# taz.de -- Kino aus Spanien: Hymne auf die Außenseiter | |
> In seinem Film „Blancanieves“ lässt Pablo Berger Schneewittchen nach | |
> Andalusien übersiedeln. Ohne Dialoge und in Schwarz-Weiß. | |
Bild: Die schöne Torera. | |
Manche Filme wirken wie aus der Zeit gefallen. „Blancanieves“ von Pablo | |
Berger ist ein solcher Film. Nicht nur, weil er schwarz-weiß und ohne | |
Dialoge ist und sich der Filmästhetik der 1920er Jahre bedient, sondern | |
auch weil er fast zwei Jahre nach dem großen Erfolg von „The Artist“ und | |
ein Jahr nach Miguel Gomes’ „Tabu“, den beiden anderen Stummfilmhommagen, | |
ins Kino kommt. Dabei ist Bergers Film das Ergebnis eines achtjährigen | |
Entstehungsprozesses und alles andere als eine Kopie. | |
Es ist hochartifiziell, dieses „Märchen von Schwarz und Weiß“, wie es der | |
deutsche Verleih untertitelt. Und es ist stumm. Dafür sprechen Gestik, | |
Mimik und Musik umso mehr. Alles ist groß, oft übergroß bis zur Groteske. | |
"Blancanieves“ ist eine freie Schneewittchen-Adaption, angesiedelt im | |
Andalusien der Zwanzigerjahre. | |
Der Matador Antonio Villalta wird bei einem Stierkampf so schwer verletzt, | |
dass seine schwangere Frau Carmen durch den Schock eine Frühgeburt hat und | |
dabei stirbt. Die kleine Carmencita hat alles andere als eine schöne | |
Kindheit, wird zunächst zur Großmutter geschickt und später zu Vaters | |
Neuer, seiner Pflegerin Encarna, die ihn von allem abzuschotten versucht, | |
auch der eigenen Tochter. Als junger Frau gelingt Carmencita schließlich | |
die Flucht. Sie schließt sich einer Truppe kleinwüchsiger Stierkämpfer an, | |
mit deren Hilfe sie selbst zur Torera wird. | |
Um Stierkampf geht es, um Flamenco und Fiesta – spanische Traditionen und | |
Mythen, die schnell zum Klischee werden und in der Franco-Ära auch gern | |
missbraucht wurden, um dem Ausland die Illusion einer glücklichen und | |
feierlaunigen Nation zu verkaufen. Das persifliert Berger und feiert es | |
zugleich in einer kulturellen Transferleistung. | |
## Verfremdungseffekt | |
Er nutzt das Schneewittchen-Märchen der Brüder Grimm und transferiert es | |
mit den Mitteln des Weimarer Expressionismus auf ein Spanien, das nicht | |
minder weit weg scheint vom Alltag. Der daraus entstehende | |
Verfremdungseffekt ist aber kein rein intellektueller, sondern ein auch | |
intuitiv genießbarer. | |
Anders als etwa in dem nostalgieverliebten „The Artist“ wirken die | |
Aufnahmen nie so, als seien sie damals entstanden. Es ist eine | |
Reinterpretation, als würde man eine überhöhte Vorstellung des Erwarteten | |
sehen, aus neuer Perspektive auf die Populärkultur Spaniens, seine | |
Geschichte und Traditionen blicken. Die Bildwelten speisen sich dabei nicht | |
nur aus der Filmgeschichte, sie erinnern ebenso an die Tauromaquia, die | |
Stierkampfzyklen von Goya und Picasso. | |
## Selbstbewusste Kämpferin | |
Schneewittchen und ihre sieben Zwerge sind freilich längst selbst Ikonen | |
der Popkultur, von Disney bis Otto Waalkes. Berger aber nimmt sie, in all | |
seiner frei assoziierenden Art, ernst. Sie ist eben kein passives | |
Prinzesschen, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die als | |
Stierkämpferin in die Fußstapfen ihres Vaters tritt und dabei die | |
patriarchalen Strukturen in Frage stellt. | |
Ambivalent bleibt das Bild der Heldin und ihrer Motivation, den Vater zu | |
ehren, bis zum Schluss. Dass sie dabei ganz neue Allianzen schließt, mit | |
denen, die in der Ära der Filmhandlung noch als Freaks in Sideshows und | |
Spektakeln vorgeführt wurden, ist einer dieser interessanten Reibungspunkte | |
des Films. | |
In Spanien, wo wegen der Krise die Filmförderung auf ein Minimum | |
heruntergekocht wurde, ist der Film gefeiert und mit zehn Goyas, dem | |
nationalen Filmpreis, ausgezeichnet worden. Nicht unbedingt für seine | |
Zwischentöne, sondern vor allem als Hymne auf Außenseiter und Zeichen, dass | |
allem Pessimismus zum Trotz noch eigenwillige, ungewöhnliche Projekte | |
möglich sind. | |
Das lässt sich als reiner Schauwert genießen, ist aber alles andere als | |
naiv, nicht zuletzt im direkten Vergleich zu „The Artist“. Wo dieser vor | |
allem auf die Nostalgie einer vergangenen Kinokultur baut, wagt | |
„Blancanieves“ trotz aller selbst auferlegter formaler Restriktionen die | |
Bildwerdung eines Traums der Jetztzeit. Von einem Spanien, das seine Stärke | |
vor allem darin erkennt, seine vermeintlichen Schwächen als Stärken zu | |
feiern. | |
28 Nov 2013 | |
## AUTOREN | |
Thomas Abeltshauser | |
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Lars von Trier | |
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