# taz.de -- Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg: Das Lager in der Heide | |
> „Ich will etwas Nützliches tun“, sagt Inessa aus Moskau. Sie sucht mit | |
> anderen Freiwilligen nach Spuren des Kriegsgefangenenlagers Zeithain. | |
Bild: August 1942, sowjetische Kriegsgefangene in Zeithain. Das Foto stammt von… | |
ZEITHAIN taz | Ginster, Pappeln, – die Heidelandschaft dehnt sich aus, so | |
weit das Auge reicht. Der Boden ist uneben. Lange Zeit rollten Panzer über | |
dieses Land. Die sowjetischen Streitkräfte, die in der DDR stationiert | |
waren, nutzten es als Panzerübungsplatz. 1992 zogen sie ab. Jetzt kreist | |
ein Raubvogel am Himmel. Die Sonne knallt. Mit Hüten und Sonnencreme | |
versuchen die Freiwilligen, sich vor ihr zu schützen. Ihre Arme sind von | |
Mücken zerstochen. | |
Trotzdem sind sie guter Dinge: Nicola aus Großbritannien, die in der | |
Finanzbranche arbeitet und ihren Jahresurlaub genommen hat, um an diesem | |
Workcamp teilzunehmen, die Studentinnen Sara aus Italien und Ceren aus der | |
Türkei, der Gymnasiast Aleksandar aus Serbien. Er sagt: „Wir müssen uns an | |
die Vergangenheit erinnern, damit sie sich nicht wiederholt.“ Mit Sägen, | |
Hacken und Wasserflaschen ausgerüstet gehen sie nach Nordwesten. Die | |
ehemalige Lagerstraße von Gebüsch zu befreien, lautet eine ihrer Aufgaben. | |
Der einstige Panzerübungsplatz gehört heute zum Naturschutzgebiet | |
Gohrischheide und Elbniederterrasse Zeithain. Die Gemeinde Zeithain mit | |
5.900 Einwohnern liegt im Norden Sachsens. Mehr noch als das | |
Naturschutzgebiet mit seinen Fledermäusen und Vögeln interessiert die | |
Freiwilligen, was hier vor 70 Jahren geschah. | |
In Zeithain befand sich von 1941 bis 1945 ein Kriegsgefangenenlager. Rund | |
32.000 Menschen starben an Tuberkulose, Fleckfieber, an Unterernährung und | |
Entkräftung. Die meisten waren sowjetische Soldaten. Hinzu kamen Italiener, | |
Polen und andere. | |
## Reste von Stacheldraht | |
Die Baracken, in denen sie hausten, wurden nach dem Krieg abgerissen. Von | |
den Holzhäusern ist nichts geblieben. Hier und da wurden inzwischen die | |
Fundamente der Steingebäude freigelegt. Reste von Stacheldraht, Schuhe und | |
andere Artefakte haben Freiwillige in den vergangenen Jahren gefunden. Seit | |
2003 gibt es jeden Sommer ein Workcamp. Organisator ist der Service Civil | |
International (SCI), der Menschen zu Hilfs- und Friedensdiensten entsendet. | |
In Zeithain wollen die Freiwilligen dabei helfen, Spuren des | |
Kriegsgefangenenlagers sichtbar zu machen. Dafür arbeiten sie werktags von | |
9 bis 16 Uhr ohne Bezahlung. Verpflegung und Unterkunft sind kostenlos, | |
dazu gibt es ein Freizeitprogramm. | |
17 Menschen zwischen 18 und 35 Jahren haben sich in diesem Sommer | |
angemeldet. Manche wollten mal nach Deutschland reisen, das Thema des Camps | |
war dabei eher zweitrangig. Die meisten interessieren sich jedoch für | |
Geschichte. Inessa, Studentin aus Moskau, sagt: „Ich will etwas Nützliches | |
tun.“ | |
Der Historiker Jens Nagel ist Mitarbeiter der Stiftung Sächsische | |
Gedenkstätten und leitet die Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain. Er will, dass | |
künftig „ein historischer Lehrpfad mit Schautafeln“ an das Lager erinnert. | |
Dieser soll durch einen kleinen Teil des Naturschutzgebietes führen. Dort | |
wurden die meisten Überreste des Lagers gefunden. Die Tafeln sollen etwa | |
