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# taz.de -- Leben in Jerusalem: Mind the gap
> Jerusalem ist eine zweigeteilte Stadt, mindestens. Eine Straßenbahn
> verbindet und spaltet die, die mit ihr fahren. Vier Porträts auf dreizehn
> Kilometern.
Bild: Verbindend und trennend.
JERUSALEM taz | Ein alter Mann steht auf einem Berg und wartet auf die
Straßenbahn. Er wird gleich das Völkerrecht brechen. Er hat weißes, lichtes
Haar, ein hageres Gesicht und trägt eine große Sonnenbrille. Mit der
Straßenbahn will er heute die jüdischen Siedlungen im Ostteil von Jerusalem
besuchen.
Siedlungen, Grenzen, Hauptstadt. Wer noch an eine friedliche Lösung in
Nahost glaubt, muss diese drei Probleme in den Griff bekommen. An Jerusalem
werden wahrscheinlich auch die neusten Friedensverhandlungen unter John
Kerry scheitern, da sich die Probleme in der Stadt potenzieren. Aus dem
Fenster der Straßenbahn und in jedem Abteil zeigen sie sich auf engstem
Raum.
Erst seit zwei Jahren ist die Straßenbahn fertig, nach sechzehn Jahren
Planung und unzähligen Verzögerungen beim Bau. Heute hat sie 100.000
Fahrgäste täglich, 30.000 mehr als erhofft. Sie verbindet die jüdischen
Siedlungen im palästinensischen Ostjerusalem mit dem Stadtzentrum auf
israelischer Seite – 23 Stationen, 13 Kilometer, 45 Minuten.
Jedes Mal, wenn die Bahn mit Geklingel über die Grüne Linie fährt, die
unsichtbare Grenze zwischen Israel und Palästina in der Nähe der
Altstadtmauer, bricht sie internationales Recht, weil Israel in
Ostjerusalem nicht bauen darf. Damit ist die Straßenbahn ein weiteres
Hindernis auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung. Einerseits. Andererseits
ist sie in einer Stadt, in der es sogar zwei separate Buslinien gibt, das
erste verbindende Element.
## Gabi Daus – der Alte
Der Herzlberg, auf dem Gabi Daus in die Straßenbahn steigt, ist die erste
Haltestelle der Linie, aber auch die erste Haltestelle Israels: Hier liegt
der Gründer des Zionismus, Theodor Herzl, begraben. Direkt daneben, wenige
hundert Meter entfernt, Yad Vashem, die israelische Holocaust-Gedenkstätte.
Die ersten beiden Stationen des israelischen Staates: Utopie und
furchtbarer Anlass. Daus ist auf dem Herzlberg, um spazieren zu gehen: „Von
hier hat man eine schöne Aussicht auf Jerusalem.“
Der Zug klingelt, und Daus beginnt seine Fahrt durch die Stadt: Ein
silbergrauer Zug fährt durch die geputzte Sandsteinkulisse, durch
Westjerusalem, wo die Wohnhäuser Spitzdächer haben und gepflegte Gärten, wo
Tennisplätze an saubere Straßen grenzen. „Hier ist meine Grundschule“, sa…
er und zeigt aus dem Fenster. 1944 ist er eingeschult worden. Dreißig
Kinder waren sie damals an der ganzen Schule, die allein auf einem Berg
stand. Heute ist sie umgeben von der Stadt, die immer weiter wächst.
Daus ist Jerusalemer, sein Leben lang. 1938 wurde er hier geboren, als Sohn
deutscher Juden, die 1933 nach Palästina flohen. Sein Vater kam aus
Berlin-Nikolassee, seine Mutter aus einem Ort, dessen Namen er vergessen
hat: „Schalke 04, wie heißt das noch mal?“ Sein Deutsch ist tastend, aber
blumig: Er sagt, seine Eltern hätten die Hitlerzeit gerochen. Sie brachten
ihm Deutsch bei, bevor sie selbst Hebräisch sprechen konnten.
