# taz.de -- Syrien und der Dschihad: Die interne Front | |
> Der Widerstand in Syrien zerfällt immer mehr. Dennoch nehmen einige den | |
> religiösen Eifer der al-Qaida-Kämpfer hin – bis zum Sturz Assads. | |
Bild: Rebellen der Freien Syrischen Armee suchen in Aleppo Schutz hinter Sands�… | |
ALEPPO taz | Bevor der Krieg ausbrach, arbeitete Iqbal im Erdölministerium. | |
Er ist seit 2011 auf allen Demonstrationen gewesen, solange noch | |
Gewaltlosigkeit die Losung war. Der Federhalter in seiner Hand stammt von | |
einer Kollegin. Eine junge Alawitin, aus der Minderheit, der auch die | |
Präsidentenfamilie Assad angehört. Sie gab Iqbal den Stift, bevor sie | |
wegging. Das war im vorigen Jahr, die Feuergefechte in Aleppo hatten gerade | |
begonnen. Seither hat der Ingenieur sie nicht mehr gesehen. Die Kollegin | |
ist nach Lattakia geflüchtet, an die Küste, wo die Mehrzahl der Alawiten | |
lebt. Iqbal betrachtet den Stift in seiner Hand und sagt dann: „Wenn sie | |
sie finden, schneiden sie ihr die Kehle durch.“ | |
Der Krieg in Syrien wird mit dem Ende des Regimes nicht vorbei sein. Es | |
könnte noch schlimmer kommen – eine grausame Abrechnung mit den Alawiten. | |
Und deswegen glaubt Iqbal nicht mehr an die Revolution. Er ist nicht allein | |
damit. Neben den Fürsprechern des Friedens, all den Leuten, die müde sind, | |
die es satthaben und die bereit sind, die Freiheit gegen Sicherheit | |
einzutauschen, wächst die Gruppe der Reumütigen. Gestern marschierten sie | |
noch auf der Straße, heute wissen sie nicht mehr, mit wem sie demonstrieren | |
sollen, weil sie fürchten, das Land verwandelt sich in ein Meer aus Blut. | |
Sie haben Angst zu reden, weil sie in den Augen der Freien Syrischen Armee | |
(FSA) und ihrer islamistischen Flügel nicht als Verräter gelten wollen. | |
Wenn man hartnäckig nachfragt, geben sie zu, dass, seit die Bewegung zu den | |
Waffen gegriffen hat, zu viele Fehler gemacht wurden. Für Iqbal war die | |
Geschichte mit den plündernden FSA-Kämpfern in Aleppo noch das geringere | |
Übel. Was ihn viel mehr beunruhigt, ist der Pakt mit den Milizen der | |
Fundamentalisten. | |
## Ein islamisches Kalifat schaffen | |
Iqbal meint nicht den Revoluzzer-Look der jungen Männer in Aleppo: | |
Tarnanzug und wilder Bartwuchs, was sie halb wie Partisanen halb wie | |
Dschihad-Kämpfern aussehen lässt. Er meint nicht die Reden des Imam am | |
Freitag in der Moschee, die den Wert der toten Märtyrer preisen. Er meint | |
nicht die Milizen der Salafisten und die syrischen Muslimbrüder, die Geld | |
von Saudi-Arabien und aus Katar erhalten. Er meint auch nicht die | |
Amerikanern und ihre Ziele in Syrien. | |
Iqbal spricht von al-Qaida, die in Syrien mit zwei Gruppierungen vertreten | |
ist: der Gruppe Islamischer Staat im Irak und in Syrien (Isis), | |
Gefolgsleuten von Abu Bakr al-Baghdadi im Irak, sowie der Al-Nusra-Front, | |
die von Mohammad al-Julani angeführt wird und zu den Getreuen von | |
Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri zählt. Auch wenn sie konkurrieren und | |
einander bekämpfen, haben die beiden Gruppen ein gemeinsames Ziel: ein | |
islamisches Kalifat in Syrien zu schaffen. Aus diesem Grund erkennen sie | |
