# taz.de -- Pädophilie-Affäre und die Grünen: Die fatale Schweigespirale | |
> Unter dem Deckmantel der sexuellen Befreiung wurden bei den Grünen | |
> pädosexuelle Inhalte transportiert. Heute will sich kaum jemand äußern. | |
Bild: Die Debatte über Pädophilie und die Grünen steht erst am Anfang. | |
Die Grünen halten lieber den Mund, murmeln höchstens von einem besonderen | |
Zeitgeist, raunen von Verirrten und Sektierern, die man längst hinter sich | |
gelassen habe. Nein, mit dem Thema Pädophilie lässt sich für Grüne nicht | |
gut wahlkämpfen. So ist das. Und doch konsterniert die Sprachlosigkeit der | |
grünen Führungsriege. Sie legt einen gravierenden Verlust des zuvor so | |
strotzenden Selbstbewusstseins offen – gerade in der moralischen Hybris, | |
die Partei der Guten zu sein. | |
Der Versuch zu erklären, zu erläutern, auch zu historisieren, wird gar | |
nicht erst unternommen. Geeignete Zeitzeugen dafür hätte die Partei | |
reichlich. Stattdessen hat sich bei den Grünen ein Gemisch aus | |
Ratlosigkeit, Lähmung, ja: Furcht vor der Debatte breitgemacht. | |
Damit stehen die Grünen keinesfalls allein da. Auch früher politisch aktive | |
Bürgerrechtsliberale hüllen sich über diesen Abschnitt ihrer eigenen | |
Biografie vorsichtshalber in Schweigen. Immerhin war es die damalige | |
Jugendorganisation der Regierungspartei FDP, die im März 1980 auf ihrer | |
Bundesdelegiertenkonferenz per Beschluss forderte: „Keine Bestrafung der | |
freiwilligen und einvernehmlichen Sexualität. Die §§ 173 (Inzest), 174 | |
(Sexualität mit Schutzbefohlenen), 175 (Besonderes Schutzalter für | |
männliche Homosexuelle), 176 (Sexualität mit Kindern) sind zu streichen.“ | |
Zwei Jahre danach bekräftigten die Jungdemokraten, sich „für die | |
Emanzipation unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen“ einsetzen zu wollen. | |
Das bedeutete auch, „die Abschaffung des Sexualstrafrechts“ zu fordern. | |
## Honorige Mitglieder der Gesellschaft | |
Seither sind gut 30 Jahre vergangen. Das Gros der damaligen | |
jungdemokratischen Delegierten gehört 2013 beruflich und gesellschaftlich | |
zum mittleren Establishment der Republik. Sie arbeiten als Staatsanwälte, | |
stehen Anwaltskanzleien vor, leiten Bankgeschäfte oder lehren als | |
Professoren. Nur wenige sind noch in der Politik aktiv, einer – Christoph | |
Strässer – sitzt heute für die SPD im Deutschen Bundestag. | |
Sie alle dürften die Debatte über pädophile Umtriebe bei den Grünen in den | |
frühen 1980er Jahren während der letzten Monate verfolgt haben. Aber | |
niemand – soweit wir sehen – äußert sich dazu, keiner versucht, die eigene | |
politische Haltung der damaligen Zeit öffentlich nachvollziehbar zu machen. | |
Niemand liefert Deutungen dafür, was seinerzeit warum für richtig gehalten | |
wurde, heute aufgrund neuer Erfahrungen möglicherweise anders beurteilt | |
werden sollte. | |
Dabei konnte es ja gute Gründe für derlei Willensäußerungen in der ersten | |
Hälfte der 1980er Jahre gegeben haben, die in den aktuellen aufgeregten | |
Verdikten bei diesem Thema zu Unrecht unter den Tisch gefallen sein mögen. | |
Schließlich befand sich eine stattliche Zahl, wenn nicht gar die Mehrheit | |
der Sexualwissenschaftler auf Seiten der Strafrechtsreformer, ebenso die | |
Kriminologen, Vertreter der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Pädagogik. | |
Doch auch in diesem Spektrum schweigt man, statt sich zu erläutern. | |
Die linksliberalen Wochenzeitungen der 1970er Jahre, nicht zuletzt die | |
Zeit, gaben den Protagonisten einer Entkriminalisierung von vermeintlich | |
einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern großzügig | |
Raum. Das galt ebenso für Foren der evangelischen Kirche, für | |
Veranstaltungen und Publikationen der Humanistischen Union und einiger | |
sozialpädagogischer Verbände. Publikumsverlage veröffentlichten | |
einschlägige Bücher in hoher Auflage mit opulenten Renditen. | |
Jetzt schreien alle im Rückblick auf die Nachsichtigkeiten gegenüber | |
Pädophilie in jenem Jahrzehnt „Skandal“; alle rufen nach „Aufarbeitung�… | |
alle legen sich für eine „Wiedergutmachung für die Opfer“ ins Zeug – nur | |
ist damit nie der eigene Verein, die eigene Partei, das eigene Medienhaus | |
gemeint. | |
## Göttingen und Hannover | |
Jürgen Trittin hat vor Kurzem darauf verwiesen, dass es „absurde und irrige | |
Vorstellungen“ gewesen seien, die sich in einige Bundes- und | |