auf die Lagerstraße, die Entlausungsbaracken und die Unterkünfte der | |
sowjetischen Soldaten hinweisen. Ständiges Personal sei nicht nötig, meint | |
Nagel. | |
## Joseph Goebbels zu Besuch | |
Ohnehin gibt es außerhalb des Naturschutzgebietes eine Ausstellung und | |
einen Ehrenhain mit Gräbern, der in der DDR-Zeit angelegt wurde. Auch er | |
wird von Helfern des SCI gepflegt. Nagel hat auch schon mit der Aktion | |
Sühnezeichen, dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und mit Schülern | |
aus der Region gearbeitet. | |
In der Ausstellung laufen historische Filmaufnahmen: die sowjetischen | |
Kriegsgefangenen von Zeithain, aufgenommen am 26. August 1941. An diesem | |
Tag besuchte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels das Lager. Quälend | |
langsam gleitet die Kamera über die schmutzigen Jacken der Gefangenen, die | |
kaputten Schuhe, über junge Gesichter und die Münder, die eine karge Ration | |
verschlingen. | |
Goebbels notierte in seinem Tagebuch: „Das Gefangenenlager bietet ein | |
grauenhaftes Bild. Die Bolschewisten müssen zum Teil auf der Erde schlafen. | |
Es regnet in Strömen. Sie haben zum Teil kein Dach über dem Kopf; soweit | |
sie es haben, sind die Hallen an den Seiten noch nicht abgedeckt.“ Baracken | |
und Steinhäuser errichteten die Gefangenen erst nach und nach. Sofern sie | |
nicht schwer krank oder verwundet waren, wurden sie von Zeithain aus | |
weitergeschickt zur Arbeit im Nazireich. | |
Der Film sollte den „bolschewistischen Untermenschen“ vorführen. Doch die | |
Naziführung sah davon ab, ihn in der „Wochenschau“ zu präsentieren. Die | |
Gefangenen wirkten zu menschlich. Goebbels schrieb in seinem Tagebuch: | |
„Täglich sich in diesem Gestank aufhalten, mit solchen Typen von Menschen | |
umgehen, sie betreuen und bewachen, das ist auch keine schöne | |
Kriegsaufgabe.“ Der Film zeigt, wie er den „Sonderpferch“ besuchte. Unter | |
freiem Himmel im Morast stehend verbüßten dort Soldaten ihre Strafe. | |
Anlässlich von Goebbels’ Besuch dachte man darüber nach, ihr Essen | |
einzusparen und sie zu erschießen. | |
## Der „Sonderpferch“ wird sichtbar | |
Der Lehrpfad könnte auch den „Sonderpferch“ sichtbar machen. Barbara Schulz | |
weiß inzwischen, wo er sich befand. Die Architektin arbeitet im Auftrag der | |
Stiftung Sächsische Gedenkstätten seit 2003 mit den Freiwilligen. Jetzt | |
weist sie weit über die Heide: „Seht nur, wie groß das Lager war.“ Nicola, | |
die Finanzfachfrau aus Großbritannien, ist schockiert. Das Elend und die | |
schöne Landschaft, das passe nicht zusammen. | |
Mit Sara und Ceren beugt sie sich über eine Mappe von Barbara Schulz. Sie | |
hat ein Aufbaustudium Denkmalpflege absolviert und betreibt hier in | |
Zeithain Bauarchäologie. In der Mappe liegen Dokumente, die sie mit | |
Unterstützung des Sächsischen Landesamtes für Archäologie zusammengetragen | |
hat. Da sind Fotos, die die Nazis angefertigt haben, etwa Innenaufnahmen | |
der Entlausungsbaracken. Da sind Luftaufnahmen der Alliierten von Frühjahr | |
1945. | |
Und schließlich Bilder von dem, was die Erde seit 2003 preisgegeben hat. | |
Diese Fragmente führt Schulz zu einem Puzzle zusammen: Wo genau befanden | |
sich in den Entlausungsbaracken die Wasserbecken, in die jeder Soldat | |
gesteckt wurde? Mit den Freiwilligen hat sie Spuren im Fundament entdeckt. | |
## Sowjetische Kriegsgefangene litten doppelt | |
Barbara Schulz sieht sich als Anwältin einer Personengruppe, welche „unter | |
