# taz.de -- Leben in Jerusalem: Mind the gap | |
> Jerusalem ist eine zweigeteilte Stadt, mindestens. Eine Straßenbahn | |
> verbindet und spaltet die, die mit ihr fahren. Vier Porträts auf dreizehn | |
> Kilometern. | |
Bild: Verbindend und trennend. | |
JERUSALEM taz | Ein alter Mann steht auf einem Berg und wartet auf die | |
Straßenbahn. Er wird gleich das Völkerrecht brechen. Er hat weißes, lichtes | |
Haar, ein hageres Gesicht und trägt eine große Sonnenbrille. Mit der | |
Straßenbahn will er heute die jüdischen Siedlungen im Ostteil von Jerusalem | |
besuchen. | |
Siedlungen, Grenzen, Hauptstadt. Wer noch an eine friedliche Lösung in | |
Nahost glaubt, muss diese drei Probleme in den Griff bekommen. An Jerusalem | |
werden wahrscheinlich auch die neusten Friedensverhandlungen unter John | |
Kerry scheitern, da sich die Probleme in der Stadt potenzieren. Aus dem | |
Fenster der Straßenbahn und in jedem Abteil zeigen sie sich auf engstem | |
Raum. | |
Erst seit zwei Jahren ist die Straßenbahn fertig, nach sechzehn Jahren | |
Planung und unzähligen Verzögerungen beim Bau. Heute hat sie 100.000 | |
Fahrgäste täglich, 30.000 mehr als erhofft. Sie verbindet die jüdischen | |
Siedlungen im palästinensischen Ostjerusalem mit dem Stadtzentrum auf | |
israelischer Seite – 23 Stationen, 13 Kilometer, 45 Minuten. | |
Jedes Mal, wenn die Bahn mit Geklingel über die Grüne Linie fährt, die | |
unsichtbare Grenze zwischen Israel und Palästina in der Nähe der | |
Altstadtmauer, bricht sie internationales Recht, weil Israel in | |
Ostjerusalem nicht bauen darf. Damit ist die Straßenbahn ein weiteres | |
Hindernis auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung. Einerseits. Andererseits | |
ist sie in einer Stadt, in der es sogar zwei separate Buslinien gibt, das | |
erste verbindende Element. | |
## Gabi Daus – der Alte | |
Der Herzlberg, auf dem Gabi Daus in die Straßenbahn steigt, ist die erste | |
Haltestelle der Linie, aber auch die erste Haltestelle Israels: Hier liegt | |
der Gründer des Zionismus, Theodor Herzl, begraben. Direkt daneben, wenige | |
hundert Meter entfernt, Yad Vashem, die israelische Holocaust-Gedenkstätte. | |
Die ersten beiden Stationen des israelischen Staates: Utopie und | |
furchtbarer Anlass. Daus ist auf dem Herzlberg, um spazieren zu gehen: „Von | |
hier hat man eine schöne Aussicht auf Jerusalem.“ | |
Der Zug klingelt, und Daus beginnt seine Fahrt durch die Stadt: Ein | |
silbergrauer Zug fährt durch die geputzte Sandsteinkulisse, durch | |
Westjerusalem, wo die Wohnhäuser Spitzdächer haben und gepflegte Gärten, wo | |
Tennisplätze an saubere Straßen grenzen. „Hier ist meine Grundschule“, sa… | |
er und zeigt aus dem Fenster. 1944 ist er eingeschult worden. Dreißig | |
Kinder waren sie damals an der ganzen Schule, die allein auf einem Berg | |
stand. Heute ist sie umgeben von der Stadt, die immer weiter wächst. | |
Daus ist Jerusalemer, sein Leben lang. 1938 wurde er hier geboren, als Sohn | |
deutscher Juden, die 1933 nach Palästina flohen. Sein Vater kam aus | |
Berlin-Nikolassee, seine Mutter aus einem Ort, dessen Namen er vergessen | |