Daus lebt länger in der Stadt, als sein Heimatland existiert. Am 14. Mai
1948 stand sein Onkel vor dem Haus seiner Eltern und rief: „Wir haben einen
Staat!“ Er nahm den zehnjährigen Gabi mit in die Stadtmitte, gemeinsam
tanzten sie auf der Straße. Am nächsten Tag begann der erste Krieg, und
seine arabischen Nachbarn verschwanden aus seinem Stadtviertel.
Heute leben etwa 800.000 Menschen in Jerusalem. 62 Prozent sind Juden, 35
Prozent Muslime, 2 Prozent Christen. Es gibt 1.200 Synagogen, 158 Kirchen
und 73 Moscheen. Die Stadt ist Mythos und Geschichte, und sie ist umkämpfte
Gegenwart. Immer wieder wurde Jerusalem besetzt, zerstört und
wiederaufgebaut. Christen, Muslimen und Juden ist Jerusalem gleichermaßen
heilig: Hier erbaute Salomon seinen Tempel, Jesus wurde gekreuzigt und
begraben, Mohammed stieg in den Himmel auf.
Der Zug hält, eine Männerstimme vom Band verkündet auf Hebräisch, Arabisch
und Englisch den nächsten Halt, die Türen öffnen sich. Trauben von Menschen
drängen zu den Türen des einfahrenden Zuges. Erst aussteigen, dann
einsteigen lassen? Hat hier kein Kind gelernt. Sicherheitsmänner schauen
streng, tragen kugelsichere Weste und einen Knopf im Ohr. Viele
ultraorthodoxe Juden steigen ein. Einer von ihnen setzt sich neben Daus,
packt seine Thora aus und beginnt sofort zu lesen.
Daus stört, dass Orthodoxe in Jerusalem immer mehr Einfluss haben. Seit
einigen Jahren breiten sie sich in Stadtvierteln aus, die ehemals säkular
waren. „Das hier ist Kiryat Mosche“, sagt er und zeigt aus dem Fenster.
Früher hätten hier auch Nichtgläubige gewohnt, aber die seien dann lieber
in die Vororte gezogen. „Sie wollen nicht 80 Prozent Orthodoxe in ihrem
Viertel haben. Jetzt darf man hier am Schabbat nicht mehr Autofahren oder
die Musik laut machen.“ Ultraorthodoxe setzten auf über 50 Buslinien durch,
dass Männer und Frauen getrennt sitzen müssen.
Das oberste Gericht lehnte die Geschlechtertrennung ab, doch sie wird
teilweise weiterbetrieben, auf „freiwilliger Basis“. Auch für die
Straßenbahn wollten Ultraorthodoxe eine solche Richtlinie, konnten sich
aber nicht durchsetzen. Am Freitagabend, dem Beginn des Schabbat, wenn
Busse und Straßenbahn nicht fahren dürfen, gehört die Stadt ihnen. Dann
laufen sie im Gleisbett, ein Zug sollte ihnen besser nicht begegnen.
An der zentralen Busstation steigen Soldaten in die Straßenbahn, sie fahren
kostenlos. Manche tragen zur Uniform nur eine Handtasche, andere ein
Maschinengewehr, das dann den Oberschenkel des Sitznachbarn berührt.
Manchmal steigt auch ein Zivilist mit Waffe ein: Siedler, die das Recht
haben, sich zu bewaffnen. Der Zug ist jetzt voll. Die meisten halten sich
an den Griffen fest, schwingen im Takt der Bahn gegeneinander. Russische
Juden lesen Zeitungen in kyrillischer Schrift. Säkulare halten das Handy
wie ein Walkie-Talkie vor ihren Mund und schreien hinein. Orthodoxe
Schülerinnen sitzen mit ihren langen Röcken und weißen Blusen neben
muslimischen Mädchen mit Kopftuch.
