# taz.de -- Indischer Ökonom über Migration: „Wachstum und Demokratie helfe… | |
> Migration aus ärmeren in reichere Länder wird es immer geben. Deshalb | |
> fordert der indische Ökonom Bhagwati einen Migrationsfonds – und Wachstum | |
> um jeden Preis. | |
Bild: Migranten aus Afrika auf dem gefährlichen Weg nach Europa | |
taz: Herr Bhagwati, über die Rahmenbedingungen von Migration wird in der | |
breiten Öffentlichkeit immer nur nach tragischen Unglücken debattiert. | |
Warum kommen wir hier nicht voran? | |
Jagdish Bhagwati: Zunächst ist die Migrationspolitik der westlichen | |
Industrieländer absurd und trägt eine Teilschuld daran, dass Menschen | |
sterben. Wir brauchen einen internationalen Verteilungsmechanismus, der | |
Flüchtlinge schützt und für sie eine neue Heimat findet. | |
Wie würde der Mechanismus funktionieren? | |
Industriestaaten, die Migranten aufnehmen, sollten Zahlungen von anderen | |
reichen Staaten erhalten. Mit dem Geld müssten sie Bedingungen für | |
Einwanderer vor Ort schaffen, die es ihnen ermöglichen, eine eigene | |
Existenz in Sicherheit aufzubauen. Dafür braucht es einen internationalen | |
Migrationsfonds. | |
Verkehren Sie hier nicht menschliches Schicksal in ökonomischen Nutzen? | |
Klar ist doch: Es wird immer Migration aus ärmeren in reichere Länder | |
geben. Das ist sinnvoll, denn so gleichen sich Arbeitslosigkeit und | |
Lohnverhältnisse der Länder an. Darüber hinaus sind wirtschaftliche von | |
politischen Flüchtlingen zu unterschieden, was in den USA immer noch nicht | |
geschieht. Wirtschaftsmigration lässt sich nur reduzieren, wenn sich der | |
Lebensstandard in den Entwicklungsländern verbessert. | |
In Ihrem Buch „Why Growth Matters“ behaupten Sie, das gehe nicht ohne immer | |
mehr Wirtschaftswachstum. | |
Ja, das ist der zentrale Punkt. Denn es gibt kein effektiveres Mittel, um | |
Armut in Entwicklungsländern zu bekämpfen als Wachstum. Indien führte 1991 | |
nach Jahren exzessiver Wirtschaftsregulierung entscheidende liberale | |
Reformen ein. Zunehmende Kapitalimporte und der sukzessive Abbau | |
wachstumshemmender Handelsrestriktionen führten zu enormen Wachstumsraten – | |
zwischen 2003 und 2011 um 8,5 Prozent jährlich. Viel wichtiger: Die | |
Armutsquote sank von 45,6 Prozent im Jahr 1985 auf 27,5 Prozent zwanzig | |
Jahre später. 180 Millionen Menschen erzielten erstmals ein Einkommen über | |
der Armutsgrenze. Und in Ländern mit hoher Korruption wirken marktöffnende | |
Reformen armenfreundlich, da die Entscheidung, was produziert oder wie viel | |
investiert wird, nicht mehr von der Gunst eines Politikers abhängt, der die | |
entsprechenden Lizenzen verteilt. | |
Sie sprechen von rein ökonomischem Wachstum. Braucht es nicht genauso eine | |
soziale Umverteilung der Gewinne? | |
In Ländern wie Indien mit extremer Armut ist eine Umverteilung aus | |
arithmetischen Gründen nicht sinnvoll. Eine stärkere Besteuerung der | |
reichsten 10 oder 15 Prozent hätte für die gesamte indische Bevölkerung nur | |
einen minimalen bis gar keinen Effekt. Es gibt schlicht zu wenige, von | |
denen man nehmen kann, und zu viele, denen man geben muss. Das vorrangige | |
Ziel von Regierungen in Entwicklungsländern mit hohen Armutsquoten muss es | |
sein, Wirtschaftswachstum zu generieren. | |
In Indien gab es in den letzten Jahren ein sehr hohes Wirtschaftswachstum, | |
aber die Ungleichheit blieb währenddessen unverändert. | |
Die bestehende Ungleichheit ist zu 90 Prozent auf das Stadt-Land-Gefälle | |
zurückzuführen. Die Städte profitierten vom wirtschaftlichen Aufschwung. | |
Man darf aber auch nicht übersehen, dass die Armut insbesondere von | |
sozialen Minderheiten zurückgegangen ist. Anders als oft behauptet ist | |
Wirtschaftswachstum inklusiv. | |
Sind die Zeiten, in denen Handelsliberalisierung und Wirtschaftswachstum | |
als Allheilmittel für Entwicklungsländer gelten, nicht vorbei? | |
Nein, denn Wachstum generiert Beschäftigung und Steuereinnahmen. Damit ist | |
es die Grundlage für jede soziale Entwicklung. Man kann Gesetze auf | |
legislativer Ebene verabschieden; wenn man aber den Menschen in sozialen | |
Notlagen keine wirtschaftliche Perspektive bietet, dann bleiben diese oft | |
wirkungslos. Ein Gesetz, das häusliche Gewalt gegen Frauen verbietet, ist | |
nicht selten ein stumpfes Schwert, wenn die Frau nicht unabhängig von ihrem | |
Mann leben kann. Und wovon soll sie leben, wenn sie nach einer Scheidung | |
allein ist? Keine Frage, wir brauchen einen schützenden Staat, aber die | |
Menschen brauchen auch Beschäftigung, um sozial unabhängig zu sein. | |
Bedingungsloses Wachstum bedeutet oft, dass Menschen unter unwürdigen | |
Bedingungen arbeiten. Wie wollen Sie das verhindern? | |
Das kann nur ein demokratischer Rechtsstaat. Eine demokratische Regierung | |
muss auf lange Sicht immer jene Politik wählen, die im Sinne der Mehrheit | |
ihrer Bevölkerung ist. Demokratie befähigt die Menschen, Wirtschaftsmacht | |
in soziale Macht umzuwandeln. Daher ist für mich Indien ein geeigneteres | |
Vorbild für Entwicklungsländer als China. | |
4 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Fabian Heppe | |
Marius Mühlhausen | |
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