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# taz.de -- Wahlkämpfer Trittin: Außer Kontrolle
> Jürgen Trittin ist im Wahlkampfmodus, doch für die Grünen läuft es
> schlecht. Der Spitzenkandidat gibt sich entspannt, aber sein Schicksal
> hängt am Wahlergebnis.
Bild: Wird alles gut? Jürgen Trittin will daran glauben.
MANNHEIM taz | Es gibt sie, die Momente, die beweisen, dass auch ein Jürgen
Trittin Nerven hat. Trittin, 59, schaut auf, legt die Stirn in Querfalten,
und fixiert den Journalisten, der gerade seine Frage beendet, wie ein, nun
ja: lästiges Insekt?
Trittin, die störrische Strähne auf der Stirn glatt nach hinten gekämmt,
sitzt neben seiner Ko-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt links auf dem
Podium. Es ist der 5. September, Humboldt-Carré in Berlin-Mitte, ein hoher
Saal, über hundert Journalisten, eine Phalanx aus Fernsehkameras. Großer
Auftrieb.
Es ist eine der wichtigsten PR-Veranstaltungen des rot-grünen Wahlkampfes,
Kretschmann ist da, und Steinbrück und Kraft von der SPD sind auch
gekommen. Und dann fragt dieser Journalist: „Sie gelten seit dem Veggie-Day
als Spaßbremsen, die alles verbieten wollen. Was können Sie gegen dieses
Image tun, Frau Göring-Eckardt?“ Göring-Eckardt öffnet den Mund. Doch bevor
sie etwas sagen kann, legt Trittin los.
Er hält einen Kurzvortrag über die industrielle Landwirtschaft. Über mit
Antibiotika vollgestopfte Puten, über Bauern, die zu „Lohnmästern“
degradiert würden, über die Schäden, die der Soja-Anbau anrichtet.
Übrigens, schnappt er, stünden die Grünen auch gegen Verbote auf – das
Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft zum Beispiel.
Wie ihn das nervt. Verbotspartei, was für ein bescheuertes Klischee. Ist
Merkels CDU, die Lesben Adoptionen verbietet, keine Verbotspartei?
## Fernab des Wahlziels
Trittin, der Hartgesottene, der als Umweltminister das Dosenpfand oder den
Emissionshandel durchboxte, steht unter Feuer, mal wieder. Die Grünen sind
in den Umfragen abgesackt. 9 Prozent, meldete ein Institut Mitte der Woche.
Einstellig, erstmals unter das Wahlergebnis von 2009, das bei 10,7 Prozent
lag. 9 Prozent, das wäre eine Katastrophe nach Fukushima, nach dem Sieg in
Baden-Württemberg und nach der Bekanntgabe eines optimistischen Wahlziels.
13 bis 14 Prozent peilen die Grünen an.
Bei dem Abwärtstrend geht es auch um Trittins Schicksal nach dem 22.
September. Eine Niederlage wäre unweigerlich mit seiner Person verknüpft.
Nicht nur deshalb, weil er wie kein anderer für diesen Wahlkampf steht.
Sondern auch, weil das fein austarierte Steuer- und Finanzkonzept, das
Trittin als sein Meisterwerk betrachtet, für scharfen Gegenwind sorgt.
Beenden die Steuererhöhungen den grünen Traum von der Hegemonie in der
ökobürgerlichen Mitte?
Wenn es ein Wirbelsturm ist, der die Grünen gerade erfasst, dann fährt der
VW-Bus, der an diesem Mittwoch über die A 5 von Mannheim nach Karlsruhe
rollt, im Auge des Sturms. Draußen sanfte Hügel, Dörfer mit
Zwiebelkirchturm, drinnen hat Jürgen Trittin seine 1,97 Meter auf dem
Rücksitz zusammengefaltet. Er schaut noch schnell eines seiner Interviews
auf dem Laptop durch. „Des Kohlestroms“, muss es heißen, Genitiv. So, ist
das auch erledigt.
Der Abwärtsknick? „Diese Erfahrung mache ich seit 20 Jahren in jedem
Wahlkampf.“ Trittin nimmt entspannt einen Schluck aus der Wasserflasche,
steckt sich dann ein Fisherman’s Friend-Bonbon in den Mund. Erst bewerteten
Institute die Grünen zu hoch, kurz vor der Wahl gehe es runter, das
Ergebnis liege dann wieder höher.
Ihm fallen noch andere Gründe ein, die alle nichts mit Steuern zu tun
haben. Die Zuspitzung auf die beiden Großen, auf Merkel und Steinbrück,
nach dem TV-Duell. Das massive Sperrfeuer mächtiger Lobbyverbände, die
gegen Rot-Grün trommeln.
## An den Steuern liegt es nicht
Trittin bemüht sich sehr um den Eindruck, dieser Wirbelsturm sei nur
business as usual. Und die Steuererhöhungen? Sind die für den Knick
verantwortlich? „Wohl kaum: 77 Prozent der Deutschen sind für höhere
Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen – und sogar 86 Prozent der
Grünen-Wähler.“ Zahlen, das waren immer seine beste Waffe. Die hält er
denen in der Partei entgegen, die glauben, die Pläne verprellten Wähler.