Der Zug bremst wieder, erreicht die Station Jaffa-Zentrum, mitten im
Einkaufstrubel der Innenstadt. Glaubt Daus, dass die Straßenbahn Israelis
und Palästinenser zusammenbringt? Oder ärgern sich die Palästinenser, weil
sie die jüdischen Siedlungen im Osten der Stadt anbindet? „Die Araber
wollen nur schnell zur Arbeit oder zum Einkaufen. An die Siedlungen denken
sie nicht.“ „Araber“, sagt Daus jedes Mal, „Palästinenser“ sagt er n…
## Daniel Seidemann – der Anwalt
Die Straßenbahn verlässt das Jaffa-Zentrum und fährt mit Daus weiter in
Richtung Siedlung. Wer zwischen billigen Schuhläden und Caféhaus-Ketten ein
paar Meter durch enge Gassen läuft, kommt zum Büro Daniel Seidemanns. Er
nimmt die Straßenbahn, um zu seinen Mandanten in Ostjerusalem zu kommen:
Palästinenser, die von Siedlern aus ihrem Haus geworfen wurden und jetzt
vor Israels höchstem Gericht klagen. Aus seinem Büro im zehnten Stock hat
er einen weiten Blick über Jerusalem, über das orthodoxe Viertel Mea
Schearim bis nach Ramallah. „In der zweiten Intifada, als die israelische
Armee Arafats Präsidentenpalast beschoss, hatten wir hier oben Plätze in
der ersten Reihe.“
„Das Beste an der Aussicht ist, dass ich die ganzen Verrückten auf der
Straße nicht sehen muss.“ Auch Seidemann selbst ist zweigeteilt in oben und
unten, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt. Ein gebügeltes, himmelblaues
Hemd, dazu seriösgraue Haare. Wer ein Blick unter den Schreibtisch wirft,
sieht eine ausgewaschene Jeans, die für einen Anwalt etwas zu tief sitzt.
Seidemann stützt die Arme auf, legt Finger auf Finger. „Schieß!“, sagt er
dem Gast zu Beginn des Gesprächs mit durchdringendem Blick, schießt dann
aber selbst los: „Die Straßenbahn dient einer Stadt, die nicht existiert.“
Seidemann ist jüdischer Amerikaner, vor allem aber Jerusalemer. Mit 22
Jahren ist er in die Stadt gezogen und nie wieder gegangen. Als Anwalt hat
er eine NGO gegründet, die Karten von jeder Straßenecke Jerusalems
veröffentlicht und jede neue Siedlung verzeichnet. Er kennt alle Grenzen
und Mauern der Stadt. „Jerusalem ist mein Job“, sagt er.
Als junger Mann lebte er selbst ein paar Jahre in einer Siedlung, jetzt ist
es ihm peinlich. Doch er versteht die mittlerweile über 200.000 Israelis,
die im arabischen Ostjerusalem leben: „Die sind nicht ideologisch, die
suchen ein Haus. In meinen Augen ist das kein großes Verbrechen. Bei einer
Friedenslösung werden die Siedlungen dort so oder so ein Teil von Israel.“
Seidemann war als Jerusalemexperte an allen gescheiterten
Friedensverhandlungen seit 2001 beteiligt.
Er glaubt trotz allem an die Zweistaatenlösung: „Jerusalem muss nicht
geteilt werden, Jerusalem ist bereits geteilt. Das muss nur festgeschrieben
werden.“ Der Westen für die Israelis, der Osten für die Palästinenser, eine
trennende Grenze statt einem verbindenden Gleis. Und was, wenn die
Zweistaatenlösung nicht klappt? Seidemann grinst das Grinsen eines
Zynikers: „Unendliches, gegenseitiges Blutvergießen.“
Er ist skeptisch, ob die Straßenbahn die nächsten Konflikte zwischen
Israelis und Palästinensern übersteht: „Die Straßenbahn wurde nicht im
Ernstfall getestet. Wenn es wieder zu Spannungen kommt, und das wird
definitiv der Fall sein, werden die Siedler keinen Zug nehmen, der durch
das arabische Viertel führt.“ Bisher war es meist ruhig. Doch, erinnert er
sich, es gab Messerstechereien und Schlägereien, von Israelis und
Palästinensern provoziert.