hat: „Schalke 04, wie heißt das noch mal?“ Sein Deutsch ist tastend, aber | |
blumig: Er sagt, seine Eltern hätten die Hitlerzeit gerochen. Sie brachten | |
ihm Deutsch bei, bevor sie selbst Hebräisch sprechen konnten. | |
Daus lebt länger in der Stadt, als sein Heimatland existiert. Am 14. Mai | |
1948 stand sein Onkel vor dem Haus seiner Eltern und rief: „Wir haben einen | |
Staat!“ Er nahm den zehnjährigen Gabi mit in die Stadtmitte, gemeinsam | |
tanzten sie auf der Straße. Am nächsten Tag begann der erste Krieg, und | |
seine arabischen Nachbarn verschwanden aus seinem Stadtviertel. | |
Heute leben etwa 800.000 Menschen in Jerusalem. 62 Prozent sind Juden, 35 | |
Prozent Muslime, 2 Prozent Christen. Es gibt 1.200 Synagogen, 158 Kirchen | |
und 73 Moscheen. Die Stadt ist Mythos und Geschichte, und sie ist umkämpfte | |
Gegenwart. Immer wieder wurde Jerusalem besetzt, zerstört und | |
wiederaufgebaut. Christen, Muslimen und Juden ist Jerusalem gleichermaßen | |
heilig: Hier erbaute Salomon seinen Tempel, Jesus wurde gekreuzigt und | |
begraben, Mohammed stieg in den Himmel auf. | |
Der Zug hält, eine Männerstimme vom Band verkündet auf Hebräisch, Arabisch | |
und Englisch den nächsten Halt, die Türen öffnen sich. Trauben von Menschen | |
drängen zu den Türen des einfahrenden Zuges. Erst aussteigen, dann | |
einsteigen lassen? Hat hier kein Kind gelernt. Sicherheitsmänner schauen | |
streng, tragen kugelsichere Weste und einen Knopf im Ohr. Viele | |
ultraorthodoxe Juden steigen ein. Einer von ihnen setzt sich neben Daus, | |
packt seine Thora aus und beginnt sofort zu lesen. | |
Daus stört, dass Orthodoxe in Jerusalem immer mehr Einfluss haben. Seit | |
einigen Jahren breiten sie sich in Stadtvierteln aus, die ehemals säkular | |
waren. „Das hier ist Kiryat Mosche“, sagt er und zeigt aus dem Fenster. | |
Früher hätten hier auch Nichtgläubige gewohnt, aber die seien dann lieber | |
in die Vororte gezogen. „Sie wollen nicht 80 Prozent Orthodoxe in ihrem | |
Viertel haben. Jetzt darf man hier am Schabbat nicht mehr Autofahren oder | |
die Musik laut machen.“ Ultraorthodoxe setzten auf über 50 Buslinien durch, | |
dass Männer und Frauen getrennt sitzen müssen. | |
Das oberste Gericht lehnte die Geschlechtertrennung ab, doch sie wird | |
teilweise weiterbetrieben, auf „freiwilliger Basis“. Auch für die | |
Straßenbahn wollten Ultraorthodoxe eine solche Richtlinie, konnten sich | |
aber nicht durchsetzen. Am Freitagabend, dem Beginn des Schabbat, wenn | |
Busse und Straßenbahn nicht fahren dürfen, gehört die Stadt ihnen. Dann | |
laufen sie im Gleisbett, ein Zug sollte ihnen besser nicht begegnen. | |
An der zentralen Busstation steigen Soldaten in die Straßenbahn, sie fahren | |
kostenlos. Manche tragen zur Uniform nur eine Handtasche, andere ein | |
Maschinengewehr, das dann den Oberschenkel des Sitznachbarn berührt. | |
Manchmal steigt auch ein Zivilist mit Waffe ein: Siedler, die das Recht | |
haben, sich zu bewaffnen. Der Zug ist jetzt voll. Die meisten halten sich | |
an den Griffen fest, schwingen im Takt der Bahn gegeneinander. Russische | |
Juden lesen Zeitungen in kyrillischer Schrift. Säkulare halten das Handy | |
