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# taz.de -- Drogenkonsum in Griechenland steigt: Überdosis Krise
> „Ich hasse das Spritzen“, sagt Andreas aus Athen. Trotzdem ist der
> arbeitslose Koch zurück auf Heroin. Die Billigdroge Sisa rührt er nicht
> an.
Bild: Ein Schuss Heroin kostet zehn Euro. Eine Portion Sisa nur ein bis zwei.
ATHEN taz | „Schau mal, der Saftverkäufer“, sagt Andreas und seine Stimme
scheint von weit weg zu kommen. Mit unterschlagenen Beinen sitzt er in
einem Park der Innenstadt und sieht einem Saftverkäufer zu. Der Mann
hantiert mit ein paar Strohhalmen, vor ihm stehen zwei gesplitterte
Plastikkisten voller Orangen, ein Einkaufswagen mit einer Holzplatte
darauf, ein paar Becher und ein Beutel Zucker. „Wie früher die drei in dem
Comicheft – Tick, Trick und Track.“ Noch einen Augenblick hängen seine
Augen an dem improvisierten Saftstand. Dann umfasst er mit der rechten Hand
seinen Nacken und streckt den Rücken. Aus seinen eingefallenen Schultern
stechen die Schlüsselbeine hervor.
„Zehn Jahre lang hatte ich es geschafft“, sagt er mit gedämpfter Stimme.
„Erst Weihnachten habe ich wieder angefangen.“ Wie bei fast allen Griechen
hat die Wirtschaftskrise auch Andreas’ Leben beeinflusst. Für viele
bedeutet sie das Abgleiten in Armut. Für Andreas bedeutete sie den Rückfall
in die Heroinsucht.
„Ich war nie einer von den Selbstmordgefährdeten“, sagt er und rollt eine
Zigarette. „Ich hasse das Spritzen. Ich will bald wieder davon weg. Bald.“
Der Park, in dem Andreas sitzt, ist nicht weit von Athens Stadtzentrum
Omonia entfernt. Hier zeigt sich der Zusammenbruch der Gesellschaft am
deutlichsten. Menschen schlafen mit dem Gesicht nach unten auf dem
Bürgersteig. Obdachlose lassen unter Arkaden Schnapsflaschen kreisen.
Armutsprostitution blüht. Im fünften Jahr der Rezession wird die
Mittelklasse arm und die Armen werden obdachlos. Viele Drogenabhängige,
schon vor der Krise oft chancenlos, geben sich selbst auf.
Aufgewachsen ist Andreas auf dem Land in der Nähe von Korinth. Auf Drängen
seiner Mutter zog die Familie nach Athen. Auf der Straße kam er als
Jugendlicher mit Heroin in Berührung. Er heiratete einmal, zweimal,
dreimal. Sein Sohn aus letzter Ehe ist heute 16 Jahre alt und lebt bei ihm.
„Meine Frau ist weggelaufen. Es war das Beste für uns. Sie war
Alkoholikerin“, sagt der 52-Jährige. „Weißt du, ich bin mager, aber sie w…
ein Skelett. Ihre gesamte Haut war blau. Das ging so nicht weiter.“
Andreas wusste nicht, wie er seinen Sohn in der Stadt durchbringen sollte.
Er zog auf eine griechische Insel und hörte von einem Tag auf den anderen
auf, Heroin zu spritzen. Wie schon zuvor arbeitete er in einem Restaurant
als Koch. „Das waren die besten Jahre unseres Lebens. Für mich und meinen
Sohn. Kein Fernsehen. Kein Stress. Einfach nur die Bucht und der Strand.“
Dann kam die Krise.
## „Ich brauche die Droge“
Ausländische Touristen wurden weniger. Griechische Besucher blieben ganz
aus. Das Restaurant schloss für die Wintermonate, doch ein Freund besorgte
ihm einen Job in Athen. „Ich dachte echt, was hab ich für ein Schwein.“ Der
Ruf des Restaurants war gut, der Vertrag unbefristet. Doch sechs Monate
später, Ende 2012, war Schluss. Das Restaurant hatte seit Monaten Minus
gemacht.
