Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ausbeutung für Olympia: Auf dem Rücken der Migranten
> Ohne Gastarbeiter würde es die Spiele im russischen Kurort Sotschi nicht
> geben. Doch sie werden ausgebeutet, betrogen und abgeschoben.
Bild: Olympische Baustelle: In Sotschi werden 40 Milliarden Euro ausgegeben
SOTSCHI taz | Eigentlich sollte die Fahrt zu Semjon Simonows Büro knapp
zehn Minuten dauern. Nach einer Dreiviertelstunde Umherirren gibt Artur,
unser Taxifahrer, auf. Er hat gefragt und gefragt – erst sein Navi, dann
nahezu jeden, an dem wir vorbeifuhren. Alle haben ihm eine Antwort gegeben.
Keine stimmte. Die Leninstraße ist begraben unter neuen Schnellstraßen,
unter Auf- und Abfahrten. Bei 174 endet sie. Wir müssen zu Nummer 204.
Am 7. Februar werden hier in Adler, einem Stadtteil von Sotschi, die 22.
Olympischen Winterspiele eröffnet. Der ganze Ort wurde dafür auf links
gekrempelt. Überall sind neue Straßen und Bahntrassen entstanden. Überall
sind alte Straßen, die aufgerissen sind. In gut zwei Monaten müssen sie
wieder geschlossen sein. Es gibt noch viel Arbeit.
Über Hinterhöfe, Garagendächer, dann eine lange Treppe runter, finden wir
endlich das Haus, in dem die Hilfsorganisation Memorial ihr Büro hat. Zwei
karge Zimmer, zusammen maximal 15 Quadratmeter groß, keine Bilder, ein
kleiner Nebenraum mit Toilette. Die einzigen Auffälligkeiten sind das
glänzend neue Schloss und der schwere Eisenrahmen, in den die kleine
Eingangstür gefasst ist. Semjon sitzt hinter seinem Schreibtisch. Davor
hockt Zaid.
Zaid ist 46, er kommt aus Usbekistan. Seit sechs Monaten ist er in Sotschi,
hat Kabel verlegt inUnterkünften für Volunteers und Sicherheitskräfte und
zuletzt im Sanatorium „Goldene Ähre“. Geld hat er für seine Arbeit nicht
gesehen. Deswegen sitzt er jetzt bei Semjon im Büro.
## Angst vor der Staatsanwaltschaft
Zaid erzählt, dass er Brigadeleiter ist und stellvertretend für insgesamt
30 Kollegen hierher gekommen sei. Er will 300.000 Rubel von seinem
Arbeitgeber haben, 10.000 pro Person, umgerechnet 230 Euro. Einen
Arbeitsvertrag hat keiner von ihnen. Semjon belehrt Zaid, dass vor Gericht
die geleistete Arbeit, nicht der Vertrag zähle.
Doch bis vor Gericht will Zaid es nicht kommen lassen. Denn dafür müsste er
zur Staatsanwaltschaft – und das will er nicht. Aus Angst, dass sein
Arbeitgeber Verbindungen zu denen da oben hat. Bessere Verbindungen als
Semjon.
Die Angst ist nicht unbegründet. Im Sommer haben Steuerbehörde und
Geheimdienst FSB Semjons Büro durchsucht. Eine Drohung. Bei Semjon verfängt
sie nicht. „Ich weiß, dass alle meine Papiere hundertprozentig in Ordnung
sind.“ Semjon sieht schüchtern aus mit seinem Bubigesicht und dem karierten
Streberpullover, überhaupt nicht so, wie man sich einen Kämpfer für die
entrechteten Arbeiter vorstellt.
Er hat nichts vom Gewerkschaftsbären, der einst selbst Metallbieger war.
Semjon ist 30, stammt aus Sotschi, studiert Jura. Sein Handyklingelton ist
„Where is my mind?“ von den Pixies. Aber Semjon spricht klar. Er sagt
Dinge, die viele in Russland nicht hören wollen.
## Gouverneur gegen Gastarbeiter
Semjon schätzt, dass auf den Baustellen in Sotschi 50.000 Gastarbeiter
beschäftigt sind. Seit Juli 2012 hilft er in Sotschi den Arbeitsmigranten,
er verteilte Flyer auf Baustellen: auf Usbekisch, Tadschikisch, Kirgisisch
und Russisch. Im November und Dezember kamen dann die Ersten zu ihm. 2013
hat er 80 Fälle bearbeitet, dahinter standen insgesamt 1.500 Arbeiter, 200
von denen konnte Semjon helfen und Lohn herausschlagen. Insgesamt 6
Millionen Rubel. Im Durchschnitt also 30.000 Rubel pro Person. 690 Euro.