wie ein Walkie-Talkie vor ihren Mund und schreien hinein. Orthodoxe | |
Schülerinnen sitzen mit ihren langen Röcken und weißen Blusen neben | |
muslimischen Mädchen mit Kopftuch. | |
Der Zug bremst wieder, erreicht die Station Jaffa-Zentrum, mitten im | |
Einkaufstrubel der Innenstadt. Glaubt Daus, dass die Straßenbahn Israelis | |
und Palästinenser zusammenbringt? Oder ärgern sich die Palästinenser, weil | |
sie die jüdischen Siedlungen im Osten der Stadt anbindet? „Die Araber | |
wollen nur schnell zur Arbeit oder zum Einkaufen. An die Siedlungen denken | |
sie nicht.“ „Araber“, sagt Daus jedes Mal, „Palästinenser“ sagt er n… | |
## Daniel Seidemann – der Anwalt | |
Die Straßenbahn verlässt das Jaffa-Zentrum und fährt mit Daus weiter in | |
Richtung Siedlung. Wer zwischen billigen Schuhläden und Caféhaus-Ketten ein | |
paar Meter durch enge Gassen läuft, kommt zum Büro Daniel Seidemanns. Er | |
nimmt die Straßenbahn, um zu seinen Mandanten in Ostjerusalem zu kommen: | |
Palästinenser, die von Siedlern aus ihrem Haus geworfen wurden und jetzt | |
vor Israels höchstem Gericht klagen. Aus seinem Büro im zehnten Stock hat | |
er einen weiten Blick über Jerusalem, über das orthodoxe Viertel Mea | |
Schearim bis nach Ramallah. „In der zweiten Intifada, als die israelische | |
Armee Arafats Präsidentenpalast beschoss, hatten wir hier oben Plätze in | |
der ersten Reihe.“ | |
„Das Beste an der Aussicht ist, dass ich die ganzen Verrückten auf der | |
Straße nicht sehen muss.“ Auch Seidemann selbst ist zweigeteilt in oben und | |
unten, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt. Ein gebügeltes, himmelblaues | |
Hemd, dazu seriösgraue Haare. Wer ein Blick unter den Schreibtisch wirft, | |
sieht eine ausgewaschene Jeans, die für einen Anwalt etwas zu tief sitzt. | |
Seidemann stützt die Arme auf, legt Finger auf Finger. „Schieß!“, sagt er | |
dem Gast zu Beginn des Gesprächs mit durchdringendem Blick, schießt dann | |
aber selbst los: „Die Straßenbahn dient einer Stadt, die nicht existiert.“ | |
Seidemann ist jüdischer Amerikaner, vor allem aber Jerusalemer. Mit 22 | |
Jahren ist er in die Stadt gezogen und nie wieder gegangen. Als Anwalt hat | |
er eine NGO gegründet, die Karten von jeder Straßenecke Jerusalems | |
veröffentlicht und jede neue Siedlung verzeichnet. Er kennt alle Grenzen | |
und Mauern der Stadt. „Jerusalem ist mein Job“, sagt er. | |
Als junger Mann lebte er selbst ein paar Jahre in einer Siedlung, jetzt ist | |
es ihm peinlich. Doch er versteht die mittlerweile über 200.000 Israelis, | |
die im arabischen Ostjerusalem leben: „Die sind nicht ideologisch, die | |
suchen ein Haus. In meinen Augen ist das kein großes Verbrechen. Bei einer | |
Friedenslösung werden die Siedlungen dort so oder so ein Teil von Israel.“ | |
Seidemann war als Jerusalemexperte an allen gescheiterten | |
Friedensverhandlungen seit 2001 beteiligt. | |
Er glaubt trotz allem an die Zweistaatenlösung: „Jerusalem muss nicht | |
geteilt werden, Jerusalem ist bereits geteilt. Das muss nur festgeschrieben | |
werden.“ Der Westen für die Israelis, der Osten für die Palästinenser, eine | |