die syrische Opposition nicht an, nicht einmal die Führung der Freien | |
Syrischen Armee, auch wenn sie mit ihr punktuell militärisch | |
zusammenarbeiten. | |
Dafür, dass sie eine Minderheit sind (sie sollen etwa 10 Prozent der | |
bewaffneten Kräfte der Opposition stellen), machen die Al-Qaida-Leute in | |
Syrien viel von sich reden. Das verdanken sie ihren bedeutenden | |
militärischen Eroberungen durch die Selbstmordanschläge, das verdanken sie | |
ihrem religiösen Fanatismus, mit dem sie die von ihnen verwalteten Zonen | |
regieren (Rakka, einige Dörfer in der Umgebung von Idlib und Aleppo, Deir | |
al-Sor). Was auch zählt, ist, wie mühelos sie über jeden Verdacht einer | |
Zusammenarbeit mit dem Regime erhaben scheinen. Außerdem macht ihr | |
Fanatismus vielen schlicht Angst. | |
## Anderer Blick aus dem Exil | |
Auch Wassim geht es so. Man findet ihn im Lokal der Aktivisten seines | |
Viertels in Aleppo, wo er jetzt als Bürgerjournalist auf Facebook | |
berichtet. „Zu Beginn der Revolution haben wir ’eins, eins, eins’ gesunge… | |
’Das syrische Volks ist eins‘ “, sagt er. „Das stimmt nicht mehr. Die | |
Aktivisten im Exil werden dir zwar sagen, dass die syrische Gesellschaft | |
gemäßigt und tolerant ist und dass das Sektierertum nicht die Oberhand | |
gewinnen wird. Das mag ja für uns Zivilisten gelten, aber nicht für die | |
Rebellen.“ | |
Um besser zu erklären, was er meint, geht Wassim ins Internet und zeigt ein | |
Youtube-Video. „Polizei der Ungläubigen, wartet ihr Alawiten, wir werden | |
euch die Kehle aufschlitzen. Schiiten, wir werden euch abschlachten!“ Der | |
Sänger ist kein Syrer. Vom Akzent her könnte er Saudi sein: dichter Bart, | |
kariertes Shirt und lilafarbene Jacke. Er schwenkt das Mikro und singt das | |
Lied, das viele in Angst versetzt: die Hymne der Al-Qaida-Brigaden in | |
Syrien gegen die Schiiten. „Unser Führer ist Bin Laden. Unser Führer ist | |
Mullah Omar. Wir haben Amerika zerstört. Ein Flugzeug hat die Twin Towers | |
in Staub und Asche gelegt!“ | |
Der Videoclip wurde im Juni 2013 in Taftanas in der Idlib-Provinz gedreht. | |
Wassin drückt auf „Pause“ und zeigt ein Bild mit Solidaritätsbekundungen | |
für al-Qaida in Mali. Dann drückt er wieder auf „Play“. Um den Sänger he… | |
sieht man Dutzende junger Männer, die die schwarzen Flaggen von al-Qaida | |
schwenken und skandieren: „Ihr nennt uns Terroristen, das ehrt uns.“ Und | |
noch mal: „Ihr Schiiten, wir kommen und schlachten euch ab! “ | |
## „Die Waffen steigen ihn zu Kopf“ | |
Was für ein Unterschied: die Slogans der gewaltfreien Bewegung von 2011 und | |
die Hassparolen, die das Syrien des Krieges infiziert haben. Wassim blödelt | |
einen Moment herum und trällert den Refrain des Liedes, dann macht er den | |
Computer aus und zündet sich eine Zigarette an. „Noch sind sie eine | |
Minderheit“, sagt er, „aber sie sind äußerst gefährlich. Sie glauben, ei… | |
Krieg gegen die Alawiten und gegen die Schiiten im Allgemeinen kämpfen zu | |
müssen, weil Assad diese Allianzen mit dem Iran und der Hisbollah hat. Es | |
sind ungebildete Jungs aus der Unterschicht. Die Waffen sind ihnen zu Kopf | |
gestiegen, haben sie grausam werden lassen. Zu töten ist banal geworden. | |
