| # taz.de -- Debatte Mindestlohn: Die Hürde nach dem Ziel | |
| > So gut wie beschlossen, aber noch zu regeln: Erst die Form entscheidet | |
| > darüber, ob Lohnuntergrenzen nachhaltige Wirkung entfalten. | |
| Bild: Hoffentlich erhält er den Mindestlohn: Gebäudereiniger am Kanzleramt. | |
| Ein eindeutiges Ergebnis hat die Bundestagwahl schon hervorgebracht: | |
| Deutschland bekommt einen gesetzlichen Mindestlohn. Damit erreicht eine | |
| mehr als zehn Jahre währende Debatte die Zielgerade. Zumindest dem Anschein | |
| nach. Tatsächlich ist aber noch unklar, in welcher Form dieser Mindestlohn | |
| umgesetzt werden soll – und davon hängen Reichweite und Wirksamkeit des | |
| Mindestlohns schließlich ab. | |
| Ein kritischer Blick auf die Möglichkeiten lohnt also allemal: Da ist | |
| zunächst das von Teilen der CDU favorisierte Modell der Lohnuntergrenzen. | |
| Sie sollen von Arbeitgebern und Gewerkschaften festgelegt werden, wobei | |
| mehrere solcher Grenzen bestimmt werden können, die sich auf bestimmte | |
| Regionen, Branchen, Beschäftigtengruppen beziehen. Gelten sollen die | |
| Lohnuntergrenzen nur dort, wo es keine Tarifverträge gibt. | |
| In eine ähnliche Richtung geht das bereits 2012 von Schwarz-Rot in | |
| Thüringen entwickelte Modell, das heute als möglicher Kompromiss einer | |
| Großen Koalition gehandelt wird. Der Unterschied zum CDU-Modell liegt vor | |
| allem darin, dass es keinen Flickenteppich verschiedener Lohnuntergrenzen | |
| geben soll, sondern einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn, der auch | |
| von Tarifverträgen nicht unterschritten werden darf. Beide Vorschläge | |
| halten die Politik mit dem Verweis auf die Tarifautonomie aus der | |
| Entscheidung über Höhe und Entwicklung des Mindestlohns heraus. Die | |
| Regierung hätte lediglich die Aufgabe, dem von den Tarifvertragsparteien | |
| ausgehandelten Mindestlohn per Gesetz allgemeine Gültigkeit zu verleihen. | |
| Das Modell eines solchen quasi tarifvertraglich ausgehandelten Mindestlohns | |
| steht vor einer Reihe grundlegender Probleme. Zunächst erscheint es mehr | |
| als fraglich, dass jene Arbeitgebervertreter, die den gesetzlichen | |
| Mindestlohn eigentlich für Teufelswerk halten, plötzlich konstruktiv an | |
| seiner Ausgestaltung mitarbeiten. Über entsprechend schlechte Erfahrungen | |
| können jene Bundesländer berichten, die zur Anpassung der | |
| vergabespezifischen Mindestlöhne für öffentliche Aufträge eigene | |
| Kommissionen eingerichtet haben. Die eher widerwillig in diesen Gremien | |
| vertretenen Arbeitgeber konzentrieren ihre Aktivitäten bislang vor allem | |
| darauf, den Mindestlohn, da sie ihn schon nicht verhindern können, samt | |
| seiner Erhöhung dann doch möglichst klein zu halten. | |
| Der Arbeitnehmerseite in diesen Kommissionen fehlt es unterdessen an | |
| Instrumenten der Macht, um angemessene Mindestlohnsteigerungen | |
| durchzusetzen. Es geht hier eben nicht um wirkliche Tarifverhandlungen, die | |
| beispielsweise auch die Möglichkeit von Streiks einschließen würden. Im | |
| Thüringer Modell ist für den nicht unwahrscheinlichen Fall einer | |
| gegenseitigen Blockade von Arbeitgebern und Gewerkschaften die Einsetzung | |
| eines Schlichters vorgesehen, dem im Konfliktfall die entscheidende Stimme | |
| zukommt. Übertragen auf ganz Deutschland würde die Höhe des Mindestlohns | |
| von der Auffassung einer einzigen Person abhängig gemacht. | |
