# taz.de -- 40 Jahre Putsch in Chile: Zum „Urlaub“ nach Deutschland | |
> Unser Autor war sieben Jahre alt, als die Militärs gegen die Regierung | |
> Salvador Allendes putschten. Ein Jahr später floh seine Familie. Eine | |
> Erinnerung. | |
Bild: Ni olvido, ni perdón: Tausende Chilenen erinnern an die Verbrechen der M… | |
Als ich im Sommer 2011 in Südfrankreich Urlaub machte, flogen französische | |
Kampfbomber mehrfach am Tag Einsätze, die in Libyen den Luftkorridor | |
aufrechterhielten. Das durchdringende Geräusch der nicht lokalisierbaren | |
Kampfjets – das Auge sieht sie anders als das Ohr sie hört –, brachte eine | |
unbestimmte Nervosität in mir hervor. | |
Zunächst wurde mir nicht klar, woher das Unbehagen rührte. Bis ich mich | |
erinnerte, an diesen 11. September 1973 in Santiago de Chile, als mich, | |
siebenjährig, im Viertel Independencia, drei Kilometer vom | |
Präsidentenpalast La Moneda entfernt, früh morgens ebenjenes durchdringende | |
Geräusch vor die Haustür trieb und ich die tief fliegenden Düsenjäger sah, | |
die bald darauf den Regierungssitz Salvador Allendes bombardieren sollten. | |
Niemals hatte ich ein unangenehmeres Geräusch gehört. Gleich darauf rannten | |
Nachbarn aufgeregt durch die Straßen. Zwei alte Frauen, Anhängerinnen der | |
Militärs, hissten voller Genugtuung die Flagge. Pick-ups mit aufgestellten | |
Maschinengewehren patrouillierten. Ähnliche Pick-ups wie jene, an deren | |
Heck wir uns morgens dranhängten, um uns so in die Schule fahren zu lassen. | |
Als nächstes lernte ich schnell den Begriff „toque de queda“ kennen. Zu | |
Deutsch: Ausgangssperre. An jenem und dem folgenden Tag durfte niemand das | |
Haus verlassen. Die Tage darauf, lediglich für vier Stunden. Die | |
Ausgangsperre sollte schließlich bis 1987 bestand haben. | |
## Willkür der Militärjunta | |
Abends sahen wir beim einzig verbliebenen Fernsehsender vier Militärs einen | |
Raum betreten und etwas unentschlossen herumstehen. Es folgte ein Cut. Zwei | |
Männer saßen, zwei standen dahinter. Einer trug eine Sonnenbrille und zog | |
ständig die Lippen herunter. | |
Sein Sitznachbar blickte intelligent und entschlossen drein. Einer trug | |
eine weiße Uniform und sah mit seinem akkurat gestutzten Schnauzbart | |
erbärmlich eitel aus. Der Vierte hatte das Gesicht eines geprügelten | |
Hundes. Man nannte sie „Junta Militar“. Das war also der nächste Begriff, | |
den ich an diesen Tag kennenlernte. | |
Auf den Militärputsch folgte eine rücksichtslos durchgeführte „Säuberung | |
der Gesellschaft“. Zuerst politisch-ideologisch, später auch ökonomisch. | |
Willkür war ein Hauptelement der Verfolgung in Chile. Jede und jeden konnte | |
es treffen, aus den nichtigsten Gründen. Die Straßen wurden von kleineren | |
Truppeneinheiten durchpflügt. | |
Es kursierte folgender Witz: Frage: Warum kommen die Soldaten zu den | |
„allanamientos“ (wörtlich: zum Plattmachen, sinngemäß: zu den | |
Durchsuchungen, Anm. d. Autors) immer zu dritt? Antwort: Der eine kann | |
lesen, der Zweite kann schreiben und der Dritte wacht darüber, dass sie | |
keine linken Intellektuellen werden. | |
## Durchsuchungen und Denunziationen | |
Die „allanamientos“, die Durchsuchungen, folgten einem schlichten System: | |
