# taz.de -- Die Wahrheit: Mörderischer Mohn | |
> Engländer lieben Rituale und Symbole. Ob es der antiquierte Pomp der | |
> verkommenen Windsor-Familie ist oder die verstaubte Zeremonie im | |
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Engländer lieben Rituale und Symbole. Ob es der antiquierte Pomp der | |
verkommenen Windsor-Familie ist oder die verstaubte Zeremonie im Parlament, | |
es wird Jahr für Jahr gnadenlos durchgezogen. Das stört ja niemanden, aber | |
der „Poppy Day“ ist eine ekelhafte Tradition. Diese englische Variante des | |
Volkstrauertags fiel auf den gestrigen Tag, aber sie warf ihre Schatten | |
bereits seit Wochen voraus. | |
Poppies sind Mohnblumen, und wenn man in letzter Zeit englisches Fernsehen | |
einschaltete, sah man niemanden ohne rote Pflanze am Revers. Ein Wunder, | |
dass sie nicht alte Western bearbeitet und John Wayne das Ding an die Jacke | |
montiert haben. | |
Begonnen hat es 1920, als jemand das Gedicht „In Flanders Fields“ des | |
kanadischen Feldwebels John McCrae entdeckte, das dieser nach dem | |
Soldatentod seines Freundes 1915 geschrieben hatte. In den Anfangszeilen | |
geht es um die Gräber der Soldaten in Flandern, auf denen der Mohn blühte. | |
Weniger bekannt ist der Schluss des Gedichts. Dort fordert McCrae die | |
Überlebenden auf, gefälligst gegen den Feind weiterzukämpfen, damit die | |
Toten in Ruhe schlafen können. | |
Zunächst benutzte die US-amerikanische Legion die Blume aus dem | |
Kriegspropagandagedicht als Symbol, und schon bald breitete sie sich im | |
ganzen Commonwealth aus. Während die meisten Länder inzwischen zur | |
Besinnung gekommen sind, greift der Mohn in England wie Unkraut um sich. | |
Heutzutage sind es freilich keine echten Pflanzen mehr, denn die könnte man | |
ja kostenlos pflücken. Stattdessen verkauft die Royal British Legion Blumen | |
aus Papier oder Plastik. Und sie sehen jedes Jahr anders aus, damit man sie | |
nicht im nächsten Jahr wiederverwenden kann. | |
Gedacht wird ausschließlich der britischen Soldaten, alle anderen sind | |
ausgeschlossen. Wer die Pflanze misshandelt, hat nichts zu lachen. Voriges | |
Jahr wurde Linford House, ein junger Mann aus Canterbury, verhaftet, weil | |
er eine Mohnblume verbrannte. Zwei Nordiren war es ein Jahr zuvor ebenso | |
ergangen. Sie hatten ein Foto der brennenden Pflanze ins Internet gestellt. | |
Mohnschänder gelten als Verbrecher, mohnlose Engländer zumindest als | |
Landesverräter. Das gilt auch für Sportler. Vor zwei Jahren sollte die | |
englische Fußball-Nationalmannschaft beim Spiel gegen Spanien mit | |
Mohnblumen auf den Trikots antreten, doch die Fifa verbot das zunächst. | |
Thronfolger Prinz William und Premierminister David Cameron bekamen | |
daraufhin einen Wutanfall, die rechtsextreme English Defence League | |
demonstrierte auf dem Dach des Fifa-Gebäudes in Zürich. | |
Der englische Verband schlug einen Kompromiss vor: Mohn auf den Trikots | |
beim Warmlaufen, Niederlegung eines Mohnkranzes während der Hymnen, | |
Mohnblumenverkauf im Stadion sowie Mohnblumen auf Anzeigentafeln und | |
Werbeflächen. Während des Spiels sollten die Spieler aber lediglich | |
schwarze Armbänder tragen. Die Fifa lenkte entnervt ein. | |
Wenn sie schon so versessen auf Mohn sind, sollten die Engländer lieber den | |
Saft der Samen trocknen und ihn rauchen. Opium macht friedlich. | |
10 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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