| # taz.de -- Keine Rente für Ghetto-Arbeit: Zynisches Spiel auf Zeit | |
| > Engor-Cemachovic musste während des 2. Weltkrieges für die Deutschen | |
| > arbeiten. Als Zwangsarbeiterin wurde sie nie anerkannt. | |
| Bild: Eingangstor vom KZ Stutthof bei Stuttgart: Von hier wurde die 15jährige … | |
| BRÜSSEL taz | Brüssel. Avenue Adolphe Lacomblé 92, 3. Etage. Sarra | |
| Engor-Cemachovic ist erleichtert. Der Aufzug stockte mal wieder, sie wollte | |
| noch Bescheid sagen. Aber es ist ja alles gut gegangen. Ein kurzes | |
| charmantes Lächeln, ein fester Händedruck, sie wirkt in ihrer hellen | |
| Sommerhose deutlich jünger als 84 Jahre. | |
| Durch eine weiße Flügeltür führt sie in ihr stilvoll eingerichtetes | |
| Appartement, auf dem braunen Jugendstiltisch stehen Apfelsaft und Wasser. | |
| Man fühlt sich willkommen bei Sarra Engor-Cemachovic in der Hauptstadt | |
| Europas. | |
| Sie war in diesem Europa vor 70 Jahren nicht willkommen. Dass sie überlebt | |
| hat, ist ein Wunder. Zusammen mit 11.600 Frauen und Mädchen wurde die | |
| damals 15-Jährige am 25. Januar 1945 vom KZ Stutthof aus auf den | |
| „Todesmarsch“ Richtung Westen geschickt. | |
| Es war die letzte Etappe aus der Hölle. In dieser Hölle war Sarra | |
| Engor-Cemachovic Hausmädchen – und ging damit einer „Beschäftigung“ nac… | |
| Wie Zehntausende ihrer Leidensgenossen, die in den über 1.150 Nazi-Gettos | |
| in Ostmitteleuropa für die Deutschen schufteten. | |
| Fünf Jahrzehnte lang existierten Menschen wie Sarra Engor-Cemachovic für | |
| die deutschen „Wiedergutmacher“ nicht. KZ-Opfer, ja, später die | |
| Zwangsarbeiter. Aber Menschen, die in den „Wartesälen der Vernichtung“ | |
| (Bundessozialgericht-Richter Ulrich Steinwedel) noch für die Rente klebten? | |
| Undenkbar. | |
| ## Bundesrat fordert rückwirkende Rente | |
| Sarra Engor-Cemachovic’ Geschichte ist eine Geschichte über | |
| Menschenverachtung, Ignoranz und Überlebenswillen. Es ist die Geschichte | |
| des Holocaust. Gleichzeitig steht sie für ein beschämendes Kapitel | |
| deutscher Wiedergutmachungspolitik, das jetzt noch zu einem versöhnlichen | |
| Ende kommen könnte. Denn der Bundesrat fordert für alle ehemaligen | |
| Getto-Arbeiter rückwirkend eine Rente ab 1997. Für offiziell 22.000 | |
| Menschen wären dies bis zu 400 Millionen Euro. Es wäre eine historische | |
| Entscheidung. | |
| An den Wänden des Appartements unweit eines „EU Business Centers“ hängen | |
| viele Familienfotos mit glücklichen Menschen: Sarra Engor-Cemachovic mit | |
| schwarzen langen Haaren im weißen Brautkleid neben ihrem stattlichen Mann; | |
| ihre Tochter, ihr Sohn, ihre fünf Enkelsöhne, der kleine Urenkel. Fotos von | |
| ihren Eltern und ihrer älteren Schwester fehlen. | |
| ## Chronologie des Grauens | |
| Für das Gespräch hat sie eine kleine Liste vorbereitet, die auf dem edlen | |
| Esstisch liegt: August 1941–Juli 1942: Getto Smorgon; Juli 1942–Januar | |
| 1943: Arbeitslager Ziezmariai; Januar 1943–Juli 1943: Pskow; August | |
| 1943–Januar 1944: KZ Riga; Januar 1944–Januar 1945: KZ Stutthof. Eine | |
| Chronologie des Grauens, das an einem Sommertag im Juli 1941 beginnt. | |
| Smorgon, Polen, 25. Juli 1941. Die Sonne scheint in dem | |
| 30.000-Einwohner-Städtchen nahe der litauischen Grenze. Bauern schneiden | |
| Getreide. Sarra Engor geht in die 6. Klasse und erlebt die glücklichste | |
| Zeit ihrer Kindheit. Die Russen haben Ostpolen zwar seit zwei Jahren | |
| besetzt, aber sie behandeln die Juden gut. | |
| Sarras Vater Solomon ist Metzger, Mutter Cila macht den Haushalt, die drei | |
| Jahre ältere Schwester Miriam ist ein abenteuerlustiger Teenager. Eine | |
| glückliche Familie. Doch Sarra und ihre Freunde ahnen, dass dies kein guter | |
| Tag wird. Die Russen sind schon geflohen, die Schulen sind geschlossen. | |
| Sarra und die anderen Kinder verstecken sich unter einer Brücke. | |
| ## Deutsche Panzer in Smorgon | |
| Gegen Mittag sehen sie von dort zum ersten Mal die deutschen Panzer in | |
| Smorgon einrollen, das bis zur Schoah ein bedeutendes jüdisches Zentrum in | |
| Polen war. Am Morgen danach müssen sie auf dem Dorfplatz antreten, bevor | |
| sie in ein Getto gepfercht werden. „Die Deutschen forderten von jeder | |
| Familie einen Arbeiter.“ Sarra ist erst zwölf, aber groß und mutig. Sie | |
| meldet sich beim Judenrat. Sie putzt, wäscht und kocht für deutsche | |
| Offiziere in Smorgon – neun Monate lang. | |