Bei Zaid wird es schwierig. Kein Vertrag, die Vorarbeiter, die seine Arbeit
bezeugen könnten, sind schon wieder in der Heimat – und politische Hilfe
können Gastarbeiter wie Zaid sowieso keine erwarten. Der Gouverneur der
südrussischen Region Krasnodar, Aleksandr Tkatschow, will die Ausländer
loswerden. Bis Anfang November sollten eigentlich alle außer Landes sein,
er sprach von „Säuberungen“.
Viele sind noch da. Sie müssen noch da sein, die unzählbar vielen Arbeiten
sind schließlich längst noch nicht abgeschlossen. „Russland kann ohne
Migrantenarbeit überhaupt nicht existieren“, sagt Semjon. Jedes große
Bauprojekt finde mit Gastarbeitern statt, denn am Lohn könne man am
einfachsten sparen. Dabei seien die Etats für die Bauten in der
Olympiastadt groß genug. Insgesamt fast 40 Milliarden Euro sollen die
Spiele in Sotschi kosten. Doch irgendwo oben bleibt das Geld hängen. Unten
kommt dann wenig an – oder, wie in Zaids Fall, gar nichts.
„Als die Regierung die Olympischen Spiele geplant hat, wurde es in Kauf
genommen, dass die Regelungen nicht eingehalten würden. Es war klar, dass
hier Sklavenarbeit geleistet werden müsste“, sagt Semjon. „Die Olympischen
Spiele werden auf dem Rücken der Migranten gebaut.“
## Hamlet erzählt von Stalin
40 Minuten Autofahrt entfernt, immer den Prospekt Kurortnyj – die
Kurortstraße – entlang, liegt an einem Hang das Sanatorium „Goldene Ähre�…
Es wurde 1935 errichtet. Hamlet Watjan leitet es. Ein kleiner grauhaariger
Mann, mit gelbgrauem Hemd und grauer Jacke, die Zuspätgeborene an „Das
Leben der Anderen“ erinnert. Hamlet erzählt von Stalin. Wie dieser erst die
Industrieprobleme löste und dann auch die sozialen, indem er allen
Sowjetbürgern Kuren verschrieb. Stalin verbrachte die Sommer stets in
Sotschi.
Ein Monat Kur inklusive Übernachtung, Essen und Behandlungen kostete einen
Arbeiter damals genau einen Monatslohn. „Früher war Sotschi die
Kurhauptstadt. Man durfte hier nicht rauchen und nicht trinken. Man sollte
schlafen, schwimmen und im Park spazieren. Ein Urlaub sollte den Arbeiter
so fit machen, dass er danach wieder ein Jahr schuften konnte“, erzählt
Hamlet. Aber heute, ach, heute könne sich nur noch jeder fünfte Russe einen
Kuraufenthalt leisten. Sotschi ist teuer.
Die „Goldene Ähre“ war damals das Sanatorium für die Bauern. Heute erinne…
es mit seinem großen Park, den einzelnen Häusern und den vielen kürzlich
angepflanzten Palmen an einen Center Parc – nur ohne Erlebnisschwimmbad,
Pfannkuchenhaus und Kinder.
Am Kopf des Parks thront ein Neubau. Neun Stockwerke hoch. Eigentlich
wollte Hamlet nur fünf Stockwerke hoch bauen. Doch er hatte einen „Vertrag“
geschlossen. So nennt Hamlet das Papier, das man wohl nur in einer
gelenkten Demokratie für einen Vertrag hält. Es war viel mehr ein Diktat –
von Olympstroy, der Staatsfirma, die dafür zuständig ist, dass die
Sportstätten und die Stadt Sotschi für Putins Spiele hergerichtet werden.
## Eine Wahl hatte keiner
15 Hotels und Sanatorien wurden ausgewählt. Alle in bester Lage. Sie sollen
Zimmer schaffen für Olympia. Mehr als 40.000 fordert schließlich das
Internationale Olympische Komitee vom Ausrichter. Der Vertrag zwischen
Hamlets „Goldener Ähre“ und Olympstroy regelt Fertigstellungsfristen und
Höchstpreise – und die Verpflichtung, privates Geld für den Neubau
aufzutreiben. Die Wahl, nicht zu unterschreiben, hatte keiner, sagt Hamlet.
„2007, als Sotschi den Zuschlag für die Spiele bekam, haben wir uns sehr
gefreut“, erzählt Hamlet. „Als dann das Bauprogramm veröffentlicht wurde,
hatten wir gehofft, Unterstützung zu bekommen. Doch es gab keine.“
Bauen musste er trotzdem. Neun Stockwerke hoch. Vier mehr, als er wollte.
Die Zimmer sind schlicht. Der Ausblick von hier oben auf die Stadt und das
Schwarze Meer ist überwältigend. Hier also verlegte Zaid die Kabel. Gelbe
und blaue. Während der Spiele wohnen Vertreter der Olympiasponsoren
Panasonic und Coca-Cola hier. Ein Zimmer kostet dann 133 Dollar für
Übernachtung, Frühstück, Versicherung und Steuern: der vertragliche
Höchstpreis. „Wir verdienen an den Spielen nichts.“
„Am Lohn kann man am einfachsten sparen“, hatte Semjon in seinem kleinen
Büro gesagt.