trennende Grenze statt einem verbindenden Gleis. Und was, wenn die | |
Zweistaatenlösung nicht klappt? Seidemann grinst das Grinsen eines | |
Zynikers: „Unendliches, gegenseitiges Blutvergießen.“ | |
Er ist skeptisch, ob die Straßenbahn die nächsten Konflikte zwischen | |
Israelis und Palästinensern übersteht: „Die Straßenbahn wurde nicht im | |
Ernstfall getestet. Wenn es wieder zu Spannungen kommt, und das wird | |
definitiv der Fall sein, werden die Siedler keinen Zug nehmen, der durch | |
das arabische Viertel führt.“ Bisher war es meist ruhig. Doch, erinnert er | |
sich, es gab Messerstechereien und Schlägereien, von Israelis und | |
Palästinensern provoziert. | |
„Das sind nur Spiegelungen des Alltags in dieser Stadt.“ Aber bringt die | |
Straßenbahn nicht alle zusammen, Soldaten, Orthodoxe, Palästinenser und | |
Siedler? Ist das nicht ein Grund zur Hoffnung? „Sie treffen sich auch bei | |
McDonald’s, im Zoo, in Krankenhäusern und in den Malls. Bringt das | |
Palästinenser und Israelis zusammen? Ich glaube nicht.“ | |
Warum geht er nicht einfach? Was liebt er trotz allem an dieser Stadt? | |
„Hier treffen tektonische Platten aufeinander: Die westliche und die | |
arabische Welt, die Religionen.“ Und wo sich tektonische Platten treffen, | |
gibt es eben Erdbeben: „Jerusalem ist eine Stadt, die unter dem Gewicht | |
ihrer eigenen Projektionen zerbricht.“ | |
## Itamar Tovi-Bensousan – der Siedler | |
Itamar Tovi-Bensousan steigt am Rathaus in die Straßenbahn, kurz vor der | |
Grünen Linie. Er hat die neugierigen, weit hervorstehenden Augen eines | |
Soziologen, der die anderen Passagiere mustert. Er sieht arabisch aus, doch | |
er fährt nicht in die palästinensischen Viertel, sein Zuhause liegt in | |
French Hill, einer jüdischen Siedlung im Ostteil der Stadt. | |
„Wenn mir die Leute sagen: ’Du bist ein Siedler, hau ab!‘, dann sage ich: | |
’Verpiss dich! Ich habe hier mein ganzes Leben lang gelebt, ich spreche | |
sogar Arabisch mit meinen Eltern. Ich gehöre hierher.‘ “ Bensousan ist | |
Mizrachi, arabischer Jude. Seine Familie lebte in Ägypten, bevor sie nach | |
Israel kam. | |
Bensousan ist in Jerusalem geboren, in der Siedlung. Seine Familie gehört | |
zur Mittelschicht, „dank der Besatzung“, sagt er. Sie kauften ein | |
günstiges, subventioniertes Haus in Ma’ale Adumin, einer Siedlung im | |
Speckgürtel Jerusalems. In der Innenstadt könnten sich nur reiche Israelis | |
Häuser leisten, sagt er. Er versteht sich als links, die Besatzung will er | |
beenden. Nur umziehen will er dafür nicht. | |
Der Zug fährt an der Altstadtmauer vorbei über die Grüne Linie, die Grenze | |
zwischen dem israelischen Staat und den besetzten Gebieten. „Der Gedanke | |
ist hier nicht sehr beliebt“, sagt Bensousan. Tatsächlich ändert sich nur | |
die Umgebung, ein neues Viertel beginnt. Der Zug hält am Damaskustor, dem | |
Eingang zur Altstadt und dem arabischen Teil Jerusalems. Das Publikum | |
ändert sich, Palästinenser steigen zu. Kleine Jungs fragen Aussteigende | |
nach ihren Tickets, um sie weiterzuverkaufen. Sie bewegen sich hektisch, | |
immer ein Auge auf die Sicherheitsleute. | |
