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# taz.de -- Brics-Staaten 2014 – Brasilien: Bitte mehr als nur „Tooooor!“
> Werden die Brics-Staaten das 21. Jahrhundert prägen? In Brasilien wäre
> jetzt die Zeit für neue Proteste – stattdessen gibt es Stillstand.
Bild: Demonstrationen müssen nicht immer wütend sein.
RIO DE JANEIRO taz | Vor 50 Jahren, zu Besuch bei der Weltausstellung in
New York, prognostizierte Isaac Asimov den Zustand der Welt 2014. Einige
Vorhersagen waren zutreffend, wie die Beschreibung der heutigen Tablets
oder seine Kommentare über die Kluft zwischen denen, die Umgang mit Gadgets
haben werden, und denen, die keinen Zugang zu solch technischen Spielereien
bekommen werden.
Manchmal irrte Asimov auch: Langeweile aufgrund mangelnder Arbeit, als
Folge des technologischen Fortschritts, ist nicht die vorherrschende
moderne Krankheit. Depression und Stress verdienen diese Bezeichnung,
beides Folgen des modernen Lebens und der Zwänge, die der Status eines
„erfolgreichen Lebens“ auferlegt. Irren ist Teil der Prognosen – heute ü…
das Brasilien von morgen zu schreiben ist ebenso riskant.
Erstaunlicherweise war es im Januar 2013 einfacher gewesen, das Brasilien
von 2014 vorherzusagen. Das Jahr der großen Ereignisse in einem Land, das
sich mit Genuss daran gewöhnt, im Scheinwerferlicht der Weltpresse zu
stehen. Unabhängig von den Ergebnissen war klar, dass das Jahr von zwei
Momenten geprägt sein wird: der Fußball-Weltmeisterschaft und im Oktober
der Präsidentschaftswahl.
Bis Mai 2013 war das Skript gut organisiert, die Schlagzeilen vorhersehbar:
Die Probleme, die zeitlichen Vorgaben der Fifa zu erfüllen, unzählige
Spekulationen über die Aufstellung der Nationalmannschaft, dann der
Besserwisserwettbewerb, wie die Mission Weltmeister am ehesten gelingen
wird. Bis zum Erbrechen Werbespots mit Neymar, unserer Nummer 10. Skandale
wegen Korruption, zu hoher Baukosten und weißer Elefanten nach dem Fest.
Wenig wird über die Tausende berichtet, die wegen des Spektakels aus ihren
Häusern vertrieben wurden. Wen interessiert es, wofür die Milliarden
investiert wurden: Wir bauen Stadien, obwohl in Rio de Janeiro gerade mal
30 Prozent der Bewohner eine Abwasserversorgung haben. Lieber von einem
Endspiel gegen Argentinien träumen, den ewigen Rivalen.
## Unmut über unerwartete Gewalt
Ein Jahr vor der WM, zur Generalprobe namens Confed-Cup, kommt ein neues
Element hinzu, das bis heute nicht ganz verstanden wurde: Über Facebook
mobilisiert, kommt es in über hundert Städten zu Massendemonstrationen. Der
Auslöser ist die Bewegung für den Nulltarif, die seit 2005 für besseren
öffentlichen Nahverkehr kämpft. Der Protest gegen Fahrpreiserhöhungen wird
mit brutaler Gewalt niedergeschlagen.
Es war der Unmut über diese unerwartete Gewalt, der über eine Million
Menschen auf die Straßen brachte. Sie demonstrierten nicht umsonst. Die
Buspreiserhöhungen wurden zurückgenommen. Die Fifa drohte, die WM in ein
anderes Land zu verlegen. Für Brasilien war es die größte Protestbewegung
einer ganzen Generation. Die Forderungen multiplizierten sich: Gesundheit,
Bildung, mehr Rechte statt neue Stadien.
Die Massen verschwanden von den Straßen so plötzlich, wie sie aufgetaucht
waren. Viel wichtiger als die Fertigstellung der Stadien ist es, für 2014
das Unvorhersehbare vorauszusehen: Wird der soziale Unmut erneut
aufbrechen? Trotz der neuen Gesetze, die das Demonstrationsrecht
einschränken, und obwohl das Fifa-Ausnahmerecht in ganz Brasilien gelten
wird? Nicht einmal Asimov hätte eine Antwort gewagt. Aber viele von uns
hoffen, dass es so kommen wird.
Als die Menschenmassen die Städte besetzten, wuchs auch die Kritik an der
Korruption. Politische Parteien und gar die Politik als solche wurden
negiert. Spät reagierte die Präsidentin, unter anderem mit dem Vorschlag
einer Reform des politischen Systems mit breiter Beteiligung von unten.