| „Man hat uns nicht schlecht behandelt. Wir haben sogar Weihnachten | |
| gefeiert“, sagt sie. Sie bekommt eine Mahlzeit am Tag, ihr „Lohn“ für ac… | |
| Stunden Arbeit. Manchmal darf sie ein Stück Brot oder einen Teller Suppe | |
| mit nach Hause nehmen. „Das war ein Festtag für die ganze Familie.“ | |
| Im August 1942 endet „das kleine bisschen Menschlichkeit in der Hölle“ | |
| abrupt: Sarra wird auf dem Bahnhof Smorgon in einen Viehwaggon gesperrt. | |
| Ohne Eltern und Schwester. Nur ein Foto ihres Vaters hat sie dabei, sie | |
| versteckt es unter dem Hemd. Tränen laufen Sarra Engor-Cemachovic über die | |
| Wangen, als sie 71 Jahre später davon erzählt. „So ein kleines Mädchen. Ich | |
| wollte nach Hause.“ Sie kommt ins Arbeitslager Ziezmariai in Litauen. | |
| Eltern und Schwester sollen bald nachkommen. | |
| ## Im Wald erschossen | |
| Kurz darauf bekommt sie einen Brief von ihrer Mutter: Ihr geliebter Vater | |
| ist tot. Wenige Wochen später erfährt sie, dass sie auch ihre Mutter und | |
| ihre Schwester nie wiedersehen wird. Beide sind im Wald von Ponar vor | |
| Vilnius bei Massenhinrichtungen erschossen worden. „Das vergisst man nicht | |
| in seinem Leben.“ | |
| Das Foto ihres Vaters rettet sie von Ziezmariai bis ins KZ Riga. Als sie im | |
| Vernichtungslager Stutthof aus dem Waschraum kommt und die | |
| Sträflingskleidung anziehen muss, ist es verschwunden. Sarra | |
| Engor-Cemachovic senkt den Blick, ihre linke Hand wendet zitternd die Liste | |
| hin und her, die Augen hinter der großen braunen Brille werden feucht. | |
| ## Bundestag beschließt Gesetz | |
| Nach dem Krieg erhält sie 200 DM als Entschädigung für ihre KZ-Haft. Erst | |
| als das Bundessozialgericht (BSG) im Jahr 1997 einer jüdischen Überlebenden | |
| des Gettos Litzmannstadt eine Rente gewährt, stoßen Historiker allmählich | |
| auf eine Forschungslücke: Wie ging das Arbeiten und das Leben im Getto | |
| weiter? Im Jahr 2002 beschließt der Deutsche Bundestag einstimmig das | |
| Gesetz zur „Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ | |
| (ZRBG). | |
| Getto-Arbeiter sollen ab dem 1. 7. 1997 Geld bekommen für eine „Leistung, | |
| die sie erbracht hatten, und nicht nur weil sie den Krieg überlebt hatten“, | |
| wie Stephan Lehnstaedt, Historiker am Deutschen Historischen Institut | |
| Warschau, in seinem aktuellen Aufsatz „Wiedergutmachung im 21. Jahrhundert“ | |
| schreibt. | |
| Sarra Engor-Cemachovic stellt den Antrag, wie 70.000 andere Getto-Arbeiter | |
| auch. Im Fragebogen der Rentenversicherung muss sie angeben, ob sie den | |
| „Arbeitseinsatz“ freiwillig, „durch Vermittlung“ oder durch „Zuweisun… | |
| aufnahm. | |
| Ob sie für ihre „Arbeit“ „Barlohn (ggf. in welcher Höhe täglich/wöche… | |
| und von wem?)“ und „Sachbezüge“ erhielt. Auch „Zeugen für die Arbeits… | |
| im Getto“ oder Dokumente wären hilfreich. Ihr Antrag wird abgelehnt: Sie | |
| hat nicht genug verdient im Getto, und richtig freiwillig war die Tätigkeit | |
| auch nicht. Entgelt? Freiwilligkeit? Zeugen? Dokumente? | |
| ## Nur ein Foto vom Vater | |
| Die Stimme der besonnenen Frau stockt, manche deutsche Wörter fallen ihr | |
| nicht ein: „Wie kann man uns mit normalen Menschen vergleichen? Die Juden | |
| waren keine Menschen, nur eine Nummer. Die von Freiwilligkeit oder Papieren | |
| sprechen, scheinen von la lune (dem Mond; d. Red.) zu kommen. Die Leute | |
| haben keine Ahnung, was da passierte im deutschen Regime.“ Sie formt ihre | |
| Hände zu einem kleinen Quadrat und sagt leise: „Ich hatte ein kleines Foto | |
| von meinem Vater, das war das einzige.“ | |
| 61.000 von 70.000 Anträgen werden abgelehnt. Am beflissensten ist die | |
| Deutsche Rentenversicherung Rheinland, die für Überlebende in Israel und | |
| den Beneluxstaaten zuständig ist. Die Düsseldorfer lehnen 96 Prozent der | |
| Anträge ab: Im Prinzip gab es demnach keine Getto-Arbeit. | |
| Ein willkommener Nebeneffekt: Die Rentenkassen bleiben stabil, und die | |
| Regierung kann an der geplanten Senkung des Beitragssatzes im Jahr 2016 | |
| festhalten. Teilweise strich die Reichsversicherungsanstalt für die | |
| Gettoarbeit sogar Sozialversicherungsbeiträge ein – von Menschen, deren | |
| Zukunft nicht Rente, sondern „Endlösung“ hieß. | |
| 26 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Frank Gerstenberg | |
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