Blumenstand in seinem Wagen passierte, sagte aus, zwei Männer beobachtet zu | |
haben, die den Kleintransporter gerade verließen. Durch das geöffnete | |
Fenster habe er „drei, vier harte metallische Schläge“ gehört, sagte der | |
Zeuge am Mittwoch vor Gericht. Gleich darauf hätten sich zwei junge Männer | |
in schwarzen „Radlerhosen“ schnell von dem Lieferwagen wegbewegt. | |
Zwar sei ihm das alles komisch vorgekommen, sagte der Mann, vor allem die | |
Tatsache, dass die Männer zwar „Radlkleidung" trugen, aber keine Fahrräder | |
dabei hatten. Weil er das Gesehene aber nicht einordnen konnte, sei er | |
weitergefahren. Erst nachdem er am nächsten Tag in der Zeitung von den | |
Schüssen gelesen hatte, meldete er sich bei der Polizei. | |
Den Projektilen nach zu urteilen, die am Tatort gefunden wurden, feuerten | |
die Täter aus zwei verschiedenen Waffen auf den Blumenhändler. Die | |
Ermittler gehen davon aus, dass eine davon die Ceska 83 war, die später | |
auch bei den weiteren acht Morden an Migranten verwendet wurde. | |
Der Mitangeklagte Carsten S. hatte im Juni in seinem Geständnis ausgesagt, | |
gemeinsam mit Ralf Wohlleben eine Waffe mit Schalldämpfer besorgt und in | |
Chemnitz an Mundlos, Böhnhart und Zschäpe übergeben zu haben. Zschäpe wird | |
die Mittäterschaft bei allen neun Morden an Kleinunternehmern sowie beim | |
Mord an einer Polizistin und zwei Sprengstoffanschlägen zur Last gelegt. | |
## „Operation Drillingen“ | |
Auch der Thüringer Verfassungsschutz sorgt derzeit für Aufregung: Offenbar | |
haben es die Beamten erneut vermieden eine V-Quelle eindeutig zu benennen. | |
Die Quelle „Jule“ aber ist brisant, denn sie war offenbar sehr nahe an den | |
Gesuchten Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt dran. Hinter den | |
Decknamen verbirgt sich Juliane W., die damalige Freundin von Ralf | |
Wohlleben. Im NSU-Verfahren wird Wohlleben beschuldigt das Trio unterstützt | |
und eine der Mordwaffen mitbesorgt zu haben - möglicherweise eine jener | |
Waffen, mit denen auch Enver Şimşek getötet wurde. | |
Im Sommer 1998 soll es dem Verfassungsschutz im Rahmen der als geheim | |
eingestuften „Operation Drillingen“ gelungen sein „Jule“ als V-Frau zu | |
gewinnen. Eine lose Sammlung und Quittungen belegen, dass „Jule“ | |
Informationen lieferte. Bei mehr als zehn Treffen berichtet sie über | |
Wohlleben, seine politischen und privaten Ambitionen und kassierte bis zu | |
200 D-Mark, wie die Unterlagen, die das thüringische Innenministerium dem | |
Bundestagsuntersuchungsausschuss übergab, offenbaren. Die Friseurin aus | |
Jena war aber auch selbst involviert. | |
Am 26. Januar 1998 tauchte sie mit dem Wohnungsschlüssel von Mundlos auf, | |
als dessen Wohnung gerade von der Polizei durchsucht wurde. Die | |
Durchsuchung war Teil einer groß angelegten Razzia der Jenaer Polizei in | |
sieben Wohnungen und Garagen mutmaßlicher Rechtsextremisten. In der von | |
Beate Zschäpe angemieteten Garage Nummer 6 hoben die Beamten eine | |
Bombenwerkstatt aus und stellten vier funktionsfähige Rohrbomben ohne | |
Zünder mit insgesamt 1,4 kg TNT sicher. Nach dieser Razzia tauchte das Trio | |
unter. | |
## V-Frau „Jule“ | |
Einen Tag später erschien „Jule" mit einer Vollmacht von Zschäpe bei der | |
Polizei, um den Schlüssel zu deren Wohnung zu erhalten. Bei ihrer | |
Vernehmung im Januar 2012 sagte sie den Bundeskriminalbeamten jedoch, keine | |
eigenen Kontakte zu den Dreien gehabt zu haben. Sie sagte auch, Wohlleben | |
öfters nach dem Trios gefragt zu haben, doch er hätte immer geantwortet | |
selbst nicht zu wissen. | |
Obwohl der frühere Bundesrichter und Ermittlungsbeauftragte im | |
NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags, Gerhard Schäfer, die Akten von | |
Polizei und Verfassungsschutz untersucht hatte, fand sich in seinem Bericht | |
kein Hinweis auf diese Quelle. Das Amt hatte offenbar nicht explizit auf | |
„Jule“ hingewiesen. Auch der ehemalige Betreuer von „Jule“ beim | |
Geheimdienst, Norbert Wießner, erwähnte in seiner Aussagen bei der | |
„Schäferkommission“ nichts, wie der MDR berichtete. | |
Die Untersuchungsausschüsse im Bund und in Thüringen hatten jedoch alle | |
Sicherheitsbehörden angefragt, ob es in der unmittelbaren Nähe der „Drei“ | |
V-Leute oder Informanten gab. Der Thüringer VS erklärte, das diese „drei | |
Ordner“, aus denen die Quelle „Jule“ zu entnehmen ist, dem | |
Untersuchungsausschuss lange vorliegen, „es sei somit falsch“ zu berichten, | |
das „Untersuchungsausschüsse falsch unterrichtet worden seien“. Nachdem | |
„Jule“ und Wohlleben sich treten, endet 1999 die Zusammenarbeit mit dem | |
Verfassungsschutz. | |
In Kooperation mit [1][Radio Lora München] | |
10 Jul 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://lora924.de/ | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
Andreas Speit | |
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