Bensousan beobachtet gern die Menschen in der Straßenbahn. Eine junges | |
Mädchen mit Kopftuch steht vor dem Fahrscheinautomaten und zählt ihre | |
Münzen. Ein Sicherheitsmann fragt sie auf Englisch, ob sie es zusammen | |
probieren sollen. Als alle Münzen im Schlitz verschwunden sind, fehlen ihr | |
zwei Schekel, vierzig Cent. Der Sicherheitsmann öffnet sein Portemonnaie | |
und zahlt den fehlenden Betrag. | |
„Wenn man die Soldaten beobachtet“, sagt Bensousan, „sieht man, dass sie | |
sich in der Straßenbahn nicht wohl fühlen.“ Sie kommen von ihrer Schicht am | |
Checkpoint und fahren dann mit den Menschen in der Bahn, die sie eben noch | |
kontrolliert haben. „Sie sehen ihre Feinde mit ihrem Handy spielen, | |
telefonieren – und beginnen, sich zu fragen: ’Will er mich töten? Oder geht | |
er heute Abend einfach nur aus?‘ “ | |
Bensousan sagt, seine Kindheit in Ma’ale Adumim, der jüdischen | |
Siedlerstadt, war idyllisch. Parks, verkehrsberuhigte Straßen, viele | |
Kinder. „Wie bei Nils Holgersson“, sagt er, was an einem 35 Grad heißen | |
Sommertag ein gewagter Vergleich ist. Wenn es in den Nachrichten um | |
Siedlungen geht, sieht man ein paar Caravans und Container, aber Ma’ale | |
Adumin ist eine Stadt von 35.000 Einwohnern. Eine israelische Bastion im | |
palästinensischen Westjordanland und gleichzeitig ein verschlafener Vorort | |
Jerusalems. Als Jugendlicher ist Bensousan mit Freunden in die umliegenden | |
palästinensischen Dörfer gefahren, hat Wasserpfeife geraucht und Arabisch | |
gesprochen. „Ich hatte das Gefühl, Teil dieses Orts zu sein.“ | |
Erst bei seinem Militärdienst hat Bensousan verstanden, dass die Siedlung | |
Teil der Besatzung ist. Er hat den Dienst früher abgebrochen, sich | |
„psychologische Probleme“ attestieren lassen. | |
Wie wird es weitergehen mit Jerusalem? „Nur die Gewalttätigen und Armen | |
bleiben hier“, sagt er. „Alle Israelis, die können, haben doch eh schon | |
einen zweiten, europäischen Pass. Jerusalem wird zu Sodom und Gomorra. | |
Extreme Siedler werden Araber töten, einfach so.“ Mit der Hand formt er | |
eine Pistole und macht: „Puff!“ | |
## Fayrouz Sharqawi – die Palästinenserin | |
Im Ostteil der Stadt ist Jerusalem nicht wiederzuerkennen: Müll liegt auf | |
den Straßen neben dreckigen Betonbauten mit greller Leuchtreklame. Auf | |
jedem Hausdach stehen schwarze Tonnen, die Wasserversorgung ist schlecht. | |
Die Stadtverwaltung gibt nur 10 Prozent des Etats in den palästinensischen | |
Vierteln aus. Auf ihrem Weg zur Straßenbahn läuft Fayrouz Sharqawi an | |
großen israelischen Hotels vorbei, die sie mit „Welcome to Israel“ und | |
blau-weißen Flaggen begrüßen. | |
Sharqawi ist Palästinenserin mit israelischem Pass. Sie wuchs in Israel | |
auf, in einem arabischen Dorf bei Nazareth. Zum Studieren zog sie nach | |
Jerusalem, heute lebt sie in Schuafat, einem palästinensischen Viertel in | |
Ostteil Jerusalems. Wenige hundert Meter neben ihrem Haus verläuft die | |
Mauer, die Israel gebaut hat, um palästinensische Selbstmordattentäter | |
abzuhalten, dahinter liegt ein Flüchtlingslager. | |
Die Station, an der Sharqawi nach der Arbeit wartet, heißt Shimon | |
