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# taz.de -- BRICS-Staaten 2014 – Indien: Der Diktator, der Prinz und der Asket
> Werden die Brics-Staaten das 21. Jahrhundert prägen? Die Wahl in Indien
> verspricht einen Dreikampf. Im Kern geht es darum, was das Land
> zusammenhält.
Bild: Bei der Parlamentswahl im Mai werden mehr als 300 Parteien erwartet. Doch…
Während die Welt herauszufinden versucht, was das moderne Indien für sie
bedeutet, versucht der Subkontinent gerade zu verstehen, was sein Kern ist.
Mehr denn je ist Indien zurzeit mit sich selbst beschäftigt. Und das wird
auch noch eine ganze Weile so bleiben.
Im Mai stehen landesweite Parlamentswahlen an. Das ist ein alle fünf Jahre
stattfindender gigantischer Prozess. Viel Cash strömt in das
Wirtschaftssystem, wenn Schurken jeder Couleur versuchen, sich gegenseitig
auszustechen. Es wird erwartet, dass sich mehr als 300 Parteien in den
Wahlkampf stürzen. Sie repräsentieren eine Menge von unterschiedlichen
politischen, geschäftlichen, sozialen und Kasteninteressen –
merkwürdigerweise nur nicht das direkte Wohl der Frauen, obwohl diese fast
die Hälfte der Bevölkerung ausmachen.
Die Entscheidungsschlacht werden drei unter sich ausmachen – der Prinz, der
wohlmeinende Diktator und der Almosenempfänger. Lassen wir ihre Namen erst
mal außen vor. Man muss vorausschicken, warum ihre Auseinandersetzung so
außergewöhnlich und wichtig für die Inder ist.
Denn es ist gut, zu wissen, dass die privilegierte städtische Mittelklasse
in dieser großen Republik seit Jahrzehnten ein kleines, grollendes
Inselvolk ist, dessen Desillusion über den Rest des Landes immer größer
geworden ist. Lange Zeit hatte diese Elite nur das Ziel, sich gemütlich in
einer Blase einzurichten. Sie tat alles, um sich vor der grimmigen Realität
dieser Nation zu schützen, vor den Schmuddelkindern auf den Straßen, vor
dem Unrat, der Luft, der Politik und der korrupten und unfähigen Regierung.
Die Alternative war, sich in den Westen abzusetzen.
Aber dann begann sich etwas zu ändern. Die Ökonomien des Westens begannen
zu schrumpfen, und Indien wurde irgendwie wohlhabender. Das Land zu
verlassen verlor seinen Reiz. Die Auslandsinder, die einst in der Heimat
wie Feudalherren behandelt wurden, fingen an zurückzukehren oder sich
wenigstens ernsthaft darüber Gedanken zu machen. Und das heißt: Die
Mittelklasse fing an, sich für ihre große Republik zu interessieren und
damit unvermeidlich auch für deren Politik.
## Träume der Mittelklasse
Im Sommer 2011 kam alles zusammen: die Weltfinanzkrise, das gewachsene
Interesse der indischen Mittelschicht an ihrer eigenen Nation, eine Reihe
politischer Skandale sowie ein alter Mann, der sich entschieden hatte, auf
einem Bürgersteig Platz zu nehmen und zu fasten, bis die Regierung endlich
eine mächtige Antikorruptionsbehörde einrichtet – oder bis er stirbt.
Dieser alte Mann, obwohl vom Land und ein früherer Lkw-Fahrer, zog
ausgerechnet die Elite in seinen Bann, die traditionell Bestechungsgelder
zahlt. Dieses Fieber wurde von den Mainstream-Medien aufgenommen. Und so
stieß der Hungerstreik eines Einzelnen eine Massenbewegung an, die
ihrerseits selbst eine Reihe von Massenbewegungen auslöste. Alle dachten,
eine Revolution sei im Gange. Manche nannten es gar Indischen Frühling.
