Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Was Prism gezeigt hat: Die Kolonie heißt Europa
> Europa ist unfähig den Rechtsstaat gegen die US-Paranoia zu verteidigen.
> Und gerade Deutschland weigert sich, seine weltpolitische Rolle
> einzunehmen.
Bild: I'm coming for YOU!
Es ist 2013. Die Tagträume von damals: verpufft. Europa: doppelt
gedemütigt. Die Affäre um Prism hat vieles gezeigt, vor allem aber auch,
wer Europa regiert. Die wohlmeinende Supermacht jenseits des Atlantiks. Ihr
soll es schon mal vergönnt sein, ein paar Gesetze zu brechen, um
angeblichem oder wirklichem Terrorismus in Europa und in der ganzen
westlichen Welt zuvorzukommen. Die Briten und Franzosen machten es
vergleichbar und spähten die europäischen Vertragspartner aus, wobei die
USA aber die Führungsrolle spielten.
Europa hat sich als unfähig erwiesen, die Idee des Rechtsstaats –
vielbeschworener Markenkern des Kontinents – gegen angelsächsische und
heimische Paranoia zu verteidigen. Das lange thematisierte Problem einer
fehlenden gemeinsamen europäischen Außenpolitik hat damit eine neue
Dimension erreicht. Das europäische Hinterherhinken im Bereich der
Digitalwirtschaft erzeugt bedenkliche politische Abhängigkeit. Europa ist
zur digitalen Kolonie geworden.
Wären Facebook und Google europäisch, wäre es nicht auf diese Weise zum
NSA-Skandal gekommen. Es gibt europaweit keine vergleichbaren Gesetze wie
FISA, den Foreign Intelligence Surveillance Act, der US-Unternehmen
verpflichtet, prinzipiell jede internationale Kommunikation
weiterzureichen. Zudem haben amerikanische Behörden die Möglichkeit, dort
beheimatete Unternehmen wie Google und Facebook direkt und außerhalb des
gesetzlichen Rahmens unter Druck zu setzen.
Grund zur Hoffnung auf Abschwächung des Digital-Imperialismus besteht
nicht. Die Austeritätspolitik der Eurokrise wird den bereits bestehenden
technologischen und wissenschaftlichen Rückstand gegenüber den USA
verschärfen. Und gerade Deutschland blamiert sich dabei.
Kaum verwunderlich, dass den angelsächsischen Diskurs derzeit ein neues
Modethema beschäftigt: Die Unfähigkeit Europas, seine weltpolitische Rolle
wahrzunehmen. Dabei sind die Augen vor allem auf Deutschland gerichtet. Der
britische Historiker Timothy Garton Ash spricht in einem Aufsatz in der
aktuellen [1][New York Review of Books] von einer „Neuen Deutschen Frage“,
die in der mangelnden Führung des Lands innerhalb Europas bestehe.
## Provinzialismus und Hinterzimmerpolitik
Der [2][Economist] nannte Deutschland im Juni einen „Hegemon wider Willen“
und kritisierte die deutsche Unfähigkeit, eine nachhaltige politische
Strategie für den Kontinent zu entwickeln. Schon der Begriff des „Führers�…
psychologisierte Zanny Minton Beddoes, Autorin des Artikels, sei in
Deutschland ausschließlich negativ besetzt. Trivial, richtig und vielleicht
auch gut so.
Die Frage ist nur, ob ostentativer Provinzialismus und Hinterzimmerpolitik
– beides heimische Königsdisziplinen der Nachkriegszeit – wirklich
Alternativen zu unfundiertem Größenwahn darstellen. Jemand wie
Finanzminister Schäuble, einer der Köpfe der europäischen
Austeritätspolitik, weist seine Verantwortung von sich, indem er
tiefstapelt, er sei „nicht die Obertroika“.
Ganz ähnlich macht das Merkel im Fall Prism, wenn sie sagt, es sei „nicht
ihre Aufgabe, sich in Details einzuarbeiten“. Schlimmer ist die Weigerung,
gerade deutsche historische Realitäten anzuerkennen, nur bei
Exinnenminister Schily, der die Furcht vor staatlicher Überwachung als
„paranoid“ bezeichnet. Die Geschichte wird von heimischen Funktionseliten
so erfolgreich verdrängt, dass das Land führungslos dazustehen scheint.
Das sind größtenteils rhetorische Probleme und daher weitgehend
Geschmacksfragen. De facto weiß sich Deutschland aber seine Pfründen zu
sichern. Gerade weil es nicht ausschließlich mit Europa verwoben ist. Im
Unterschied zu anderen Euro-Ländern lebt es auch von Exporten in
Nicht-Euro-Staaten wie China und in die USA. Unter anderem profitiert es
vom niedrigen Eurokurs. Deutschland ist Werkstatt der Weltmächte – eine
fragwürdige Position für eines der am höchsten entwickelten Länder der
Erde. Zumal diese Position durch Lohndumping erkauft ist.
Es gibt momentan nur ein Land in Europa mit mehr Geringverdienern: das
[3][winzige Litauen] – so trostlos, dass es 2012 die [4][höchste
Suizidrate] der Welt aufzuweisen hatte. Fakt ist: Deutschlands Reichtum
fußt auf billigen Arbeitskräften, die für das Digitalzeitalter nicht eben
wahnsinnig innovative Produkte herstellen: Autos und Maschinen. Um trotz
annähernder Vollbeschäftigung die Löhne weiter unten zu halten, wirbt die
heimische Industrie nun um „Fachkräfte“ aus anderen Euroländern: Unter
anderem durch deutsche Sparpolitik perspektivenlos gewordene
Mittelschichtler aus Spanien, Portugal, Griechenland, Italien.
