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# taz.de -- Hausbesuch bei Sinti-Familien: Mit Hornhaut auf der Seele
> Sie sprechen Pfälzisch, Hessisch, Bayrisch oder auch Romanes. Die Familie
> Lagrenes lebt seit Jahrhunderten in Deutschland. Ganz einfach ist das
> nicht.
Bild: Auf dem Foto vereint: Die Lagrenes in Mannheim
Beim Gedanken an seinen Abiball beschleicht Daniel Braun ein mulmiges
Gefühl. Seine Großmutter ist eingeladen. Was, wenn sie da von Auschwitz
erzählt? „Auf dem Gymnasium habe ich gesagt: ’Ich bin Deutscher‘, was ja
auch stimmt.“
Daniel ist einer von schätzungsweise 70.000 Sinti und Roma, die seit
Generationen in Deutschland leben. Sie nennen es Zuhause, doch ihre
Beziehung zum Land ist kompliziert. „Offiziell sind wir deutsche
Staatsbürger. Nur würden wir uns nie als 100-prozentige Deutsche
bezeichnen. Wir haben eine andere Mentalität, ein anderes kulturelles
Erbe.“
Die deutschen Sinti und Roma sprechen Pfälzisch, Hessisch, Bayerisch oder
Sächsisch und eben auch Romanes – die Sprache der Sinti und Roma. Daniel
ist einundzwanzig Jahre alt, seine Worte wählt er mit Bedacht. Er nennt
sich Sinto der „vierten Generation“ – eine Zeitrechnung, die mit dem
Albtraum von Auschwitz beginnt. 500.000 europäische Sinti und Roma wurden
deportiert und ermordet, ihre Verfolgung wurde nach dem Krieg ignoriert.
Daniels Urgroßmutter trägt die tätowierte Nummer auf dem Arm, seine Oma
wuchs mit dem Trauma ihrer Mutter auf. Es lässt sie bis heute nicht los.
Daniel hingegen kämpft mit anderen Geistern: gegen das Klischee des
„typischen Zigeuners“, der stiehlt, bettelt und betrügt, und gegen seine
Angst, so abgestempelt zu werden. Dabei wissen viele Menschen nicht mal,
was es bedeutet, Sinti zu sein.
## Familie ist Dreh- und Angelpunkt
Für Daniel ist es „mehr ein Gefühl“, eine Identität, die vom Vater
weitergegeben wurde. Ist der Vater Sinto, sind es die Kinder auch. Ihre
Bräuche, Werte und Traditionen werden im Verwandtenkreis gelebt – die
Familie ist Dreh- und Angelpunkt. „Wir besuchen unsere Großeltern oft
zweimal die Woche. Manchmal ist es extrem“, meint Daniel. „Wenn man sich
eine Woche nicht meldet, rufen sie an: ’Was ist los?‘ “ Großeltern ins
Altersheim schicken – undenkbar.
Sinti sind Teil einer Gemeinschaft mit ihren Regeln: Man hält sich an
Speisevorschriften, traditionelle Frauen tragen keine Hosen, in Gegenwart
Älterer spricht man nicht über Sex. Vor ihnen zu rauchen gilt als
respektlos.
Daniel lebt mit seiner Familie in Schwetzingen bei Heidelberg. Ihr Haus
liegt in einer ruhigen Nachbarschaft, blank polierte Autos stehen vor
gepflegten Einfahrten. Das Haus der Brauns ist hell, durch weiße Vorhänge
dringt Licht, aber kein Blick. Weder Nachbarn noch Daniels Mitschüler
wissen, dass die Brauns nach jahrhundertealten Überlieferungen leben. „In
der Schule habe ich mich nicht als Sinto geoutet. Weil ich Angst habe, dass
es mir Nachteile bringt, dass man schlecht über mich redet.“ Zigeuner – als
Schimpfwort – er hat das zu oft gehört. „Euch hat man vergessen zu
vergasen“, mussten sich seine Großeltern von Nachbarn anhören. „Dann traut
man sich nicht mehr“, sagt Daniel, „und sagt nichts.“
Das Ehepaar Reinhold und Ilona Lagrene aus Mannheim kämpft seit 40 Jahren
dafür, dass Menschen wie Daniel nicht länger verschweigen, wer sie sind.