In den Elendsvierteln wurde jedes Haus durchsucht, in den besseren Gegenden | |
galten die Durchsuchungen gezielt Personen, die als Oppositionelle bekannt | |
oder denunziert worden waren. Vor Denunziationen übereifriger Nachbarn oder | |
wirtschaftlicher Konkurrenten war niemand gefeit. Bis in die höchsten | |
Kreise nicht. | |
Bei einem Herausgeber der rechten Tageszeitung El Mercurio, selbst | |
Mitiniator des Putsches, wurde „Das weiße Buch des Kommunismus“, eine vom | |
CIA finanzierte antikommunistische Kampfschrift, konfisziert und später | |
verbrannt. | |
„Das Kapital“ von Karl Marx im Regal hingegen blieb verschont. Sein Sohn, | |
ein langhaariger Bühnenbildner, war zuvor denunziert worden. Bücher, auf | |
denen „cubismo“ stand (damit ist der Kubismus gemeint), wurden mit | |
Kampfschriften aus Fidel Castros Kuba verwechselt und landeten mit anderen | |
auf dem Scheiterhaufen, darunter „Der Widerstand der Materialien“ (Physik) | |
oder die „Rote Serie“ (Medizinhandbücher). | |
Die brutale Mischung von Willkür und Denunziation wurde dadurch potenziert, | |
dass die Soldaten ganz offiziell die Erlaubnis zum Plündern hatten. Sie | |
nahmen, was sie kriegen und tragen konnten. | |
## Freunde verschwanden – ohne Grund | |
Meine Eltern hatten große Angst. Das kannte ich bislang nicht. Vater trug | |
auf einmal Krawatte, ging zum Friseur und war jeden Tag frisch rasiert. | |
Mutter ging kostümiert als Sekretärin. Es legte sich Schweigen und | |
Misstrauen über den Alltag. Die Eltern flüsterten, die Reste verbrannter | |
Bücher lagen im Hinterhof. Angehörige oder Freunde verschwanden ohne Angabe | |
von Gründen. | |
Die Erwachsenen waren nun generell leicht reizbar, voller Trauer, weinten. | |
Wir Kinder hörten von Leichen, die im Fluss Mapocho durch Santiago trieben. | |
Die Pick-ups patrouillierten weiter, man hörte ständig Schüsse, besonders | |
in der Nacht. Als die Schulen wieder öffneten, mussten wir morgens zum | |
Fahnenappell antreten und waren gezwungen, zuvor auswendig gelernte | |
militärische Lieder zu singen. | |
Überhaupt das Militär. Es wurde zum Dreh- und Angelpunkt des alltäglichen | |
Lebens. Meinen persönlichen Lebenstraum sah ich damals schon bald einmal in | |
der chilenischen Marine verwirklicht. | |
Dann wurden wir Kinder unerwartet aufs Land verschickt, zum Großvater, bei | |
dem wir Erdbeeren und Rosinen aßen bis uns ganz schlecht wurde. Beim | |
Verkauf der Früchte auf den Märkten gingen wir zur Hand. | |
## Flucht nach Deutschland | |
Als wir nach Santiago zurückkehrten, stand mein Vater neben gepackten | |
Koffern. Es hieß, er wolle einen längeren Urlaub in Deutschland antreten. | |
Und wir würden nachkommen. Noch immer verstand ich nicht, was da vor sich | |
ging. Das sollte sich ändern. Mit meiner Reise ins Exilland traf mich vier | |
Monate später der Schock. | |
Ich hatte Ohrenschmerzen, verlor binnen wenigen Monaten meine | |
Muttersprache. Verlor meine Erinnerungen, ein Phänomen, das auch nach 40 | |
Jahren anhält. Ich traf im Exil auf Chilenen, die gefoltert worden waren | |
und von den Foltermethoden erzählten. Einige waren zu Krüppeln geschindet | |
