Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zivilisten im syrischen Bürgerkrieg: Das Leben ist stärker
> Die Einwohner Aleppos leben zwischen den Fronten. Doch ihr Alltag geht
> weiter, die tödliche Gefahr weicht einer kollektiven Verdrängung.
Bild: Die Gefahr durch Scharfschützen ist in Aleppo allgegenwärtig.
ALEPPO taz | Seit drei Tagen ist das Viertel Ashrafiya Schauplatz heftiger
Kämpfe zwischen Opposition und Regime. Nur eine Straße gibt es, um das
Viertel zu verlassen, sie liegt im Schussfeld der Heckenschützen der PKK,
den kurdischen Unabhängigkeitskämpfern. Heute morgen entscheiden wir, es
endlich zu versuchen. Schon nach drei Tagen haben wir uns daran gewöhnt,
dass Patronen über unsere Köpfe pfeifen. Erstaunlich, wie schnell man nicht
mehr an Gefahr denkt.
Zusammen mit sechs anderen Passagieren steigen wir auf den Lkw-Anhänger,
alle sind Zivilisten, Einwohner des Viertels, die zum Teil täglich diese
Strecke zurücklegen, und sei es nur, um Einkäufe zu machen. Wir legen uns
platt auf den rostigen, öligen Boden des Anhängers, damit uns die
Seitenwände so gut wie möglich schützen. Und so, die Augen nach oben in den
weißen Mittagshimmel gerichtet, fahren wir mit voller Geschwindigkeit los,
über die nicht asphaltierte Straße, über Schlagloch um Schlagloch.
Einen Moment später sind wir in einer anderen Stadt. Wir haben das Gefährt
gewechselt, sitzen in einem Kleinbus, eingekeilt in den dichten Verkehr des
Viertels Bustan al-Kasir. Zum ersten Mal sehe ich wieder Leben. Wir sind in
den Gassen des Marktes unterwegs. Es riecht nach Kümmel und Brathähnchen,
an den Ständen stapeln sich Berge von Tomaten, Wassermelonen, Auberginen,
Gurken.
Auf den Bürgersteigen reparieren Mechaniker Fahrräder und Motoren, beim
Barbier hat sich eine Schlange gebildet, Fett trieft von den
Schawarma-Spießen, Mädchen sind in den Modegeschäften auf Suche nach
Klamotten. Von der Freien Syrischen Armee dagegen keine Spur.
Ein Radfahrer quert vor uns die Straße, auf dem Gepäckträger sitzt sein
kleiner Sohn, ein Eishörnchen in der Hand. Auf der anderen Straßenseite
macht eine Frau im Schatten eines Baums Halt, mit einer Hand streichelt sie
sich über den Bauch, sie ist hochschwanger.
Der Anblick hinterlässt bei mir tiefen Eindruck. Ich frage mich, warum ist
sie noch hier, warum will sie ein Kind gebären, in einer Stadt, in der die
Bomben täglich das Leben Dutzender junger Menschen verschlingen? In
Wirklichkeit, glaube ich, steckt kaum ein romantischer oder revolutionärer
Impetus dahinter. Die Wahrheit ist einfacher: Für die Armen gibt es keine
andere Wahl, als zu bleiben. Mittlerweile gibt es in Aleppo nichts
Banaleres als den Tod.
## Spielplatz als Massengrab
Sogar die Parks sind zu Friedhöfen geworden. Sogar auf einem Spielplatz von
Bustan al-Kasir findet sich ein Massengrab. Die 85 Toten waren allesamt
Zivilisten, die in den Gefängnissen des Regimes hingerichtet und dann im
letzten Januar in den Fluss geworfen wurden. Man sieht nur einfache, in die
Erde gerammte Steine, kaum eines der Opfer konnte identifiziert werden. Nur
ein paar Meter entfernt spielen Kinder auf den Rutschen und Schaukeln. Es
scheint, als wäre am Ende das Leben stärker als alles andere.
Um zu begreifen, wie weit die kollektive Verdrängung der Gefahr reicht,
muss man nur den Markt durchqueren, bis zu jenem Punkt, den die Leute
einfach „ma’bar“ nennen, „Übergang“. Er ist die Grenze zwischen der …
des Regimes und der Stadt der Rebellen. Händler passieren ihn, Frauen, die
Angehörige besuchen, Angestellte auf dem Weg zur Arbeit, Spione oder
künftige Attentäter.
Seit es vor einem Monat den Oppositionsbrigaden gelungen ist, die Stadt
einzukesseln und die Nachschublieferungen abzuschneiden, herrscht am ma’bar
enormer Andrang . Die Belagerung hat die Preise in den vom Regime
kontrollierten Vierteln enorm ansteigen lassen. Täglich kommen Tausende, um
in den befreiten Zonen einzukaufen, der vormals kleine Markt von Bustan
al-Kasir ist heute der größte Aleppos.