HaTzaddik: Simon der Gerechte. Selbst in arabischen Buchstaben steht nur | |
der jüdische Name des Viertels an den Schildern der Haltestelle. Sharqawi | |
nennt die Station trotzig „Sheikh Jarrah“, so heißt das Viertel auf | |
Arabisch, benannt nach einem Emir, der hier 1201 beerdigt wurde. Sharqawi | |
raucht so schnell, wie sie redet. „Palästinensern wird gesagt: ’Haut ab | |
hier! Sucht euch einen anderen Ort zum Wohnen!‘ “ Sie ist laut und wütend, | |
sie möchte gern alles boykottieren: Die Straßenbahn, die Besatzung, Israel. | |
Aber ein Boykott ist schwierig, wenn es keine Alternative gibt. Sharqawi | |
will nicht sagen, wie oft sie selbst die Straßenbahn benutzt. | |
Sie steigt ein und findet einen Sitzplatz am Fenster. Vier kleine arabische | |
Jungen drücken sich die Nasen an der Glasscheibe platt, schauen gebannt auf | |
die vorbeiziehenden Straßen, berauschen sich an der Geschwindigkeit. Warum | |
boykottieren die Palästinenser die Straßenbahn nicht, wenn sie doch die | |
Besatzung und die Siedlungen stärkt? Sharqawi muss das erste Mal | |
nachdenken, bevor sie antwortet: „Viele haben die Hoffnung auf einen | |
eigenen Staat verloren. Sie müssen in den Westen, um Einkäufe und | |
Behördengänge zu machen. Und da kommt plötzlich die Straßenbahn, die das | |
sehr einfach macht.“ | |
Die Welt hat die Palästinenser wie Kindergartenkinder behandelt, sagt | |
Sharqawi. „Zwanzig Jahre lang wurde uns eingetrichtert: Friedensprozess und | |
Verhandlungen. Aber geändert hat sich nichts.“ Sharqawi hat Forderungen, | |
sie zählt auf: Baugenehmigungen, Siedlungsstopp, bessere Straßen und | |
Schulen in den palästinensischen Vierteln. Sie will gleiche Rechte für alle | |
von einem Land, das sie nicht anerkennt. | |
Könnte die Bahn nicht ein Ort sein, an dem Israelis und Palästinenser | |
zusammentreffen? Die Frage bringt Sharqawi zum Lachen. „Klar, das ist ein | |
schöne israelische Sichtweise“, sagt sie, „aber auch eine humanitäre | |
Kaugummiblase. Ja, ich könnte einen Israeli in der Straßenbahn | |
kennenlernen, und wir merken, dass wir die gleiche Musik hören, den | |
gleichen Fußballklub mögen und abends in die gleiche Bar gehen. Aber was | |
macht das für einen Unterschied? Die Besatzung geht weiter.“ | |
Fayrouz Sharqawi redet sich in Rage, andere Passagiere schauen die lockige | |
Frau teils interessiert, teils verwundert an. „Ist das nicht absurd? Es ist | |
toll und etwas Besonderes, wenn sich Palästinenser und Israelis in der | |
Straßenbahn als gleich begegnen. Weil Israelis die Palästinenser in ihrer | |
Stadt nur treffen, wenn sie den Fußboden wischen oder in der Küche ihres | |
Restaurants kochen. Das ist doch lächerlich.“ | |
Was wünscht sie sich denn? „Ich möchte kein demografisches Problem sein.“ | |
Sharqawi steigt aus, in der jüdischen Siedlung French Hill, die neben | |
Schuafat liegt. Sie muss noch einkaufen gehen, und weil es auf dem Weg | |
liegt, erledigt sie das hier in der Siedlung: leere Straßen, ein | |
verschlafener Vorort. „Besatzung“ kann unspektakulär sein, mit Gartenzaun | |
und Berufspendlern. | |
Der Zug fährt in die letzte Station, eine jüdische Siedlung. Auf einem der | |