Andreas wartet bis heute auf 3.000 Euro Gehalt. Gleichzeitig war er bereits
drei Mieten im Rückstand. Damals fing er wieder an mit dem Heroin. „Ich
brauche die Droge im Augenblick“, sagt er. „Sie gibt mir die Energie, den
Alltag zu bewältigen.“
Andreas mäßigt seinen Konsum. Er weiß um die Verantwortung für seinen Sohn.
Er muss eine Routine aufrecht erhalten, träumt von einer Rückkehr auf die
Insel. Er weiß, dass es unwahrscheinlich ist. Das Wissen um diese
Perspektivlosigkeit bringt viele um.
## HIV und Hepatitis nehmen zu
„Vor der Krise nahmen manche den Entzug auf sich, weil sie von einem Job
und einer Familie träumten“, sagt Charalampos Poulopoulos, Direkter der
Drogenhilfeorganisation Kethea. „Aber jetzt? Warum sollten sie sich das
zumuten, wenn sie danach weiter arbeitslos sind?“
Poulopoulos arbeitet seit 1983 mit Drogenabhängigen. Selbst in normalen
Zeiten seien Heroinabhängige in Griechenland schwerer von HIV und Hepatitis
betroffen als andere, berichtet der Suchtexperte; sie hätten eine mehr als
10-mal höhere Sterblichkeitsrate als der Durchschnitt und versuchten 14-mal
so oft Selbstmord zu begehen, so seine Statistik. Doch was Poulopoulos
jetzt erlebt, ist selbst für einen abgebrühten Drogenberater neu. „Wir
haben noch keine Zahlen für die Krise, aber viele interessiert es einfach
nicht mehr, ob sie leben oder sterben.“
So kümmern sich viele Abhängige nicht mehr darum, was sie nehmen. Billige
synthetische Drogen, vor allem Methamphetamine, überschwemmen den Markt. In
den Jahren 2000 bis 2005 kamen durchschnittlich fünf neue synthetische
Drogen pro Jahr auf den Markt, sagt Poulopoulos. „Seit Beginn der Krise
waren es 70.“
## Batterieflüssigkeit für die Billigdroge
Eine davon sticht aus der Masse heraus: Sisa. Es ist die Antwort auf die um
sich greifende Armut. Die Droge für die Krise. Benannt ist sie nach dem
persischen Wort für Glas, Schischa. Das schmutzig weiße Pulver wird in
kleinen Glaspfeifen geraucht. Um Methamphetamine wie Sisa herzustellen,
braucht man Amphetamine und eine Säure. Für Sisa wird Batterieflüssigkeit
benutzt. Die Droge ist so attraktiv, weil sie billig ist. Ein Schuss Heroin
kostet zehn Euro. Eine Portion Sisa nur ein bis zwei.
Ohne großen Aufwand lässt es sich in Wohnungen herstellen. Regelmäßige
Nutzer von Sisa sterben nach sechs bis acht Monaten. Die Droge greift den
gesamten Körper an: Schlaflosigkeit. Offene Wunden. Organversagen. Eine
Umfrage von Kethea unter Drogenabhängigen kam zu dem Ergebnis, dass über 70
Prozent aller Drogenabhängigen in Athen Sisa mindestens einmal ausprobiert
haben.
„Es ist den Leuten egal, dass sie dabei draufgehen“, sagt Christo. „Sie
wollen einfach nur ihren Kopf füllen.“ Christo sitzt im Off-Café, das von
Kethea als Anlaufstelle für Drogenabhängige betrieben wird. Sie können sich
hier duschen, erhalten etwas zu essen und psychologische Unterstützung.
Auch Andreas kommt jeden Tag hierher.
## Sisa ruiniert den Körper
„Wenn du auf Sisa bist, verlierst du völlig die Kontrolle. Du weißt nicht
mehr, was du tust“, sagt Christo. Seine fettigen Haare sind zu einem Zopf
gebunden. Ihm fehlen die meisten Schneidezähne, die verbliebenen sind
schwarz. „Ich habe es einmal ausprobiert“, sagt er. „Für 48 Stunden kann…
du nicht schlafen. Du bist aggressiv. Du schreist herum. Zwei Tage lange
habe ich weder gegessen noch geschlafen.“ Seither hat er Sisa nicht mehr
angefasst. Doch sie alle kennen Leute in der Szene, die es regelmäßig
nutzen. „Nach sechs Monaten bist du ein Schatten deiner selbst“, sagt
Christo, der während eines Gefängnisaufenthalts anfing, Heroin zu spritzen.