„Das sind nur Spiegelungen des Alltags in dieser Stadt.“ Aber bringt die
Straßenbahn nicht alle zusammen, Soldaten, Orthodoxe, Palästinenser und
Siedler? Ist das nicht ein Grund zur Hoffnung? „Sie treffen sich auch bei
McDonald’s, im Zoo, in Krankenhäusern und in den Malls. Bringt das
Palästinenser und Israelis zusammen? Ich glaube nicht.“
Warum geht er nicht einfach? Was liebt er trotz allem an dieser Stadt?
„Hier treffen tektonische Platten aufeinander: Die westliche und die
arabische Welt, die Religionen.“ Und wo sich tektonische Platten treffen,
gibt es eben Erdbeben: „Jerusalem ist eine Stadt, die unter dem Gewicht
ihrer eigenen Projektionen zerbricht.“
## Itamar Tovi-Bensousan – der Siedler
Itamar Tovi-Bensousan steigt am Rathaus in die Straßenbahn, kurz vor der
Grünen Linie. Er hat die neugierigen, weit hervorstehenden Augen eines
Soziologen, der die anderen Passagiere mustert. Er sieht arabisch aus, doch
er fährt nicht in die palästinensischen Viertel, sein Zuhause liegt in
French Hill, einer jüdischen Siedlung im Ostteil der Stadt.
„Wenn mir die Leute sagen: ’Du bist ein Siedler, hau ab!‘, dann sage ich:
’Verpiss dich! Ich habe hier mein ganzes Leben lang gelebt, ich spreche
sogar Arabisch mit meinen Eltern. Ich gehöre hierher.‘ “ Bensousan ist
Mizrachi, arabischer Jude. Seine Familie lebte in Ägypten, bevor sie nach
Israel kam.
Bensousan ist in Jerusalem geboren, in der Siedlung. Seine Familie gehört
zur Mittelschicht, „dank der Besatzung“, sagt er. Sie kauften ein
günstiges, subventioniertes Haus in Ma’ale Adumin, einer Siedlung im
Speckgürtel Jerusalems. In der Innenstadt könnten sich nur reiche Israelis
Häuser leisten, sagt er. Er versteht sich als links, die Besatzung will er
beenden. Nur umziehen will er dafür nicht.
Der Zug fährt an der Altstadtmauer vorbei über die Grüne Linie, die Grenze
zwischen dem israelischen Staat und den besetzten Gebieten. „Der Gedanke
ist hier nicht sehr beliebt“, sagt Bensousan. Tatsächlich ändert sich nur
die Umgebung, ein neues Viertel beginnt. Der Zug hält am Damaskustor, dem
Eingang zur Altstadt und dem arabischen Teil Jerusalems. Das Publikum
ändert sich, Palästinenser steigen zu. Kleine Jungs fragen Aussteigende
nach ihren Tickets, um sie weiterzuverkaufen. Sie bewegen sich hektisch,
immer ein Auge auf die Sicherheitsleute.
Bensousan beobachtet gern die Menschen in der Straßenbahn. Eine junges
Mädchen mit Kopftuch steht vor dem Fahrscheinautomaten und zählt ihre
Münzen. Ein Sicherheitsmann fragt sie auf Englisch, ob sie es zusammen
probieren sollen. Als alle Münzen im Schlitz verschwunden sind, fehlen ihr
zwei Schekel, vierzig Cent. Der Sicherheitsmann öffnet sein Portemonnaie
und zahlt den fehlenden Betrag.