Die Lagrenes, beide Anfang 60, sind Sinti, auch wenn er mit seinem
gestutzten Schnurrbart oft für einen Türken gehalten wird – und sie für
eine Spanierin. Sie leben in einer Siedlung, in deren Gärten sich Kinder
zum Spielen und Nachbarn zum Plaudern treffen. Zwischen goldgerahmten
Spiegeln, Stoffblumen und Spitzendeckchen in ihrer Wohnung hängen
Familienfotos aus verschiedenen Generationen, auch von ihren vier Kindern
und sieben Enkeln.
## Alte Gräben
Eltern, Geschwister, Großeltern von Reinhold und Ilona Lagrene wurden von
den Nazis deportiert, viele in Auschwitz umgebracht. Als Kinder litten die
beiden mit ihren traumatisierten Eltern. „Wir durften nicht laut sein“,
erinnert sich Ilona Lagrene. „Unsere Eltern wollten um keinen Preis
auffallen. Sie sagten: Pscht, seid nicht so laut, die Gadje hören uns.“
Gadje – die, die nicht so sind wie wir.
Erst in den siebziger Jahren änderte sich etwas. „Als zweite Generation
haben wir gemerkt, dass wir eine Macht haben“, erzählt Ilona Lagrene. „Wir
haben eine Stimme, müssen uns nicht alles gefallen lassen, uns ducken.“ Für
die Bürgerrechte der Sinti und Roma sind sie auf die Straße gegangen. Aber
erst 1982 wurde der Völkermord an den Sinti und Roma offiziell anerkannt,
seit 2012 erinnert ein Denkmal in Berlin an die Opfer.
Ilona Lagrene ist im Vorstand der deutschen Sinti und Roma. Ihr Mann
arbeitet für das Dokumentationszentrum in Heidelberg. „Wir haben fast alles
erreicht“, sagt er. Wirklich alles? Reinholds erwachsener Sohn Mario, ein
Kaufmann, traut sich nicht, seinen Arbeitskollegen zu sagen, dass er Sinto
ist. Vor Kurzem hat jemand in das Auto von Reinholds Enkel Anthony ein
Hakenkreuz geritzt. Und ist es Zufall, dass ein Job, eine Wohnung, ein
Lagerraum plötzlich nicht mehr verfügbar ist, wenn sie sich als Sinti
geoutet haben? „Wenn ich das erwähne, meine ich immer, da kommt der Blick.
Vor dem habe ich Angst. Wir haben uns schon eine Hornhaut auf der Seele
zugelegt“, sagt Lagrene.
Der Ursprung der Sinti und Roma wird in Nordindien und Pakistan vermutet,
vor mehr als 600 Jahren kamen sie nach Europa. „Wir sind keine Inder. Wir
Sinti sind stolz auf unsere Verbundenheit mit diesem Land hier“, sagt
Reinhold Lagrene. „Wir sind keine Opfer mehr.“
Ähnlich wie für die Juden gab es für Sinti jahrhundertelang Berufsverbote,
viele zogen als Händler, Handwerker und Musiker durch Europa. Nur wenige
schriftliche Zeugnisse erwähnen die Minderheit, meist sind es
Polizeierlasse. Auch das beförderte Klischees, die den Sinti bis heute
anhaften. „Ein ehrenvoller Mensch zu sein gehört zu unserem
Selbstverständnis. Es ist Aufgabe der Älteren, solche Dinge zu erklären und
weiterzugeben“, sagt Reinhold Lagrene. Dazu gehört auch das Romanes: Seine
Kinder und Enkelkinder wachsen zweisprachig auf, obwohl sie immer öfter zu
Hause nur Deutsch sprechen. Das macht ihm Angst. „Es gibt Sinti, die ihre
Sprache nicht mehr können. Da frage ich: Was kommt danach?“
Junge Sinti entfernen sich zunehmend von der Familie, gehen eigene Wege,
heiraten aus Liebe, nicht im Sinn der Tradition. Reinhold und Ilona Lagrene
stemmen sich nicht gegen solche Veränderungen. „Ich denke, jetzt ist die
