# taz.de -- Debatte Zweistaatenlösung: Denkt anders! | |
> Israel und Palästina verhandeln seit Jahrzehnten über eine | |
> Zweistaatenlösung. Es wird geredet, aber nichts getan. Sie sollten | |
> endlich damit aufhören. | |
Bild: Gespräche, Abbruch der Gespräche, Vereinbarungen, Meetings, Road Maps, … | |
TEL AVIV taz | Berlin im Jahr 2017: Gesponsert von 16 verschiedenen NGOs | |
findet eine Tagung in einem wunderschönen Hotel statt. Leute aus Europa, | |
Israel und den USA treffen sich in der Lobby: Politiker, Intellektuelle, | |
Diplomaten, Journalisten. Unmöglich, nicht die wachsende Spannung zu | |
spüren, mit der die Geladenen dem Höhepunkt der Konferenz entgegenfiebern: | |
Schimon Peres, der frühere Präsident Israels, wird zu ihnen sprechen. | |
Und dann, was passiert dann? Auch Mahmud Abbas wird eine Rede halten. Die | |
beiden werden sich die Hände schütteln. Ein früherer deutscher Diplomat, | |
Glanz in den Augen, wird fragen: „Glaubst du, sie tun es wirklich?“ | |
Der Titel der Rede von Schimon Peres klingt alt und neu zugleich: „Fünfzig | |
Jahre Sechstagekrieg und Zweistaatenlösung: Es ist möglich, es ist der | |
einzige Weg, die Zeit ist reif dafür!“ Nach den Reden dann eine Show, mit | |
Tänzern und Tänzerinnen aus Tel Aviv und Ramallah – Kindern beider Städte! | |
Kann eine Veranstaltung spannender sein? | |
Wahrscheinlich wird so ein Event auf die eine oder andere Art irgendwann | |
stattfinden. Die Diskussionen, Verhandlungen, Konferenzen, | |
Friedensgespräche, Vereinbarungen, Meetings und Bemühungen, die es seit | |
Jahrzehnten gibt, zielen auf nur eine Lösung: die Zweistaatenlösung. Um es | |
klar zu sagen: Lange habe ich diese Vision unterstützt. | |
## Die Zweistaatenlösung: Eine Zombievision | |
Aber Jahre fruchtloser Gespräche mit dem schlimmsten Schiedsrichter und | |
Schicksalslenker, den man sich vorstellen kann – den USA –, lassen mich | |
annehmen, dass es sich um eine Zombievision handelt. Um etwas, worüber man | |
in politischen Versammlungen in Oslo oder Berlin reden kann, aber vor Ort, | |
im Westjordanland, im Alltag, ist sie bedeutungslos. | |
Leute sagen zu mir: Aber wenn du an etwas glaubst, dann musst du dafür | |
kämpfen, dann darfst du nicht die Hoffnung verlieren, vielleicht ändert | |
sich ja etwas, Europa wird die Federführung über die Gespräche übernehmen, | |
eine andere Regierung in Israel oder meinetwegen auch China wird an die | |
Macht kommen und eine Lösung einfordern, die Jugend wird aufbegehren und | |
nach Frieden rufen. | |
Meine Antwort wird simpel sein: Wir reden seit vierzig Jahren darüber, und | |
während wir darüber reden, wird alles getan, um eine Lösung zu verhindern – | |
die immer neuen Siedlungen, die die Israelis auf palästinensisches Gebiet | |
bauen, sind ein Beispiel dafür, oder dass palästinensische Kinder weiterhin | |
von israelischen Streitkräften verhaftet werden. Also gebt mir ein Datum, | |
wann ihr aufhört zu reden und anfangt, über neue Ideen nachzudenken. 2017? | |
2027? 2100? | |
Was in den letzten zehn Jahren passiert ist, geschieht nach dem immer | |
gleichen Muster: Es wird geredet, aber nichts getan. Darauf hat sich der | |
rechte Flügel in Israel politisch verständigt (und die Arbeitspartei | |
übrigens auch). Geredet werden muss, weil Israel nicht riskieren will, was | |
Südafrika zu Zeiten der Apartheid erlebt hat: dass das Land boykottiert | |
wird. Israel hat Angst, dass die Besetzung palästinensischer Territorien so | |
am Ende doch noch wirtschaftlichen Schaden nach sich ziehen könnte. | |
Bisher nämlich konnte das Land sehr eindrucksvoll demonstrieren, dass | |
Frieden mitnichten notwendig ist, damit es prosperiert. Du kannst | |
Territorium besetzen, und deine Wirtschaft wächst trotzdem. Wenn das also | |
stimmt, und es stimmt, dann gibt es überhaupt keinen Anreiz mehr für | |
Israel, die Besetzungen zu stoppen und sich auf einen schwierigen | |
innenpolitischen Streit mit den Siedlern einzulassen. | |
## Gespräche, Abbruch – egal: Israel baut Siedlungen | |
An genau dieser Stelle kommen die USA und Europa ins Spiel: Die feiern | |
jedes noch so kleine „positive“ Signal aus Israel. Richtig? Also gibt ihnen | |
Israel jedes Mal, wenn die Kritik wieder lauter wird, ein positives Signal | |
und zeigt sich in irgendeinem bedeutungslosen „Prozess“ engagiert. Und | |
während der „Prozess“ noch im Gange ist, baut Israel weiter an seinen | |
Siedlungen. Das ist die Krux: Kontinuierlich hat Israel in den letzten | |
dreißig Jahren Siedlungen gebaut. Gespräche, Abbruch der Gespräche, | |
