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# taz.de -- BRICS-Staaten 2014 – Russland: Man möchte doch Optimist sein
> Werden die Brics-Staaten das 21. Jahrhundert prägen? In Russland steht
> 2014 im Zeichen der Winterspiele von Sotschi. Wünsche an ein Land.
Bild: Niemand weiß, was nach den Spielen mit Sotschi eigentlich geschehen soll.
MOSKAU taz | Es ist wohl kaum verwunderlich, dass viele Prognosen und
Erwartungen für das kommende Jahr in Russland auf die eine oder andere
Weise mit den Olympischen Spielen verknüpft sind.
Zugegeben, sie rosig zu nennen fällt schwer. Die Spiele haben den Haushalt
schon jetzt anderthalb Billionen Rubel gekostet. Ein Teil davon versickerte
in privaten Taschen, versteht sich – wie hätte es auch anders sein sollen.
Niemand weiß, was nach den Spielen in dieser südlichen Stadt mit den
gigantischen Wintersportstätten, den luxuriösen Hotels und dem
überdimensionierten Flugplatz eigentlich geschehen soll.
Fast alle Objekte werden sich wohl nie bezahlt machen, niemand wird sie
noch einmal nutzen, sie zu unterhalten ist aber kostspielig. Schon jetzt
ist die Nutzung riskant – wegen der geringen Bauqualität. Und schon jetzt
ist abzusehen, dass ein Teil der Anlagen in Sotschi, die in der schlammigen
Schwemmlandschaft der Imeritinski-Bucht errichtet wurden, unweigerlich –
wenn auch nur langsam – im Boden versinken werden.
Weitaus bedrohlichere Gefahren indes sind immaterieller Natur. Viele
Menschen in Russland sind überzeugt: Nach den Spielen werden die
Daumenschrauben angezogen. Vor den Wettkämpfen bemühen sich die Machthaber
noch aus Imagegründen, nicht über die Stränge zu schlagen. Im März hingegen
werden sie hemmungslos loslegen.
Diese Vermutung ist logisch, deckt sich aber zum Glück nicht mit dem, was
zurzeit geschieht. Klar, Chodorkowski wurde freigelassen sogar etwas vor
Ablauf seiner Strafe, zur gleichen Zeit werden jedoch in aller Ruhe
reaktionäre Umbesetzungen in den Medien vorgenommen und Antihomogesetze
erlassen.
Man hätte dies auch erst nach den Spielen machen können, ohne einen Boykott
zu riskieren und weltweit Aufmerksamkeit zu schüren. Kurzum, der Konnex
zwischen Olympia und politischem Klima ist in Russland nicht so eindeutig,
im Frühling muss es nicht zwangsläufig zu einem Temperatursturz kommen.
Zumindest hoffe ich das.
## Geld für die Wissenschaft
Sicher, gute Wünsche habe ich reichlich für Russland. Fangen wir damit an:
Wenn wir in Zukunft von einem unvermeidbaren Konflikt ausgehen zwischen der
Weltmacht USA und China, das Anwartschaft auf die Führung erhebt, wird es
unserem Land kaum gelingen, unbeteiligt zu bleiben – schon allein wegen der
Rohstoffbasis.
Der Grundstock russischer Rüstungsgüter stammt noch aus der UdSSR, deren
Reservedepots wurden jedoch vernichtet und die Armee auf eine Million
Soldaten heruntergekürzt. Hinzugekommen sind dann noch die Reformen des
früheren Verteidigungsministers, der wegen Korruption im großen Stil
abgesetzt wurde und dessen Reformeifer frühere Strukturen zerstörte und
Einheiten auf Brigadestärke schrumpfen ließ. Für Säuberungen im Kaukasus
mag das sinnvoll sein, nicht jedoch für militärische Auseinandersetzungen
großen Maßstabs.
Experten sind der Auffassung, dass nur das Atomwaffenarsenal Russland vor
einem Schicksal wie Libyen und Syrien bewahrt – und das auch nicht auf
lange Sicht. Vor diesem Hintergrund möchte ich uns allen wünschen, dass wir
von Weltkriegen verschont bleiben.