Auch die Qualität des Heroins ist gesunken. Das Gesundheitsschädliche an
der Droge ist nicht der Wirkstoff, sondern das sind die Chemikalien, mit
denen es gestreckt wird. Opium, der Grundstoff für Heroin, kommt
überwiegend aus Afghanistan nach Europa. Labors in Balkanländern verwandeln
ihn dann in Heroin. Je weniger Geld die Menschen haben, desto billiger
werden die Drogen, desto giftiger ist ihre Zusammensetzung. „Die Szene hat
sich verändert“, sagt Andreas, der neben Christo sitzt. „Ständig kommen
neue Gesichter hinzu, andere verschwinden für immer. Und immer mehr junge
Menschen spritzen.“
## Sozialeinrichtungen um 30 Prozent gekürzt
Laut einer von Kethea in Auftrag gegebenen Studie kostet es 30 Euro pro
Tag, um einen Drogenabhängigen in einer Betreuungseinrichtung
unterzubringen. Muss sich der Staat um Drogenabhängige kümmern, die auf der
Straße leben, kostet das die öffentliche Hand täglich 130 Euro. Falls
jemand eine Überdosis nimmt, müssen Ambulanz und Krankenhausaufenthalt
bezahlt werden. Darüber hinaus entsteht dabei Beschaffungskriminalität, um
die sich die Polizei kümmern muss. Und auch Gefängnisaufenthalte kosten den
Staat Geld.
Unter dem Spardiktat der Europäischen Union hat die griechische Regierung
allen sozialen Einrichtungen trotzdem 30 Prozent der Zuschüsse gekürzt und
setzt stattdessen auf vermehrte Polizeipräsenz. Nach der Devise „aus den
Augen, aus dem Sinn“ sollen Drogenabhängige aus dem Stadtbild verschwinden.
„Die Polizei kann dich ohne Grund verhaften“, sagt Andreas. „Sie stecken
dich in einen Bus und fahren dich raus zum Flughafen. Erst wenn die letzte
Metro weg ist, lassen sie dich laufen. Dann kannst du gucken, wie du
zurückkommst. Sie wollen, dass du dich nicht mehr traust, auf öffentlichen
Plätzen zu sitzen. Das ist keine Demokratie.“
## 10.000 Drogenabhängie
Mitarbeiter von Kethea verteilen auf der Straße und auf Plätzen in der
ganzen Stadt frische Spritzen. Doch es kommen immer weniger Abhängige zu
den Ausgabestellen, daran sind auch die Polizeiaktionen schuld.
Infolgedessen explodiert die Zahl der HIV-Ansteckungen: Immer öfter teilen
Infizierte ihre Spritzen mit anderen Abhängigen. Bisher gingen Schätzungen
davon aus, dass es im ganzen Land 10.000 Drogenabhängige gibt.
Kürzlich fand eine Konferenz mit finnischen Kollegen zum Thema Drogen
statt. Finnland hatte in den 1990ern mit einer ähnlichen HIV-Epidemie wie
Griechenland jetzt zu kämpfen. Als dort eine Erhebung durchgeführt wurde,
kam heraus, dass es zehnmal so viele Betroffene gab wie angenommen.
„Ich weiß, die Droge macht mich kaputt“, sagt Andreas auf dem Heimweg. Es
ist kurz vor zehn. Er muss los. Schuldgefühle gegenüber seinem Sohn plagen
ihn. Der Sohn weiß über alles Bescheid. Andreas nennt ihn seinen Partner.
„Ich werde wieder aufhören. Aber jetzt noch nicht. Ich brauche die Energie,
die es mir gibt.“
20 Jul 2013
## AUTOREN
Raphael Thelen
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