## Jeden Tag Abschiebungen
Hamlet weiß nichts von Zaids Fall. Er hatte für die Arbeiten ein
Unternehmen beauftragt, bei dem auch Migranten gearbeitet hätten. Vor
eineinhalb Jahren habe es einmal auf seiner Baustelle einen Fall gegeben,
bei dem Arbeiter nicht bezahlt worden wären. Doch er habe damals mit der
Staatsanwaltschaft gedroht – und alle Angestellten hätten ihr Geld
bekommen.
Und Zaids Anliegen? „Das ist eine Angelegenheit zwischen dem Unternehmen
und den Arbeitnehmern“, sagt Hamlet: „Ich habe alle Firmen komplett
bezahlt.“
Irgendwo zwischen den Arbeitgebern da oben und den ausländischen Arbeitern
da unten ist das Geld dann wohl hängen geblieben. Zaid will demnächst
nochmal zu Semjon in die Leninstraße 204. Wenn er dann noch in Sotschi ist.
Jeden Tag werden Gastarbeiter abgeschoben. Die „Säuberung“ für Putins
Spiele muss schließlich noch vollendet werden.
„Ich hatte die Hoffnung, dass Russland durch die Spiele einen Schritt nach
vorne machen würde, auch in seiner Verantwortung gegenüber anderen – im
Sinne der Olympischen Charta. Doch die Entwicklung ist nicht progressiv,
sie ist regressiv: Die Ausbeutung von Migranten wird schlimmer. Man hätte
Olympia nutzen können, um migrantische Arbeit zu legalisieren, doch sie
wurde bewusst illegalisiert“, sagt Semjon. „Meine Hoffnungen sind
zerbrochen.“
Er will weiterkämpfen.
1 Dec 2013
## AUTOREN
Jürn Kruse
## TAGS
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Ausbeutung
Abschiebung
Gastarbeiter
Sotschi
Olympische Winterspiele Sotschi
Russland
Sotschi 2014
Sotschi 2014
Russland
Joachim Gauck
Singapur
DFL
Nolympia
Sotschi
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
## ARTIKEL ZUM THEMA
Jagd auf Migranten in Russland: Willkür von Schleppern ausgeliefert
Russische Behörden gehen hart gegen Migranten aus dem Kaukasus und
Zentralasien vor. Deren Verwandte in Kirgistan verfolgen es mit Sorge.
XXII. Winterspiele in Sotschi: Steinzeit in Achschtyr
„Grüne Spiele“ sollen im russischen Sotschi stattfinden. Aber es werden
Flüsse und Wälder zerstört. Und das Dorf Achschtyr ist von der Zivilsation
abgeschnitten.
Winterspiele in Sotschi: Polizei nimmt Kritiker in Gewahrsam
Angeblich suchte die russische Polizei in den Häusern von acht Aktivisten
nach einem Extremisten. Doch es liegt nahe, dass ihre Kritik an Olympia der
Grund ist.
Sotschi 2014: Olympia zum Selbermachen
Wladimir Putin organisiert gerade die besten Winterspiele aller Zeiten. Das
wollen Sie auch mal machen? Hier ein paar kreative Olympia-Ideen.
Der sonntaz-Streit: Zeigefinger gen Osten
Bundespräsident Joachim Gauck reist nicht zu den Winterspielen nach
Sotschi. Dürfen wir es uns mit Russland verscherzen?
Ausschreitungen in Singapur: Protest wie 1969
Nach dem Tod eines Kollegen revoltieren ausländische Arbeiter in Singapur.
Ähnliche Ausschreitungen soll es zuletzt vor über vierzig Jahren gegeben
haben.
Kolumne Press-Schlag: Im falschen Flieger
Der Anfang einer großen Sponsorenprüfung? Die Deutsche Fußball-Liga rügt
den FSV Frankfurt wegen dessen Deal mit Saudi Arabian Airline, kurz Saudia.
Nein zu Olympia 2022 in München: Sotschi ist schuld
Politiker und Sportfunktionäre suchen nach Erklärungen für den Sieg der
Olympiagegner beim Volksentscheid. Eigene Fehler sehen die Befürworter der
Spiele nicht.
Olympia-Athleten im Papageien-Look: Eine apolitische Jacke
Deutsche Olympia-Funktionäre sorgen mit einem modischen Paukenschlag für
Begeisterung: Geistreicher Homo-Protest oder einfach nur stulle?
Olympische Spiele in Russland: Ein Regenbogen reicht nicht
In Russland werden sexuelle Minderheiten gezielt zu politischen Zwecken
instrumentalisiert. Und die internationale Gemeinschaft treibt Sport.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.