| Was in den CDU-Modellen heroisch mit der Tarifautonomie gerechtfertigt | |
| wird, ist bei genauerem Hinsehen also nichts anderes als eine Verweigerung | |
| der Politik, Verantwortung für einen angemessenen Mindestlohn zu | |
| übernehmen. Sie verkennen zudem die Tatsache, dass die ganze Debatte um den | |
| Mindestlohn in Deutschland nur deshalb geführt wird, weil die | |
| Tarifautonomie in Teilen der deutschen Wirtschaft eben nicht mehr | |
| funktioniert. | |
| Das von SPD, Grünen und der Linken bevorzugte Alternativmodell geht daher | |
| zu Recht davon aus, dass möglichen Kommissionen lediglich eine beratende | |
| Funktion zukommt, das Entscheidungsrecht über die Höhe des Mindestlohns | |
| jedoch letztlich immer bei der Politik verbleibt. Das Vorbild für dieses | |
| Modell bildet die britische Low Pay Commission, die jährlich auf der | |
| Grundlage umfangreicher Analysen Empfehlungen für die Anpassung des | |
| Mindestlohns ausspricht. In der Low Pay Commission sind neben Arbeitgebern | |
| und Gewerkschaften zu einem Drittel auch Wissenschaftler vertreten, was | |
| nicht nur zur Versachlichung der Debatten beitragen soll, sondern zugleich | |
| auch Abstimmungsblockaden verhindert. Eine Voraussetzung für das | |
| Funktionieren des britischen Modells besteht nicht zuletzt aber darin, dass | |
| alle wissenschaftlichen Vertreter innerhalb der Low Pay Commission dem | |
| Gedanken des Mindestlohns prinzipiell aufgeschlossen gegenüberstehen. Auf | |
| Deutschland lässt sich das so nicht übertragen: Nach wie vor verharren | |
| relevante Teile der hiesigen Ökonomenzunft in Fundamentalopposition zum | |
| Mindestlohn. Schaut man zudem auf die Ergebnisse der Low Pay Commission, | |
| ist der Glanz der Anfangszeit rasch verflogen. Zwar stieg der britische | |
| Mindestlohn in den ersten Jahren nach seiner Einführung relativ kräftig, | |
| seit Ende des vergangenen Jahrzehnts lagen die Anpassungen jedoch stets | |
| unterhalb der Inflationsrate. Der britische Mindestlohn ist de facto ein | |
| Armutslohn. | |
| Als Alternative böte sich deshalb ein bislang in Deutschland wenig | |
| diskutiertes drittes Modell an, das etwa Frankreich und die Beneluxstaaten | |
| praktizieren. Dort wird der Mindestlohn regelmäßig an die durchschnittliche | |
| Entwicklung der Preise und Reallöhne angepasst. Erst auf der Grundlage | |
| dieser gesetzlich garantierten Mindestanpassung entscheidet dann der Staat | |
| in Kooperation mit Arbeitgebern und Gewerkschaften über weitere | |
| Anpassungen. Eine solche Politisierung des Mindestlohns schürt in | |
| Deutschland die Angst, dass jeder Wahlkampf die Mindestlöhne weiter in die | |
| Höhe treibt. Schaut man auf die tatsächliche Entwicklung der Mindestlöhne | |
| in Europa, so erweist sich diese Befürchtung aber als bloße Schimäre. | |
| Wobei es natürlich sinnvoll ist, die Erfahrungen von Arbeitgebern, | |
| Gewerkschaften und Wissenschaft zu berücksichtigen und auch institutionell | |
| in die Entwicklung des Mindestlohns einzubauen. Die Frage, wie hoch ein | |
| angemessener Mindestlohn in Deutschland sein soll, bleibt jedoch eine | |
| grundlegende gesellschaftspolitische Frage, deren Debatte nicht auf kleine | |
| Expertenzirkel in Hinterzimmern beschränkt werden sollte. | |
| 23 Oct 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Thorsten Schulten | |
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