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# taz.de -- Moralische Computerspiele: Spielerische Kapitalismuskritik
> Rollenspiele zwingen zur Interaktion: Der Konsument wird zum Akteur, der
> emotional beteiligt ist. Das eröffnet neue Spielarten der
> Gesellschaftskritik.
Bild: Erst das Eintauchen in die Spielwelt, dann die Moral.
Eben noch die Kinderarbeit in Dritte-Welt-Ländern koordinieren, jetzt
schnell die Selbstmordrate bei Foxconn unter Kontrolle halten. Was wie ein
zynischer Witz klingt, gehört zu den Spiel-Aufgaben in „Phone Story“, einem
Computerspiel, das die Produktionsbedingungen von Apple an den Pranger
stellt: Arbeiter, die sich vom Fabrikdach stürzen, per virtuellem
Sprungtuch aufzufangen – eine unmissverständliche Anspielung an die
Suizid-Serie beim Apple-Zulieferer, die 2010 durch die Presse ging und eine
Debatte über die dortigen Arbeitsbedingungen entfachte.
Solche Formen der Gesellschaftskritik gibt es immer häufiger in Computer-
und Videospielen. Die Reichweite des Mediums macht es zu einem überaus
attraktiven Multiplikator, allein in Deutschland nutzen rund 23 Millionen
Menschen regelmäßig Computerspiele. Sie sind beinahe zu gleichen Anteilen
Frauen und Männer und im Schnitt 31 Jahre alt. Gaming ist raus aus den
Kinderschuhen und längst nicht mehr nur technischer Gegenstand, es ist
kreatives Kulturgut.
„Computerspiele waren zunächst mit den Computerwissenschaften verbunden,
die mit Kreativität nicht so viel zu tun haben. Vielleicht sind wir deshalb
etwas spät dran“, sagt Paolo Pedercini, Entwickler von „Phone Story“, im
Deutschlandradio-Interview.
Pedercini gehört zum Entwicklerkollektiv Molleindustria. Die Gruppe
versteht sich als Culture-Jamming-Projekt, ein Zusammenschluss von
Kreativen, deren Arbeiten die Grenzen zwischen Digitalkunst,
antikommerzieller Subversion und Medienkritik überbrücken wollen.
Derartige Auseinandersetzungen sind nichts Neues in der
Unterhaltungskultur, doch während die klassischen Vehikel der
Gesellschaftskritik – die investigative Dokumentation im Fernsehen, die
aufklärerische Reportage – ihre Konsumenten auf Zuschauen oder Zuhören
beschränken, werden diese im Computerspiel aktiver Teil des Werks, mehr
noch: Sie werden oft zur Triebkraft der Zustände.
## Komplize der Verhältnisse
Der Erzähler in „Phone Story“ spricht von den grausamen Arbeitsbedingungen
in kongolesischen Erzminen, während man als Aufpasser-Avatar unterbezahlten
Fabrikarbeitern Feuer unterm Hintern macht. Später wird das schicke
Mobiltelefon überteuert auf den Markt gebracht.
Die Botschaft der Lehrveranstaltung ist überdeutlich: Hier gibt es viele
Verlierer und einen Gewinner. Monokapitalismus, erklärt in Minuten. Darüber
hinaus führt einem der Rollentausch vor Augen, was man ist – im Spiel wie
im wirklichen Leben als Handykäufer: ein Komplize der Verhältnisse. Der
Titel war für vier Tage im App-Store erhältlich, dann strich Apple das
Spiel aus dem Katalog. Es habe gegen diverse Entwicklerrichtlinien
verstoßen. Die Android-Version gibt es auf [1][phonestory.org].
Vor dem derzeitigen Hintergrund immer neuer Enthüllungen rund um
geheimdienstliche Überwachung könnte die Crowd-Funding-Kampagne für „Data
Dealer“ kaum ein besseres Timing haben: Im Browser Game der
österreichischen Cuteacute Media OG handeln die Spieler mit
Onlineprofildaten. Dabei erfahren sie nicht nur, wie man mit Nutzerdaten
Gewinn machen kann: Das Gameplay will auch für ein kritisches Hinterfragen
von Berichterstattung sensibilisieren. Muckt die Masse via Protest auf,
helfen Imagekampagnen als Ablenkungsmanöver.
Bis jetzt existiert nur eine spielbare Demo-Version. Seit Mitte Juli ist
das Produktionsbudget von 50.000 Dollar beisammen, die Vollversion soll
kostenlos sein. Dabei wird der Titel ausgerechnet auf Facebook vermarktet –
die bloße Existenz des Spiels eine digitale Ohrfeige für den
Netzwerkriesen, im Spiel „tracebook“ genannt.