„Wenn man die Soldaten beobachtet“, sagt Bensousan, „sieht man, dass sie
sich in der Straßenbahn nicht wohl fühlen.“ Sie kommen von ihrer Schicht am
Checkpoint und fahren dann mit den Menschen in der Bahn, die sie eben noch
kontrolliert haben. „Sie sehen ihre Feinde mit ihrem Handy spielen,
telefonieren – und beginnen, sich zu fragen: ’Will er mich töten? Oder geht
er heute Abend einfach nur aus?‘ “
Bensousan sagt, seine Kindheit in Ma’ale Adumim, der jüdischen
Siedlerstadt, war idyllisch. Parks, verkehrsberuhigte Straßen, viele
Kinder. „Wie bei Nils Holgersson“, sagt er, was an einem 35 Grad heißen
Sommertag ein gewagter Vergleich ist. Wenn es in den Nachrichten um
Siedlungen geht, sieht man ein paar Caravans und Container, aber Ma’ale
Adumin ist eine Stadt von 35.000 Einwohnern. Eine israelische Bastion im
palästinensischen Westjordanland und gleichzeitig ein verschlafener Vorort
Jerusalems. Als Jugendlicher ist Bensousan mit Freunden in die umliegenden
palästinensischen Dörfer gefahren, hat Wasserpfeife geraucht und Arabisch
gesprochen. „Ich hatte das Gefühl, Teil dieses Orts zu sein.“
Erst bei seinem Militärdienst hat Bensousan verstanden, dass die Siedlung
Teil der Besatzung ist. Er hat den Dienst früher abgebrochen, sich
„psychologische Probleme“ attestieren lassen.
Wie wird es weitergehen mit Jerusalem? „Nur die Gewalttätigen und Armen
bleiben hier“, sagt er. „Alle Israelis, die können, haben doch eh schon
einen zweiten, europäischen Pass. Jerusalem wird zu Sodom und Gomorra.
Extreme Siedler werden Araber töten, einfach so.“ Mit der Hand formt er
eine Pistole und macht: „Puff!“
## Fayrouz Sharqawi – die Palästinenserin
Im Ostteil der Stadt ist Jerusalem nicht wiederzuerkennen: Müll liegt auf
den Straßen neben dreckigen Betonbauten mit greller Leuchtreklame. Auf
jedem Hausdach stehen schwarze Tonnen, die Wasserversorgung ist schlecht.
Die Stadtverwaltung gibt nur 10 Prozent des Etats in den palästinensischen
Vierteln aus. Auf ihrem Weg zur Straßenbahn läuft Fayrouz Sharqawi an
großen israelischen Hotels vorbei, die sie mit „Welcome to Israel“ und
blau-weißen Flaggen begrüßen.
Sharqawi ist Palästinenserin mit israelischem Pass. Sie wuchs in Israel
auf, in einem arabischen Dorf bei Nazareth. Zum Studieren zog sie nach
Jerusalem, heute lebt sie in Schuafat, einem palästinensischen Viertel in
Ostteil Jerusalems. Wenige hundert Meter neben ihrem Haus verläuft die
Mauer, die Israel gebaut hat, um palästinensische Selbstmordattentäter
abzuhalten, dahinter liegt ein Flüchtlingslager.
Die Station, an der Sharqawi nach der Arbeit wartet, heißt Shimon
HaTzaddik: Simon der Gerechte. Selbst in arabischen Buchstaben steht nur
der jüdische Name des Viertels an den Schildern der Haltestelle. Sharqawi
nennt die Station trotzig „Sheikh Jarrah“, so heißt das Viertel auf
Arabisch, benannt nach einem Emir, der hier 1201 beerdigt wurde. Sharqawi
raucht so schnell, wie sie redet. „Palästinensern wird gesagt: ’Haut ab
hier! Sucht euch einen anderen Ort zum Wohnen!‘ “ Sie ist laut und wütend,
sie möchte gern alles boykottieren: Die Straßenbahn, die Besatzung, Israel.