Unsere Gutverdiener sind solidarisch genug, das ist die optimistische
Deutung. Die, die Trittin nutzt. Wenn die Wahl schiefgeht, werden das viele
in seiner Partei anders sehen. Trittin hätte dann nicht mehr viele
Optionen. Über Schwarz-Grün bestimmt Merkel, und ihm selbst graust vor
dieser Koalition, weil sie seine ganze Biografie widerlegt. Über
Rot-Rot-Grün bestimmt die SPD, und die will nicht.
Immerhin, Oppositionsführer gegen eine Große Koalition, das wäre auch nicht
ohne Reiz. Er sieht sich, sagt ein Vertrauter, als Politiker in seiner
Blüte. Diejenigen, die 2013 als letzte Chance für Trittin beschreiben,
sollten sich lieber nicht zu früh freuen.
Aber klar ist auch, dass Trittins Zukunft vor allem vom Ergebnis abhängt.
Auch ein cooler, weil selbstbestimmter Abschied ist nicht ausgeschlossen.
## Kontrollverlust vermeiden
Kontrolle ist wichtig für Jürgen Trittin. Er hasst es, sie zu verlieren.
Als seinen größten Fehler hat er mal bezeichnet, dass er den glatzköpfigen
CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer 2001 als Skinhead beschimpfte. Ein
Kontrollverlust, der ihn fast das Ministeramt kostete. Er hat daraus
gelernt. Kaum ein Politiker denkt seine Züge so weit voraus wie Trittin,
keiner antizipiert mögliche Antworten des Gegenübers so genau, keiner
autorisiert seine Interviews so sorgfältig.
Jeder Genitiv ist wichtig. Des Kohlestroms. Im VW-Bus macht sich Trittin
über die Macken seines Korrekturprogramms lustig, während in den
Nachrichtenagenturen die Meldungen über den Umfrageeinbruch rauschen. Es
ist: die perfekte Simulation von Normalität.
Dabei läuft es schlecht für ihn, vorsichtig formuliert. Die SPD kommt nicht
aus dem Knick. Die Pädophilie-Affäre, die Spitzengrüne längst abgehakt
glaubten, wirft ein äußerst unschönes Licht auf eine Partei, die sich
moralisch überlegen fühlt. An Rot-Grün glaubt kaum noch jemand.
Leidet Trittin eigentlich darunter, dass ihm gerade alles ins Rutschen
gerät? „Ich bin in der Hinsicht eher gelassen. Weil ich nach wie vor
glaube, dass es für Schwarz-Gelb mit dieser Wahlkampfstrategie sehr
schwierig wird, eine Mehrheit zu bekommen.“ Wer wie Merkel auf
Einschläferung setzt, bekommt am Ende die eigenen Leute nicht vom Sofa
hoch, heißt das.
## Im Wahlkampfmodus
Auf der Rückbank des VW-Busses fühlt man sich manchmal so, als plaudere man
mit einer sehr freundlichen Betonwand. Trittin ist im Wahlkampfmodus, nie
würde er jetzt seine ehrliche Meinung über Fehler sagen, über den Schaden,
die die Steuern oder die Pädophilie-Vorwürfe wirklich verursachen. Er hat
mit Göring-Eckardt einen beruhigenden Brief an die Mitglieder geschrieben,
in internen Telefonschalten wiederholen sie immer wieder das Gleiche.
Nicht beirren lassen. Durchziehen. Jetzt erst recht. Das alles, so sieht es
Trittin, hat mit Verantwortung zu tun. Auch gegenüber den kämpfenden
Landesverbänden in Bayern und Hessen.
Der Paradeplatz in Mannheim, sauber gemähter Rasen, Blumenrabatte. Trittin
redet, 400 Menschen, Rentner mit beiger Basecaps, tuschelnde Studentinnen.
Trittin reiht die Bausteine seiner bewährten Wahlkampfrede aneinander, die
er je nach Anlass variieren kann. Zu sehen ist hier die kämpferische
Version, bei der er mit der linken Handkante durch die Luft hackt.
Vermögensabgabe, Klimawandel, Energiewende, alles drin.
Eine junge Mutter, dunkle Locken, Kinderwagen, sagt, sie fände die Grünen
schon toll. Nur die Steuerpläne ließen sie zögern. Ihr Mann, gerade
promoviert, und sie hätten nur 60.000 Euro im Jahr.
Genau das könnte Trittins Problem werden. Ihre Familie würde durch seine
Pläne sogar begünstigt. Trotzdem fürchtet sie, etwas abgeben zu müssen. Es
ist das Gefühl: Die meinen mich. Ein Gefühl, gegen dass Trittin hier mit
all seiner Rationalität nicht angekommen ist.
13 Sep 2013
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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