Doch dann verlor die Elite das Interesse.
In der Zwischenzeit war etwas anderes passiert. Über Generationen hinweg
hatte ein Teil der indischen Mittelschicht von der Ankunft eines „gütigen
Diktators“ geträumt. Früher wurde genau dieser Begriff sogar gebraucht,
heute ist das nicht mehr so leicht. Natürlich würde dieser gütige Diktator
das Gesindel der Massen irgendwie austricksen, damit sie ihm die Macht
übertragen, so die Hoffnung. Und statt wertvolle Ressourcen als Almosen zu
verteilen, würde er schöne Straßen und Brücken bauen, eine glückliche
kapitalistische Gesellschaft schaffen und zugleich mit festem Griff
islamische Kriegslust in Schach halten.
Über Jahrzehnte hinweg nahm dieser gütige Diktator immer wieder Gestalt an
– in verschiedenen Persönlichkeiten und Konzepten. Aber keine davon
entwickelte eine solche Macht wie seine jüngste Offenbarung – Narendra
Modi, ein konservativer Hindu-Nationalist, der in der Vergangenheit Hitler
öffentlich bewundert hat. Ihm wird vorgeworfen, für den Tod Hunderter
Muslime bei den Unruhen von 2002 verantwortlich gewesen zu sein. Die
Schriftstellerin Arundhati Roy ist eine von mehreren indischen Prominenten,
die ihn als Faschist bezeichnen. Modi kandidiert 2014 für den Posten des
indischen Ministerpräsidenten.
Die gegenwärtige Regierung wird von der Kongresspartei gestellt, dem alten,
schwerfälligen Giganten der indischen Politik. Ihr wird Korruption
vorgeworfen, sie gilt inzwischen allgemein als unfähig. Als ihr Gesicht
tritt immer stärker Rahul Gandhi in den Vordergrund, der Sohn von
Parteichefin Sonja und der Enkel von Indira Gandhi. Er ist der Prinz, der
arme alte Frauen warmherzig umarmt, zumindest scheint es so. Er möchte,
dass ihn Indiens Arme lieben, doch die haben die Gandhi-Dynastie
einigermaßen satt.
## Die Korruptionsthese
Nun kommt die Geschichte mit den Massenbewegungen ins Spiel, die Anna
Hazare, der alte hungernde Mann auf dem Gehsteig auslöste. Einer seiner
Verbündeten, Arvind Kejriwal, verstand, dass in einer Demokratie die wahre
Massenbewegung die Demokratie selbst ist. Er sagte sich von dem alten Mann
los und begab sich in die Politik, indem er versprach, die Korruption zu
beenden und Wasser und Elektrizität für die Armen bereitzustellen.
Kejriwal ist ein asketischer Mann mit leicht sozialistischen Tendenzen. Er
ist Ingenieur, der Millionen hätte verdienen können, sich aber stattdessen
entschied, bei den Regionalwahlen in der Hauptstadtregion zu kandidieren.
Er jagte die regierende Kongresspartei aus dem Amt. Seit dem 28. Dezember
ist er Delhis Ministerpräsident. Seine neue Partei, die „Partei des
einfachen Mannes“, tritt jetzt zu den Parlamentswahlen an. Alle
betrügerischen Politiker fürchten sich vor ihm.
Die Inder haben schon immer über Korruption genörgelt, aber nur selten die
saubersten Kandidaten gewählt. Bei Wahlen spielten andere Überlegungen eine
Rolle: Kaste, Religion, Bosheit und Bestechung. 2014 steht in Indien eine
beliebte These auf dem Prüfstand: dass korrupte Politiker eine korrupte
Gesellschaft geschaffen haben – und nicht andersherum.
Aus dem Englischen von Sven Hansen
5 Jan 2014
## AUTOREN
Manu Joseph
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BRICS
Indien
Parlamentswahl
Schwerpunkt Korruption
Demokratie
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