Hügel, wo immergleiche Mehrfamilienhäuser stehen, steht wieder Gabi Daus, | |
der erste Passagier des Tages. Hier hat er 1967 im Sechstagekrieg gekämpft. | |
Er zeigt, aus welchem Gebäude die Jordanier schossen und wo er sich | |
versteckt hat. 1993, nach den Verhandlung in Oslo, hat Daus noch an den | |
Frieden geglaubt: „Heute denke ich, dass wir bald nur noch einen Staat | |
haben werden. Einen, den wir nicht wollen und den die Araber auch nicht | |
wollen.“ ’Heil HaAvir heißt die letzte Station der Straßenbahn. Auf | |
Deutsch: Luftwaffe. | |
Mitarbeit: Anne Fromm | |
21 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Kersten Augustin | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
Straßenbahn | |
Israel | |
Orthodoxe Juden | |
Palästinenser | |
Israel | |
Israel | |
Israel | |
Palästina | |
Holocaust-Gedenktag | |
Benjamin Netanjahu | |
Ariel Scharon | |
Israel | |
Israel | |
Flüchtlinge | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Echtzeit-Doku aus Israel: Ein Tag und eine Nacht in Jerusalem | |
Der Dokumentarfilm „24h Jerusalem“ zeigt den Alltag von 90 Israelis, | |
Palästinensern und Exil-Europäern. Dabei geht es auch um die Geschichte der | |
Stadt. | |
Kommentar Militär in Israel: Frieden schaffen ohne Waffen | |
Die Orthodoxen sind keine Pazifisten, ihnen ist nur der Talmud wichtiger | |
als die Wehrpflicht. Ein Gesetz dazu wird es nicht ohne die Rabbis geben. | |
Kommentar deutsch-israelische Gespräche: Hausaufgaben für den Freund | |
Vor den Konsultationen lobt Israels Ministerpräsident Deutschland. Das ist | |
wohl kalkuliert. Er braucht Partner im Kampf gegen Irans Atomprogramm. | |
Palästinenser im Westjordanland: Protest durch Wiederaufbau | |
Die Aktion nennt sich „Salz der Erde“. Palästinensische Aktivisten bauen | |
ein verlassenes Dorf im Jordantal wieder auf. | |
Kommentar Holocaust-Gedenktag: Niemals vergessen | |
Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist kein sehr altes | |
Ritual. Erinnern heißt auch, alle Verbrechen der Nazis genau zu betrachten. | |
Siedlungsstreit zwischen Israel und EU: Netanjahu spricht von „Heuchelei“ | |
Mehrere europäische Botschafter wurden in Israel einbestellt. | |
Ministerpräsident Netanjahu ist die Kritik am Siedlungsbau leid. | |
Ariel Scharon ist tot: Der Bulldozer rollt nicht mehr | |
Er schritt über Schlachtfelder und rote Teppiche. Nach acht Jahren im Koma | |
ist Israels Ex-Ministerpräsident Ariel Scharon nun im Alter von 85 Jahren | |
gestorben. | |
Flüchtlinge in Israel interniert: Wie Verbrecher behandelt | |
Afrikanische Flüchtlinge in Israel fordern ein Ende der Kasernierung, Asyl | |
und eine Arbeitserlaubnis. Ihr Protest soll weitergehen. | |
Friedensbemühungen in Israel: Tausche Häftlinge gegen Siedlungen | |
Die Regierung in Jerusalem lässt 26 Gefangene frei. Gleichzeitig will sie | |
aber 1.400 neue Wohneinheiten in Siedlungen bauen. | |
Afrikanische Flüchtlinge in Israel: Marsch auf Jerusalem | |
Mit einem Marsch zur Knesset protestieren afrikanische Flüchtlinge gegen | |
ihre unmenschliche Behandlung. Am Ende ließen sie sich traurig abführen. |