worden. Man sprach von Vergewaltigungen durch Hunde und Soldaten oder das | |
man Frauen Ratten in die Vagina eingeführt hatte. | |
Überlebende prügelten sich, weil sie sich gegenseitig die Schuld für die | |
Niederlage gaben. Männer wie Frauen brachen in Weinkrämpfen zusammen. | |
Werktags ging ich in meine Frankfurter Grundschule, verliebte mich in ein | |
blondes Mädchen namens Astrid. Und an den Wochenenden tanzte ich auf | |
Solidaritätskundgebungen herum, bei denen es um Folter, Repression und | |
Ähnliches ging. | |
Informationen aus der Heimat gab es praktisch keine. Telefonate nach Chile | |
verschlangen schnell 100 D-Mark, zu viel bei einem Durchschnittslohn von | |
1.500 D-Mark. Die Briefe wurden geöffnet und brauchten lange. Jeden Freitag | |
sah meine Mutter das „Auslandsjournal“ im deutschen Fernsehen in der | |
Hoffnung auf einen Bericht über Chile. Die Ungewissheit, was in der Heimat | |
vor sich ging, brachte die Erwachsenen um den Verstand. | |
## Rückkehrer standen generell unter Verdacht | |
Anfangs hoffte man, die Militärjunta würde zum nächsten regulären | |
Wahltermin 1976 zurücktreten. Doch schon mit der Inthronisierung des | |
Diktators als Präsidenten Ende 1974 schien die Frage nach einer Rückkehr | |
hinfällig. Bei meinem ersten Besuch 1985 in Chile wurde ich einem | |
langwierigen Verhör unterzogen. Rückkehrer standen generell unter Verdacht. | |
Zwei Bekannte in meinem Alter wurden nach ihrer Heimkehr in Chile ermordet. | |
Ich bin seither oft nach Chile zurückgekehrt und habe es mittlerweile | |
gelernt hinzunehmen, dass ich in ein Land reise, das auch mit der | |
allmählichen Rückkehr zur Demokratie (seit 1988) im Wesentlichen von | |
derselben Elite regiert wird, die durch die Diktatur in groteskester Art | |
und Weise in den Jahren nach 1973 ihre Macht und ihren Reichtum ausweiten | |
konnte. Und dass die Demokratie es bis heute nicht vermocht hat, mehr zu | |
sein als ein korrumpierbares Korrektiv in den Verteilungskämpfen. | |
Nach wie vor gelten große Teile der durch die Militärdiktatur installierten | |
Verfassung von 1980. Das neoliberale Wirtschaftssystem herrscht in | |
aggressivster Form. Gewaltverbrechen wurden juristisch kaum oder völlig | |
unzureichend aufgearbeitet. | |
Dennoch, die Rückkehr zur Demokratie bleibt eine unabdingbare | |
Errungenschaft, eine Emanzipation der Bevölkerung von der militärischen | |
Willkür und Arroganz – ein elementarer Schritt. Seit in Chile die erste | |
Post-Diktatur-Generation erwachsen geworden ist, weht ein neuer Wind. | |
Dieser jungen Generation steckt weder der Schock noch die alte Furie Angst | |
in den Knochen. Es ist eine Generation, die mit allen Mitteln um ihre | |
Zukunft kämpft. Es ist eine Generation, die Chile noch sehr verändern wird. | |
Von manchen Alten hört man heute den Satz: „Wie konnten wir damals so | |
vermessen sein zu glauben, wir könnten Chile verändern.“ Immerhin haben sie | |
es gewagt. Wer kann das schon von sich behaupten? Und die | |
Sozialrevolutionäre waren verdammt gut. So gut, dass sich die halbe Welt | |
zusammentun musste, um ihre demokratische Bewegung zu zerschlagen. | |
11 Sep 2013 | |
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