Doch der Kongress verteidigte seine Privilegien. In Sachen
Parteienfinanzierung, Koalitionshandel und Wahlwerbung bleibt auch 2014
alles beim Alten.
Offiziell beginnt der Wahlkampf erst nach der WM, doch die Schlagzeilen
bestimmt er schon seit Monaten. Präsidentin Dilma Rousseff war im März mit
79 Prozent Unterstützung noch die unumstrittene Favoritin für eine zweite
Amtszeit. Nach den Demonstrationen lag sie im Juli nur noch bei 45 Prozent,
doch anders als vieler anderer Politiker Brasiliens steigen Rousseffs
Beliebtheitswerte wieder stetig an.
## Die Opposition schweigt
Von der Opposition ist wenig zu hören. Nur dass die rechte PSDB,
traditioneller Gegenspieler der Arbeiterpartei von Lula und Rousseff, sich
auf einen neuen Kandidaten geeinigt hat. In Umfragen weit abgeschlagen,
veröffentlichte Aécio Neves im Dezember ein Dokument für eine neue Agenda.
„Um Brasilien wirklich zu verändern“ heißt das Wahlprogramm, ein Name, der
zuerst einmal anerkennt, dass die bisherige Regierung schon vieles
verändert hat. Viel Neues ist also nicht zu erwarten.
Doch Überraschungen gibt es immer. 2010 hieß sie Marina Silva. Die
ehemalige Umweltministerin erreichte auf Anhieb fast 20 Prozent des Stimmen
und zwang Rousseff einen zweiten Wahlgang auf. Für 2014 gelang ihr keine
eigene Parteigründung, so ging Silva eine Allianz mit Rousseffs bisherigem
Koalitionspartner PSB ein. Fraglos eine erneute Überraschung der
streitbaren Ökoaktivisten. Aber ihr Anschluss an das traditionelle
Parteienspektrum verhindert zugleich das Entstehen neuer Vorschläge für das
Land.
Nicht ganz zu Unrecht misstrauten die Menschen auf den Straßen der Politik.
Und jetzt geht Marina Silva, die im Chor mit den Demonstranten das
Politikgeschäft hinterfragte, selbst eine Koalition ein, die keine
Aussichten auf strukturelle Änderungen beinhaltet. Ohne Schreie auf der
Straße werden sich die Wahlumfragen nicht mehr wesentlich verändern. Gegen
die bisher bekannten Kandidaten wird Rousseff im ersten Wahlgang gewinnen.
Aber was hält die ehemalige Guerillera Dilma Rousseff an der Macht? Während
die Zeitungen vor allem die Wirtschaftsprobleme unterstreichen, die hohen
Zinsen und das schwache Wachstum kritisieren, ist die Wahrnehmung in der
Bevölkerung immer noch positiv. Für sie sind andere, unmittelbare Indizes
wichtiger, die niedrige Arbeitslosigkeit, Zugang zu Krediten und die
Konsumeuphorie. Der langanhaltende Aufschwung hat einem größeren Anteil der
brasilianischen Bevölkerung Zugang zu den elektronischen Geräten
ermöglicht, wie es sich Asimov erträumte. Auch wenn dies nichts an der
sozialen Ungleichheit und dem Rassismus im Land ändert.
## Widersprüche des Konsums
Zu Weihnachten wurden die Widersprüche des Konsums spürbar. Jugendliche aus
den Armenviertel trafen sich in den Shoppingcentern, um dort wie die
Mittelklasse zu bummeln, Händchen zu halten und Symbolprodukte des
„erfolgreichen Lebens“ zu kaufen. Die Polizei stets in der Nähe. Einmal
wurden in São Paulo 23 Jugendliche festgenommen, ohne Begründung.
In Rio de Janeiro sind die Strände der reichen Zona Sul der Treffpunkt. Da
es in Ipanema oder der Copacabana wieder zu mehr Überfällen kam, werden die
Busse, die aus den ärmeren Stadtteilen kommen, präventiv kontrolliert. Die
Vorurteile sind intakt. Kein Wunder, dass der Einzige, der wegen der
Juni-Demonstrationen verurteilt wurde und bis heute inhaftiert ist, ein
schwarzer Straßenbewohner ist. Diese alltägliche Gewalt hat keine neuen
Proteste hervorgerufen. Aber sie zeigt, dass noch viele Schreie notwendig
sind, um im neuen Jahr ein anderes Land zu haben – dabei geht es nicht um
den „Tooor“-Schrei.
Aus dem Portugiesischen von Andreas Behn
3 Jan 2014
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