Es sind zu viele Menschen am Übergang unterwegs, als dass das Regime ihn
noch kontrollieren könnte. Nur der Terror bleibt, um den Strom zu bremsen.
Hoch um den Platz erheben sich das Minarett einer Moschee und das Gebäude
der Stadtverwaltung. Dort liegen die Heckenschützen, gewöhnlich schießen
sie zweimal am Tag in die Menge. Letzte Woche: Drei Tote auf einen Schlag,
Panik, Flucht – nach zwei Minuten drängeln sich die Menschen wie vorher.
## Heiraten bevor es zu spät ist
Warum sich sorgen? Nach mehr als zwei Jahren haben die Menschen gelernt,
dass jeder Augenblick Leben der letzte sein könnte. Das zeigen nicht nur
die vollen Märkte, die schwangeren Frauen oder die Flüchtlinge, die
inzwischen aus der Türkei zurückkehren – mehr noch die Hochzeiten.
Zu Heiraten war noch nie so preiswert. 1.000 Euro reichen für die
Aussteuer, man muss kein großes Fest organisieren, und die Familien machen
weniger Probleme, wenn es um die Zustimmung zur Heirat geht. Vor zehn Tagen
haben die Jungs einer Oppositionsbrigade ein kollektives Fest veranstaltet:
Es heirateten gleich 25 Paare.
Aleppo ist aber nicht nur eine Stadt, die lebt, indem sie die Gegenwart
verdrängt. Man muss bloß um eine Straßenecke biegen, um sich vor einer
Schar von Straßenkindern zu finden – die Augen müde, die schmutzigen Hände
bettelnd ausgestreckt.
Oder um die Bagger am Werk zu sehen, zwischen den Trümmern zweier
achtstöckiger Wohnhäuser, die am 16. August nach einem Raketeneinschlag
eingestürzt sind. Das Ziel der Regimetruppen war die Schule gegenüber, in
der sich eine Oppositionsbrigade einquartiert hatte. Aber die Rakete
verfehlte ihr Ziel. Es war früher Nachmittag, fast nur Frauen und Kinder
hielten sich in dem Wohnblock auf. 200 wurden getötet.
Doch das Leben geht weiter. Die Leute von Nebenan haben nicht etwa die
Koffer gepackt, sondern zu Kelle und Zement gegriffen, um die
Explosionsschäden notdürftig auszubessern.
14 Sep 2013
## AUTOREN
Gabriele Del Grande
## TAGS
Aleppo
Syrischer Bürgerkrieg
PKK
Syrische Flüchtlinge
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Flüchtlinge
Libanon
Baschar al-Assad
Schwerpunkt Syrien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Frauenarmee der PKK: Töchter der Berge
Wenn sie frei sein wolle, müsse sie in die Berge gehen, riet die Mutter
Zelal. Die Frauenarmee der PKK bietet jungen Kurdinnen oftmals Schutz vor
der Zwangsheirat.
Syrische Flüchtlinge: Tod im Krieg oder Tod im Meer
Eine halbe Million Syrer sind in die Türkei geflohen. Jetzt ist die Grenze
dicht. Viele Flüchtlinge wollen weiter – nach Europa. Eine gefährliche
Reise.
Syrien und der Dschihad: Die interne Front
Der Widerstand in Syrien zerfällt immer mehr. Dennoch nehmen einige den
religiösen Eifer der al-Qaida-Kämpfer hin – bis zum Sturz Assads.
Syrische Flüchtlinge in Deutschland: Hauptsache, Sicherheit
„Keine Politik“, hat Omar Hashim Nowir vor dem Gespräch gesagt. Er will mit
seiner Familie in Deutschland neu anfangen. Was sie erwartet, wissen sie
nicht.
Binnenflüchtlinge in Syrien: Die ausgebuchten Elendshotels
Mehr als vier Millionen Syrer sind zu Flüchtlingen im eigenen Land
geworden. In der Hauptstadt wohnen sie in überfüllten Hotelräumen oder auf
der Straße.
Digitale Warnsysteme im Syrienkrieg: Mit Apps einfach sicherer
Die Auseinandersetzungen in Syrien weiten sich schon länger auf den Libanon
aus. Die Libanesen verteidigen sich mit Apps.
Debatte Syrischer Bürgerkrieg: Eine Vision für Syrien
Das Gebot der Nichteinmischung wird zur Farce, wenn ein Staat seine
Bevölkerung massakriert. In Syrien könnte der Frieden erzwungen werden.
Kriegsfotografie und journalistische Ethik: Im Angesicht des Todes
Nie war Fotojournalismus in Krisen- und Kriegsgebieten so einfach wie
heute. Aber ist es richtig, die grausamen Bilder der Opfer zu zeigen?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.