## Keine nachhaltige Strategie
Das ist Wirtschaftsimperialismus, wie er im Buche steht, aber keine
nachhaltige Strategie. Zu Recht weist Ash in der New York Review of Books
darauf hin, dass die Forschung innerhalb der Eurozone international
hinterherhinke. Es gebe „keine Weltklasse-Universität wie Oxford oder
Stanford“. Dass es auch kein Silicon Valley in Europa gibt – und damit kaum
bedeutende europäische Digitalprodukte –, dies war unter anderem eine der
Voraussetzungen für die Prism-Demütigung. Facebook und Google sind wegen
ihrer Monopolstellung Instrumente US-amerikanischer Herrschaft.
Die EU-Länder planten schon 2000, bis 2010 drei Prozent ihres
[5][Brutto-Inlands-Produkt] (BIP) in Forschung und Entwicklung zu
investieren. Im gesamten Euroraum stagnieren die entsprechenden Ausgaben
seit 2009 bei etwa
[6][Gross_domestic_expenditure_on_R%26D,_2000-2010_%28%25_share_of_GDP%29.p
ng&filetimestamp=20121016060906:zwei Prozent]. Deutschland, angebliche
Führungsmacht, liegt mit seinen 2,3 Prozent Forschungs- und
Entwicklungsausgaben nur knapp darüber. Japan und die USA gaben dagegen
2011 2,7 Prozent (USA) und 3,7 Prozent (Japan) ihres [7][BIP für Forschung]
aus. Die Sparpolitik in der Eurokrise wird diesen Rückstand noch
verschärfen.
Wenn sich Deutschland ausschließlich nach den kurzfristigen Interessen
seiner produzierenden Industrie richtet, kann es dem politischen und
technologischen Niedergang Europas auf Dauer nichts entgegensetzen.
Andererseits würde eine andersgeartete Führungsrolle in Europa
voraussetzen, dass nachhaltige politische Ökonomie diskutiert wird.
Dies wird kaum möglich sein, ohne von jenen historischen deutschen
Erfahrungen zu profitieren, die über den Kapitalismus hinausgehen, deren
Verdrängung schwerer wiegt, als dass es nun keinen „Führer“ gibt: sprich
die deutschen Phänomene Karl Marx, Münchner Räterepublik, DDR. Im
Informations-Kapitalismus jedenfalls kann der Autoverkäufer höchstens eine
Kolonie darstellen.
7 Aug 2013
## LINKS
[1] http://www.nybooks.com/articles/archives/2013/aug/15/new-german-question/?p…
[2] http://www.economist.com/news/special-report/21579140-germany-now-dominant-…
[3] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/geringverdiener-jeder-vierte-deut…
[4] http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_suicide_rate
[5] http://www.iwkoeln.de/de/infodienste/iwd/archiv/beitrag/30408
[6] http://epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php?title=File
[7] http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_countries_by_research_and_development_…
## AUTOREN
Johannes Thumfart
## TAGS
Europa
Prism
Google
Schwerpunkt Meta
Michael Grosse-Brömer
NSA
Lavabit
Hans-Georg Maaßen
Verschwörungsmythen und Corona
Prism
Geheimdienst
Prism
Thomas Drake
## ARTIKEL ZUM THEMA
Unionsgeschäftsführer über NSA-Skandal: „Zusicherung, nicht zu spähen“
Der Parlamentarische Unionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer über das
„No-Spy-Abkommen“, die NSA und die Schutzpflichten des Staates.
Kolumne Liebeserklärung: Kolonie Deutschland
Nirgendwo ist die Aufregung über das Spähprogramm Prism so groß wie unter
den Landsleuten. Woran mag das bloß liegen?
Kommentar NSA und Lavabit: Mutige Kapitulation
Verschlüsselte E-Mail-Dienste nehmen ihr Angebot vom Markt. Was auf den
ersten Blick wie Resignation wirkt, ist eine starke politische Aktion.
Verfassungsschutzchef Maaßen zu Prism: „Keine Spionage im eigentlichen Sinn�…
Das Programm der NSA verstößt nicht gegen deutsche Interessen, sagt der
oberste Verfassungsschützer. Einen Ausspähpakt mit den USA gibt es nicht,
sagt Maaßen.
Das Gute am NSA-Skandal: Wusste ich’s doch!
Früher war Verschwörungstheoretiker ein Schimpfwort, dann kam die
NSA-Bespitzelung ans Licht. Endlich ist der Glaube an den guten Staat
erschüttert.
Schutz vor Industriespionage: Die Wachstumsbranche
Unternehmer kennen das Problem der Spionage, unterschätzen aber die Gefahr.
Nun hofft die Sicherheitsindustrie, davon zu profitieren.
Protest gegen Überwachung: Opfer dringend gesucht
Bewegungsforscher erklären, warum der Protest gegen Prism und Co. bisher so
gering ausfällt. Doch für den Herbst besteht Hoffnung.
Hans de With über Überwachung: „Nicht mit uns!“
Die G-10-Kommission kontrolliert die deutschen Geheimdienste. Der
Vorsitzende glaubt nicht, dass der Bundesnachrichtendienst ihn austrickst.
Neues US-Spähprogramm enthüllt: Gegen XKeyscore ist Prism harmlos
Überwachung in Echtzeit. Eine weitere und sehr potente Spionagesoftware ist
dank Edward Snowden bekannt geworden. Die US-Regierung wiegelt ab.
Hacker Appelbaum über Überwachung: „Ihr seid Experten des Schreckens“
Der Internetaktivist Jacob Appelbaum zieht Vergleiche zwischen der NSA und
der Stasi, lobt das deutsche Verständnis von Datenschutz und fordert mehr
Widerstand.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.