Landesprogramme der Grünen hineingeschlängelt hätten. Aber es gab sie, | |
nicht zu knapp, und sie vagabundierten kräftig durch die linksalternativen | |
Milieus, schlugen sich auch in Kommunalwahlprogrammen von | |
Grünen-Wählergemeinschaften nieder, etwa in Göttingen und Hannover im Jahr | |
1981. | |
In Göttingen übrigens verantwortete der heutige Spitzenkandidat der Grünen | |
für die Bundestagswahlen, Jürgen Trittin, damals noch Student und einer der | |
Göttinger Stadtratskandidaten, presserechtlich dieses Wahlprogramm der | |
Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL). Er ist als eines von fünf | |
Mitgliedern der Schlussredaktion aufgeführt, nur hinter Trittins Namen | |
steht in Klammern V.i.S.d.P. – die Abkürzung für „Verantwortlich im Sinne | |
des Presserechts“. Der Programmabschnitt „Schwule und Lesben“ ist | |
unterzeichnet mit „Homosexuelle Aktion Göttingen“. | |
Die AGIL in Göttingen hatte damit also einfach den Forderungskatalog dieser | |
Gruppierung übernommen – dieses Procedere ist nicht ungewöhnlich für die | |
Grünen in dieser Zeit, die sich damals als Sammlungskraft für sehr | |
unterschiedliche Bewegungen verstanden. Dazu gehörte es auch, | |
verschiedensten Gruppierungen als Plattform zu dienen und ihnen Raum zu | |
geben. | |
Die Göttinger AGIL plädierte 1981 im Programmabschnitt „Schwule und Lesben�… | |
ganz auf der Linie des Grünen-Grundsatzprogramms auf Bundesebene für eine | |
strafrechtliche Freistellung von sexuellen Handlungen zwischen Kindern und | |
Erwachsenen, die nicht unter Anwendung und Androhung von Gewalt zustande | |
kamen. | |
## Die Debatte fängt erst an | |
Die kollektive Amnesie im Alternativmilieu zeigt: Die Debatte über die | |
damals strittigen Strafrechtsparagrafen und die Politik pädophiler Gruppen | |
fängt erst an. Und ob man will oder nicht, man hat einige der Erörterungen | |
jener Jahre, die den meisten von uns heute nachgerade absurd erscheinen, | |
erst einmal wieder zu rekonstruieren und aus dem kulturell-historischen | |
Kontext, vor allem aber auch aus der rechtswissenschaftlichen Diskussion | |
der 1960er und 1970er Jahre zu begreifen. | |
Nicht alle, die seinerzeit das Strafrecht in den Paragrafen 174 und 176 | |
ändern wollten, waren triebhafte Propheten einer exzessiven Libertinage. | |
Nicht jeder war ein kaltblütiger Päderast, der 1980 in den ansonsten | |
geltenden strafrechtlichen Bestimmungen hinreichend Schutz für Kinder gegen | |
gewalttätige Zugriffe sah. | |
Nicht alle waren Wirrköpfe, die Schlussfolgerungen solcher Art aus | |
Untersuchungen von Wissenschaftlern zogen, welche gar von der Deutschen | |
Forschungsgemeinschaft gefördert wurden – wie etwa Rüdiger Lautmanns „Die | |
Lust am Kind“. Denn diese Studien wiesen unzweifelhaft neue Erkenntnisse | |
und tragfähige Empfehlungen aus – allerdings ebenfalls haarsträubende | |
Einseitigkeiten und Fehlurteile. | |
Viele Autoren schauten mit bemerkenswerter Empathie überwiegend auf die | |
Täter und ihre Lebensgeschichte und inneren Nöte, ließen demgegenüber in | |
verblüffendem Maße vergleichbare Aufmerksamkeit, gar Sensibilität für die | |
Opfer vermissen. Andere legten weniger Augenmerk auf den primären | |
Missbrauch als auf die sekundären Traumata der Opfer, die sich als Folge | |
des Strafverfahrens ergaben. | |
## Gegen Repression und Ausgrenzung | |
Allein, ein gewichtiger Teil der Grünen sog in den frühen 1980er Jahre | |
begierig all jene Positionen auf, die eine Fundamentalliberalisierung | |
versprachen, da der Kampf gegen „Repression, Kriminalisierung, Ausgrenzung“ | |
gleichermaßen als Kernelement der eigenen Parteibildung galt. Die | |
Schattenseiten einer Deregulierung des Sexualstrafrechts blieben | |
infolgedessen ausgeblendet. | |
Bei den Grünen, wie bei vielen Bürgerrechtsliberalen, sah man so anfangs | |
über die strukturellen Macht- und Durchsetzungsdifferenzen zwischen | |
Erwachsenen und Kindern hinweg. Man setzte sich nicht damit auseinander, | |
wie subtil der Wille von Kindern jenseits der Anwendung von Gewalt | |
gebrochen werden konnte und welche traumatischen Auswirkungen das auf die | |
weitere Biografie haben musste. | |
Dergleichen warnende Hinweise gab es, bereits damals, durchaus von kundigen | |
Zeitgenossen, aber sie wurden in der Gründungszeit der grünen Partei | |
ignoriert. | |
16 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Franz Walter | |
Stefan Klecha | |
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