Zu wünschen wäre, dass mehr Geld in die Wissenschaft gesteckt wird und
daraus eine Menge lebensfähiger wissenschaftlicher Projekte entstehen. Bis
jetzt hat uns die Innovationsstadt Skolkowo nichts Bedeutendes beschert.
Wie großartig wäre es, wenn der russische Haushalt mal nicht mehr von
Rohstoffen abhinge und sich stattdessen Maschinenbau und
Industrieproduktion entwickelten.
## Abhängigkeit vom Ausland
Selbst Türklinken sind in russischen Geschäften Importware. Sonst schaffen
wir es nicht, uns aus der Abhängigkeit von ausländischem Kapital
herauszubegeben. Langfristig müsste unsere Bevölkerung auf
Lebensnotwendiges verzichten und wäre zum Hungern verdammt.
Übrigens, ein paar Anmerkungen noch zu unserer Bevölkerung. Wenn sich doch
nur Alkoholkonsum und fortschreitender Verfall aufhalten ließen. 14 Liter
reiner Alkohol pro Person und Jahr sind es derzeit! Und wenn sich nur die
Geburtenrate ankurbeln und Sibiriens Aussterben verhindern ließen. Von dort
fliehen die Menschen, weil das Leben nicht mehr bezahlbar ist, sozialer
Schutz und Perspektive fehlen. Daher wäre ein einheitlicher Rechtsraum auch
für alle Subjekte der Föderation unumgänglich.
Zurzeit sieht es so aus, dass Tschetschenien nach eigenen Gesetzen lebt,
während in Wladiwostok wieder andere gelten: Ein klares Anzeichen eines
territorialen und mentalen Zerfalls des Landes. Dieser spricht auch aus
Forderungen, den Kaukasus abzutrennen oder die Baikalregion und den Fernen
Osten wirtschaftlich an China auszurichten – und eben nicht am eigenen
Zentrum. Ganz zu schweigen von wachsenden radikalislamischen Strömungen im
Süden des Landes und in nationalen Republiken wie Baschkirien und
Tatarstan.
Wünschenswert wäre es, wenn Prognosen nicht einträfen, die wirtschaftliche
Stagnation, geringe Investitionsbereitschaft, sinkende Ölförderung und hohe
Inflation in Russland 2014 voraussagen…
## Realistische, traurige Zukunft
Man möchte doch Optimist sein. Vielleicht ist das Dauergerede über
schlechtere Aussichten auch eine gewisse Zukunftsbeschwörung und ein
Versuch, sie auf günstigere Bedingungen zu programmieren. Sicherlich ist es
auch kein Zufall, dass die russischen Schriftsteller in den letzten zehn
Jahren den Übergangscharakter unserer Zeit spüren und nur damit beschäftigt
sind, die Vergangenheit aufzuarbeiten oder in die Zukunft zu blicken. Auch
deren Themen drehen sich um nichts anderes als die oben beschriebenen
Risiken und Gefahren: Russland zerfällt nicht nur, es verfällt auch in
einen totalitären Obskurantismus, verliert erst seine frei denkenden
Bürger, dann Boden und Territorium.
Eine traurige Zukunft, die leider ziemlich realistisch ist. Sie hängt in
der Luft. Damit sie nicht eintritt, ist es so wichtig, die Dinge klar zu
benennen.
Ich hoffe sehr, dass all das nicht wahr wird. Dass die Olympischen Spiele
stattdessen gelingen, die russische Regierung transparent wird, die
Verfassung funktioniert, sich die Korruption verflüchtigt und sich auch die
Angespanntheit im Kaukasus legt; dass das Bewusstsein der Menschen
Fortschritte macht und ein Krieg zwischen den USA und China lediglich eine
Hypothese kurzsichtiger Politologen bleibt. Amen.
Aus dem Russischen von Klaus-Helge Donath
4 Jan 2014
## AUTOREN
Alissa Ganijewa
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Michail Chodorkowski
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