dem Krieg doppelt gelitten hat“ – sowjetische Kriegsgefangene. Nach Stalins | |
Propaganda gab es sie gar nicht, wer dem Feind in die Hände fiel, galt als | |
Kollaborateur. Deshalb unternahmen sowjetische Behörden denkbar wenig, um | |
das Schicksal von Vermissten aufzuklären. Und deshalb wurden viele | |
ehemalige Kriegsgefangene 1945 in sowjetische Arbeitslager deportiert. | |
Erst nachdem Josef Stalin im März 1953 gestorben war, kamen sie frei. | |
Etliche litten unter Berufsverbot, durften nicht studieren, wurden | |
schikaniert. Erst unter dem russischen Präsidenten Jelzin wurden die Männer | |
Mitte der neunziger Jahre vollständig rehabilitiert. | |
Sowjetische Archive bewahrten die Karteikarten auf, die die Wehrmacht über | |
die Kriegsgefangenen angelegt hatte. Darauf standen Namen, Geburts- und | |
Sterbedaten und weitere Angaben. Erst seit 1996 geben die Archive diese | |
Informationen frei. Seit dem Jahr 2000 werden sie unter Federführung der | |
Stiftung Sächsische Gedenkstätten digitalisiert. Rund 900.000 Datensätze | |
sind schon fertig, sie stehen auf der russischen Webseite | |
[1][www.obd-memorial.ru]. | |
„Aus diesen Listen erfahren manche Familien erst jetzt, was aus ihren | |
Vätern und Großvätern geworden ist“, sagt Barbara Schulz. Das Foto auf der | |
Karteikarte der Wehrmacht ist manchmal das einzige Bild, das von dem | |
Menschen geblieben ist. Dank dieser Karten kann die Gedenkstätte Zeithain | |
zuordnen, wer wo beerdigt wurde. Auf ihrer Homepage hat sie die Namen der | |
Opfer veröffentlicht. Auf dem Gräberfeld, das zum Ehrenhain aus DDR-Tagen | |
gehört, wehen weiße Fahnen mit den Namen und den Lebensdaten, viele der | |
Männer wurden nicht älter als zwanzig Jahre. Ihre Familien können jetzt zu | |
dem Ort fahren, wo sie umgekommen sind. | |
## Etwa hundert Angehörige sind 2012 gekommen | |
Jens Nagel erzählt, dass er 2012 etwa 100 Angehörige betreut hat. „Die | |
meisten melden sich per Mail.“ Manche kommen spontan, wenn sie Deutschland | |
besuchen. Viele Angehörige wollen die Reste des Lagers sehen. Der Lehrpfad | |
würde auch ihnen helfen. Das Areal für den zukünftigen Lehrpfad gehört dem | |
Staatsbetrieb Sachsenforst. | |
Das dazugehörige Naturschutzgebiet wird vom Umweltamt des Landkreises | |
Meißen verwaltet. Auf Anfrage teilte es mit, dass es über den Lehrpfad | |
mehrmals mit der Stiftung Sächsische Gedenkstätten gesprochen habe, „wobei | |
aus naturschutzrechtlicher Sicht die Möglichkeit gesehen wird, einen mit | |
den Belangen des Naturschutzgebietes vereinbarten Lehrpfad einzurichten“. | |
Allerdings liege kein Antrag vor. | |
Naturschützer könnten einwenden, dass die Besucher die Tiere störten. Doch | |
Jens Nagel erwartet keine Massen. Seit 2003 haben die Freiwilligen zum Teil | |
Tausende von Kilometern zurückgelegt, um in Zeithain zu arbeiten. Die | |
meisten stammen aus Osteuropa, Spanien und Italien. Ein Spanier erzählte | |
Jens Nagel: „Bei uns werden die Verbrechen der Franco-Diktatur | |
totgeschwiegen.“ Zwei Japaner flogen nach Deutschland, weil sie wissen | |
wollten, wie das Land mit seiner Vergangenheit umgehe. Japan würde sich | |
nicht ausreichend mit seinen Kriegsverbrechen auseinandersetzen. Jens Nagel | |
sagt: „Von uns hatten sie einen guten Eindruck.“ | |
21 Aug 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.obd-memorial.ru | |
## AUTOREN | |
Josefine Janert | |
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