Aber ein Boykott ist schwierig, wenn es keine Alternative gibt. Sharqawi
will nicht sagen, wie oft sie selbst die Straßenbahn benutzt.
Sie steigt ein und findet einen Sitzplatz am Fenster. Vier kleine arabische
Jungen drücken sich die Nasen an der Glasscheibe platt, schauen gebannt auf
die vorbeiziehenden Straßen, berauschen sich an der Geschwindigkeit. Warum
boykottieren die Palästinenser die Straßenbahn nicht, wenn sie doch die
Besatzung und die Siedlungen stärkt? Sharqawi muss das erste Mal
nachdenken, bevor sie antwortet: „Viele haben die Hoffnung auf einen
eigenen Staat verloren. Sie müssen in den Westen, um Einkäufe und
Behördengänge zu machen. Und da kommt plötzlich die Straßenbahn, die das
sehr einfach macht.“
Die Welt hat die Palästinenser wie Kindergartenkinder behandelt, sagt
Sharqawi. „Zwanzig Jahre lang wurde uns eingetrichtert: Friedensprozess und
Verhandlungen. Aber geändert hat sich nichts.“ Sharqawi hat Forderungen,
sie zählt auf: Baugenehmigungen, Siedlungsstopp, bessere Straßen und
Schulen in den palästinensischen Vierteln. Sie will gleiche Rechte für alle
von einem Land, das sie nicht anerkennt.
Könnte die Bahn nicht ein Ort sein, an dem Israelis und Palästinenser
zusammentreffen? Die Frage bringt Sharqawi zum Lachen. „Klar, das ist ein
schöne israelische Sichtweise“, sagt sie, „aber auch eine humanitäre
Kaugummiblase. Ja, ich könnte einen Israeli in der Straßenbahn
kennenlernen, und wir merken, dass wir die gleiche Musik hören, den
gleichen Fußballklub mögen und abends in die gleiche Bar gehen. Aber was
macht das für einen Unterschied? Die Besatzung geht weiter.“
Fayrouz Sharqawi redet sich in Rage, andere Passagiere schauen die lockige
Frau teils interessiert, teils verwundert an. „Ist das nicht absurd? Es ist
toll und etwas Besonderes, wenn sich Palästinenser und Israelis in der
Straßenbahn als gleich begegnen. Weil Israelis die Palästinenser in ihrer
Stadt nur treffen, wenn sie den Fußboden wischen oder in der Küche ihres
Restaurants kochen. Das ist doch lächerlich.“
Was wünscht sie sich denn? „Ich möchte kein demografisches Problem sein.“
Sharqawi steigt aus, in der jüdischen Siedlung French Hill, die neben
Schuafat liegt. Sie muss noch einkaufen gehen, und weil es auf dem Weg
liegt, erledigt sie das hier in der Siedlung: leere Straßen, ein
verschlafener Vorort. „Besatzung“ kann unspektakulär sein, mit Gartenzaun
und Berufspendlern.
Der Zug fährt in die letzte Station, eine jüdische Siedlung. Auf einem der
Hügel, wo immergleiche Mehrfamilienhäuser stehen, steht wieder Gabi Daus,
der erste Passagier des Tages. Hier hat er 1967 im Sechstagekrieg gekämpft.
Er zeigt, aus welchem Gebäude die Jordanier schossen und wo er sich
versteckt hat. 1993, nach den Verhandlung in Oslo, hat Daus noch an den
Frieden geglaubt: „Heute denke ich, dass wir bald nur noch einen Staat
haben werden. Einen, den wir nicht wollen und den die Araber auch nicht
wollen.“ ’Heil HaAvir heißt die letzte Station der Straßenbahn. Auf
Deutsch: Luftwaffe.
Mitarbeit: Anne Fromm
21 Jan 2014
## AUTOREN
Kersten Augustin
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