## Vom Kopmparsen zum Protagonisten
Das Schlüsselwort ist Interaktion. Seit es sie gibt, brechen Videospiele
das traditionelle Verhältnis zwischen Medium und Konsument auf. Wer
mitmacht, wird Teil des Betriebs, schlüpft in zentrale Rollen. Denn in
modernen Titeln sind Spieler keine Komparsen, sie sind Protagonist und
Regieassistent in einem. Die Folge ist eine nie dagewesene Nähe zwischen
Werk und Betrachter, der nun Lenker geworden ist. „In der Interaktion
steckt der Keim einer neuen Gemeinschaft“, schrieb der slowenische
Philosoph Slavoj Žiźek.
Spieler erfahren die Aspekte eines Konflikts quasi am eigenen virtuellen
Leib, indem sie eine eigentlich fremde Perspektive einnehmen.
Untersuchungen im Bereich Transformed Social Interaction zeigen, inwiefern
Nutzer sich ihrem digitalen Stellvertreter identitär verbunden fühlen und
sich in Aspekte seiner virtuellen Erscheinung, einer fiktiven Biografie,
hineindenken.
Der Psychologe Michael Brill, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl
Medienpsychologie der Universität Würzburg, präzisiert: „Versuche haben
gezeigt, dass Probanden mit Vorurteilen älteren Menschen gegenüber ihre
Befangenheit reduzieren, sobald sie einen alt erscheinenden Avatar
steuern.“
Brill zufolge gehen die Transfereffekte so weit, dass Menschen, die
virtuell eine unmoralische Handlung vornahmen, tendenziell dazu neigten,
sich hinterher die Hände zu waschen. Virtuelle Handlung, realer Affekt – so
intensiv, wie ihn kein passiver Medienkonsum erzeugen könnte.
## Kriegspielen mit Reue
Einer der wohl meistdiskutierten Titel zu diesem Thema ist „Spec Ops: The
Line“. Der Shooter der Berliner Entwickler Yager Development brach
vergangenes Jahr mit dem für das Genre üblichen Schwarz-Weiß-Schema der
Feindbilder. Die Entwickler wollten nicht nur zeigen, dass
Kriegsentscheidungen komplizierter sind, als auf den Typen mit Bart und
böser Visage zu ballern.
Im Spiel wird nicht nur die Kampfhandlung selbst, sondern auch deren
Konsequenzen drastisch in Szene gesetzt – und so verdeutlicht, dass „im
Kampf fallen“ und „Kollateralschaden“ nur leere Worthülsen für
unerträgliche Grausamkeiten sind. Ein konzeptionelles Wagnis, wo
konventionelle Spiele auf Euphemismus setzen.
Denn Spieler müssen die Auseinandersetzung auch annehmen, in die Spielwelt
eintauchen und die Identifikation zulassen. Immersion wird dieses Prinzip
genannt: „der Grad an emotionaler Involviertheit, die entscheidend ist für
die Aufnahme der Botschaft. Hier übertreffen Videospiele andere Medien“,
sagt Brill. Wenn den Protagonisten wiederholt schreckliche Bilder
heimsuchen, von Mutter und Kind, verbrannt unter Phosphorbeschuss, wird den
Spielern die Moral der Geschichte direkt vors Gesicht gehalten.
Dadurch, dass man selbst Hand an den virtuellen Abzug legt, wird eine
Barriere aufgelöst, die man beim Anschauen von Filmen wie „Apocalypse Now“,
an dem sich der Plot von „Spec Ops: The Line“ orientiert, zu schätzen wei�…
Als Akteur im virtuellen Feld jedoch kann man vieles, nur wegsehen nicht.
Die Handlung projiziert so die Schuldfrage auf den Spieler, forciert die
Vertiefung.
In Zukunft werden Spiele wie „Data Dealer“ oder „Phone Story“ vielleicht
ebenso zum Pflichtprogramm in Schulen gehören wie einschlägige Filme und
Bücher. Gleichwohl haben diese Computerspiele keinen Automatismus, mit dem
sie ihre Botschaft vermitteln. Genauso braucht es den begleitenden
gesellschaftlichen Diskurs, die Debatte darüber, wie solche Spiele
rezipiert werden. Wenn eine breitere gesellschaftliche Wertschätzung für
die Sujets des Spielegenres entsteht – ein Qualitätsbewusstsein abseits von
Beißreflexen – wird auch weiterer Boden für Gesellschaftskritik innerhalb
der Gaming-Kultur bereitet.
14 Sep 2013
## LINKS
[1] http://www.phonestory.org/
## AUTOREN
Pepe Delabar
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