Sie wollen nur das Blut des Feindes.“ | |
Es scheint, als hätte das Regime eine Zeitbombe gelegt. Seit Beginn der | |
Proteste hat Assad darauf gesetzt, die Bevölkerung zu spalten. Er ließ die | |
sunnitischen Viertel von den alawitischen aus bombardieren und rekrutierte | |
unter den Alawiten die Männer für seine Tötungskommandos. Es dauerte nicht | |
lange, bis der jahrhundertealte Hass wieder hochkam, eine Folge der vielen | |
Kriege zwischen Sunniten und Schiiten. Für die Al-Qaida-Kämpfer in Syrien | |
sind Alawiten und Schiiten der Feind schlechthin, Ungläubige; ihr Blut soll | |
das der 150.000 sunnitischen Märtyrer reinwaschen, die in diesen zwei | |
Jahren von den Truppen des Regimes ermordet wurden. | |
Abu Adel hat mit Al-Qaida-Leuten an verschiedenen Fronten gekämpft. Noch | |
vor zwei Jahren wollte er Ingenieur werden und interessierte sich | |
leidenschaftlich für Fußball. Zu den ersten Protestmärschen ging er | |
gemeinsam mit Wassin. Dann trennten sich ihre Wege. Wassin engagierte sich | |
im zivilen Widerstand, Abu Adel schloss sich dem bewaffneten Kampf an. | |
## Auch europäische Kämpfer | |
„Fast alle sind Ausländer“, sagt er über die Isis-Leute. „Die wichtigste | |
Miliz ist die aus dem Kaukasus, Tschetschenen, die sich aber Anfang | |
September von der Isis losgesagt haben, weil sie ihnen zu extremistisch | |
seien. Und das aus ihrem Mund! Die anderen sind überwiegend Libyer, | |
Algerier, Tunesier, aber es sind auch Jungs aus Pakistan, Australien und | |
Europa dabei. Die kontrollieren die Grenze bei Atma, von dort schmuggeln | |
sie Waffen und Freiwillige aus dem Ausland rein.“ | |
Auch aus Europa. Franzosen, Engländer, manche ohne militärische Erfahrung. | |
„Einige kommen mit dem aufrichtigen Wunsch, ihren syrischen Brüdern zu | |
Hilfe zu eilen“, sagt Abu Adel. „Aber es gibt auch ganz andere Kandidaten. | |
Ich habe einen Typen aus Dagestan getroffen, auf dessen Arm ein Kreuz | |
tätowiert war. Das Jahr zuvor schlief er noch auf den Straßen Moskaus, ein | |
Alkoholiker. Dann lernte er einen Tschetschenen kennen, konvertierte und | |
kam als Kämpfer hierher. Ein anderer, Tadschike, hat dreißig Jahre Dschihad | |
hinter sich. Dreißig Jahre! Der war in Afghanistan, Tschetschenien, im | |
Irak, in Somalia, und bevor er hierher kam, in Mali.“ | |
## Waffenstillstand an der internen Front | |
Abu Adel lächelt ein bisschen, während er erzählt. „Es sind Fanatiker, | |
zugegeben, aber sie helfen uns. Wenn das Regime gestürzt ist, werden wir | |
uns mit ihnen auseinandersetzen.“ | |
Nur fünf Tage später haben Al-Qaida-Kämpfer in Asas, drei Kilometer vor der | |
türkischen Grenze, Truppen der Freien Syrischen Armee angegriffen, das war | |
am 18. September. Die Auseinandersetzungen endeten mit einem | |
Waffenstillstand. Niemand glaubt, dass er lange halten wird. Im Gegenteil, | |
die meisten denken, dass jetzt die Stunde der Abrechnung zwischen | |
Islamisten und Gemäßigten gekommen ist. Ein interne Front, die die | |
bewaffnete Opposition schwächen und das Regime stärken könnte. | |
Aus dem Italienischen Sabine Seifert | |
3 Oct 2013 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Del Grande | |
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