Zeit gekommen, wo wir uns als Minderheit mehr öffnen müssen“, sagt er. „W…
müssen unsere familiäre Intimität bewahren, aber auch aufklären, den
Kontakt suchen, wir dürfen uns nicht ausgrenzen oder ausgrenzen lassen. Das
sehe ich für die Zukunft: ein neues Bewusstsein.“
## Neue Gräben
Ein neues Selbstbewusstsein kann Reinhold Lagrene auch in seiner Familie
beobachten. Einmal rief seine Tochter in einem Restaurant an, in dem sie
ihre Tasche vergessen hatte. Man sagte ihr, die Tasche sei sicher geklaut
worden: „Bei uns waren Zigeuner!“ Ihre Antwort: „Ich bin die Zigeunerin.�…
Fiel wiederum in der Schule das Wort „Zigeuner“, stand Lagrenes 20-jährige
Enkelin Jenise auf und diskutierte. „Ich spreche fließend Deutsch, ich
weiß, was sich gehört, ich bin gut erzogen. Typische Klischees erfülle ich
nicht. Deswegen finde ich es schwachsinnig, mich zu schämen, mich zu
verstecken.“
Die jungen Sinti haben neue Gräben zu überbrücken: „Ich werde öfter mit d…
Armutseinwanderern aus Südosteuropa in eine Schublade gesteckt“, sagt
Jenise, „das kläre ich dann aber auf.“
Die Armutsflüchtlinge indes bereiten den alteingesessenen Sinti Sorgen.
„Manche bestätigen genau das Klischee, das die Leute im Kopf haben.“
Dennoch fühlt man sich verbunden. „Wir sind ein Volk“, sagt Reinhold
Lagrene, „und damit meine ich nicht die Nationalität. Das Volk als
Zugehörigkeit. Für Außenstehende ist das nicht so leicht zu verstehen.“
Unterschiede gibt es nicht nur zwischen Sinti und Roma. Jede Sinti-Familie
lebt anders. Daniel Brauns jüngerer Bruder David geht ganz offen mit seiner
Sinti-Identität um. „Ob ich jetzt Italiener bin oder Sinto, das macht für
meine Freunde keinen Unterschied“, sagt der 18-jährige Schüler. Gegen die
Blicke, die dann manchmal kommen, zeigt sich David immun. „Manche sind ganz
geschockt. Ich lache dann und sage: Ist halt so.“
Daniel und Davids Eltern sind geschieden, die Brüder wuchsen bei ihrer
Mutter auf. Zu Hause sprechen sie Deutsch. Daniel kann nur ein paar Brocken
Romanes, David versteht die Sprache gar nicht mehr. Beide finden das
schade. „In Deutsch war ich die schlechteste Schülerin“, erzählt Mutter
Vanessa, die ein Modegeschäft hat. „Ich habe mir gesagt: Wenn ich mal
Kinder habe, muss das anders sein. Wir müssen unsere Traditionen bewahren,
aber wir leben hier. Ich glaube, meine Kinder haben ein einfacheres Leben,
wenn sie sich hier zugehörig fühlen. Zumal wir kein anderes Land haben.“
Im Herbst zieht Daniel fürs Studium nach Düsseldorf. Er will Modemanagement
studieren, vielleicht sogar im Ausland. Seiner Großmutter bereitet das
Kummer. „Ich habe meiner Oma gesagt: ’Die Mama ist doch auch mit 16 aus dem
Haus gegangen.‘ Und sie meinte: ’Ja, aber sie war ja nicht allein, es war
immer eine Gemeinschaft da.‘ “
27 Oct 2013
## AUTOREN
Sarah Levy
## TAGS
Familie
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Sinti und Roma
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Schwerpunkt Rassismus
Sinti und Roma
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Sinti und Roma
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