Vereinbarungen, Meetings, Road Maps, Kriegserklärungen – egal: Israel baut | |
Siedlungen. | |
Der „Prozess“ ist wichtiger als alles andere. Bleiben wir nur immer im | |
„Prozess“ – dem Muster, das über einen so langen Zeitraum schon | |
funktioniert. Die Politiker und Diplomaten fürchten, dass es eine weitere | |
Intifada geben könnte, deshalb möchten sie, dass man ihnen glaubt, sie | |
seien an Frieden interessiert. Aber dabei machen sie zwei Fehler: Sie legen | |
keinen klaren Zeitplan für den Friedensprozess vor, weil sie auch da | |
fürchten, dass damit eine Intifada ausgelöst werden könnte. | |
Und, noch schlimmer: Sie überlegen sich keine Alternative zur | |
Zweistaatenlösung. Dieser Fehler ist entscheidend. Du kannst dich den | |
Fakten nicht verschließen und das immer gleiche Lied singen. Das ist | |
verantwortungslos. | |
Wirklich, Israel ist mit einer ganz einfachen Wahl konfrontiert, jeder | |
Fünfjährige versteht sie: Wenn Israel entscheidet, dass die | |
Siedlungspolitik wichtiger ist als die Zweistaatenlösung – und alles weist | |
in diese Richtung –, dann ist die Entscheidung, die getroffen werden muss, | |
doch ganz einfach: Apartheid oder Demokratie. Mehr nicht. | |
Wenn Israel die Siedlungen unbedingt will, kann das Land den Palästinensern | |
ja die volle Staatsangehörigkeit und alle bürgerlichen Rechte geben, oder | |
es muss ihnen andere Lösungen anbieten, etwa eine flexible | |
Zweistaatenlösung ohne Grenzziehungen und dem Recht, sich frei zwischen den | |
zwei Staaten zu bewegen. Oder was anderes. Intellektuelle und Politiker | |
müssen neue Modelle entwickeln und sie offen zur Diskussion stellen. Wir | |
brauchen diese Gespräche dringend. | |
Natürlich kannst du auch weiterhin über deine dir ans Herz gewachsene | |
Zweistaatenlösung sprechen oder über den Clinton-Plan und die glücklichen | |
Tage von Oslo – ich bin kein Nostalgiker, aber ich verstehe, wenn du daran | |
hängst. Aber du musst auch den Tatsachen ins Auge sehen: Eure Vision | |
verblasst. Und was habt ihr als Antwort darauf? Nichts? Keine Idee? Kein | |
wirkliches Gespräch? | |
Wir lassen zu, dass die Zweistaatenlösung unser Denken lähmt, und viele | |
Leute haben auch nicht den Mut über Postzweistaatenlösungen zu sprechen, | |
weil sie wissen, dass man ihnen sofort vorwerfen wird, sie versuchten, den | |
jüdischen Staat zu zerstören. | |
Deshalb gilt bei Gesprächen: Rede über die Zweistaatenlösung, selbst wenn | |
du weißt, es wird unmöglich, sie auszuführen – und sprich über keine | |
Alternativen. Kapiert? Gut! | |
Man könnte mich jetzt fragen: Aber was bietest du uns an? Und ich kann nur | |
ehrlich antworten: Zuerst muss damit aufgehört werden, die Tatsache zu | |
leugnen, dass wir uns auf einem Weg befinden, der die Zweistaatenlösung | |
unmöglich macht. Im Augenblick haben wir die Verhandlungen, die John Kerry, | |
der Außenminister der USA, „produziert“: Okay, lass die Diplomaten noch | |
einmal eine amerikanische Produktion erleben, wir nehmen ja alles von | |
Hollywood, warum also nicht auch die Ideen, die vom Außenministerium der | |
USA kommen. | |
## Zynismus – statt einer besseren Zukunft | |
Aber während diese Produktion läuft, lass uns über andere Lösungen | |
nachdenken. Ich schlage Gespräche zwischen Palästinensern, Israelis und | |
allen anderen Seiten vor. Lass uns über 1948 und 1967 reden und neue | |
Modelle entwickeln. Nichts ist perfekt, aber wir können es uns nicht mehr | |
leisten, dass das unsere einzigen Optionen sind: eine Zweistaatenlösung | |
oder der Status quo. | |
Es sollte uns klar sein, dass es so unmöglich weitergehen kann. Du möchtest | |
eine Deadline dafür? Vielleicht 2015? Okay. Mehr geht nicht. Mehr gibt’s | |
nicht. Muss die Besetzung palästinensischer Gebiete eben bis dahin beendet | |
sein. Es gibt eine einfache Regel, die allen Lösungen zugrunde liegt: | |
Demokratie und nicht Apartheid. | |
Der nie enden wollende „Prozess“ schadet: Früher war damit die Hoffnung auf | |
eine bessere Zukunft verbunden, jetzt steht er nur noch für Zynismus und | |
Verzweiflung. Wir haben einen Zustand erreicht, in dem alles bloß noch | |
hoffnungslos scheint. Wenn wir aus dieser gefährlichen Kiste herauswollen, | |
dann sollten wir mutiger sein, wenn wir über unsere Zukunft nachdenken. Es | |
wird allerdings die schlimmsten Konsequenzen nach sich ziehen, fürchte ich, | |
sollten wir auch die nächsten dreißig Jahre weiterhin dasselbe sagen. | |
24 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Nir Baram | |
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