# taz.de -- „Die Rasenden“-Aufführung in Hamburg: Verwesungsgeruch der Gö… | |
> Karin Beier eröffnet das Deutsche Schauspielhaus Hamburg nach seiner | |
> Sanierung mit dem bombastischen Antikenzyklus „Die Rasenden“. | |
Bild: Klytaimnestra (Maria Schrader) schwingt den Hammer gegen Agamemnon. | |
Nicht kleckern, sondern klotzen: So war der Einzug von Karin Beier, neuer | |
Intendantin des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, in das Theater nach | |
seiner Sanierung geplant. Ihr Projekt „Die Rasenden“ schlägt einen großen | |
Bogen durch die Geschichte des Dramas und durch das Drama der Geschichte, | |
wie es im Theater verhandelt wird. | |
Von Euripides, Aischylos und Hugo von Hofmannsthal stammen die Texte. Sie | |
erzählen einerseits die Tragödie einer Familie, die aus der Spirale, | |
vergangenes Unrecht mit neuem Mord zu rächen, nicht mehr herausfindet. | |
Andererseits dienen sie als Vorlage, um mit wechselnden Zugriffen auf den | |
Stoff die Virtuosität des neuen Ensembles und der leitenden Regisseurin | |
vorzuführen. | |
Ein gut kalkulierter Start also, zumal zur Wiedereröffnung eines historisch | |
bedeutungsvollen und in seiner überladenen Pracht eindrucksvollen | |
Theaterbaus. Dessen Architektur ist ja selbst eine Aufführung, die Respekt | |
vor der Kunst erheischt. | |
## Es mit der Theatergeschichte aufnehmen | |
Ganz anders als das Schauspielhaus Köln, ein großzügiger Nachkriegsbau, in | |
dem Karin Beier sich die letzten Jahre einen guten Ruf als Intendantin und | |
Regisseurin erarbeitet und für dessen Erhalt (statt Abriss) sie mit Erfolg | |
gekämpft hatte. Auch in dieser Hinsicht markieren „Die Rasenden“ den Mut, | |
es an diesem Ort mit der Theatergeschichte aufzunehmen. | |
Der Auftakt zu den „Rasenden“ ist beinahe enttäuschend schlicht – und do… | |
ergibt das Sinn, vom Ende her gesehen. Noch ist der Bühnenraum schmal, karg | |
und von wenigen abstrakten Elementen gegliedert. | |
Er wird später zur tiefen Wüste werden, dann zum üppigen Gemälde und noch | |
später wieder alle Farben verlieren. Schon mit dieser Dynamik zieht Thomas | |
Dreißigacker, der Bühnenbildner, eine schöne Linie durch die | |
Aufführungszeit von sechseinhalb Stunden (mit Pausen). | |
## Das Drama wird zur Theaterhistorie | |
In „Iphigenie in Aulis“ soll Agamemnon, Feldherr der Griechen gegen Troja, | |
auf Geheiß der Göttin Artemis seine Tochter Iphigenie opfern. Die | |
Schauspieler – Götz Schubert als zweifelnder Agamemnon, Maria Schrader als | |
entsetzte Klytaimnestra – halten sich fast mannshohe, nach antiken Mustern | |
gestaltete Masken vor das Gesicht: als sei, was sie spielen müssen, in | |
seinem Grausen zu viel für eine Verkörperung. | |
Noch hält Beiers Inszenierung Abstand zum Text, noch stellt sie das Drama | |
als Theaterhistorie aus, dessen Erhabenheit nicht mehr glaubwürdig zu | |
füllen ist. Das ist ein didaktischer Schachzug, so befremdlich zu beginnen. | |
Erst am Ende des Dramas kippt das, als sich Iphigenie, von Anne Müller mit | |
rührend linkischen Bewegungen eben noch als klagende Tochter gespielt, | |
plötzlich mit Stolz in die Opferrolle wirft, sich patriotisch selbst | |
ermutigt und in Sekunden zu einem kriegslüsternen Monster mutiert. Man kann | |
den Umschwung kaum fassen, da beginnt der zweite Teil, ein Konzert für | |
Streichorchester und Chor, von Jörg Gollasch komponiert und von dem | |
Ensemble Resonanz aufgeführt. | |
## Musik wie ein Pinselstrich | |
Mit diesem Musikstück stellt die Inszenierung wie mit einem großen | |
Pinselstrich eine apokalyptische Stimmung her. Der Chor klagt „Eine große | |
Stadt versank in gelbem Rauch“, die Musiker stehen in einem Feld aus Sand, | |
schlagen zitternd auf das Holz ihrer Geigen und Cellos, kratzen und stoßen | |
mit den Bögen verstörende Laute, ein kriegerischer Rhythmus bricht durch | |
die dunkle Grundierung. Musik so nicht nur zu einem akustischen, sondern | |
auch physischen Ereignis werden zu lassen, ist eine Stärke von Karin Beier. | |
Ein weiterer Trumpf in ihrem Ärmel sind die Schauspieler Lina Beckmann, | |
Maria Schrader, Michael Wittenborn, die mit ihr von Köln nach Hamburg | |
gekommen sind. Das Schauspielensemble ist Teil des Chors, zusammen mit der | |
Sängerakademie Hamburg. | |
Wenn man Stunden später, beim Schlussapplaus, all diese Sänger, Musiker und | |
Schauspieler in einer ausgetüftelten Ordnung nach vorne kommen sieht, ahnt | |
man, dass diese Inszenierung auch ein Projekt war, ein Kollektiv aus den | |
Neuangekommenen zu bilden und mit dem Bestehenden vor Ort zu vernetzen. | |
Auch so nimmt das Theater Kontakt zur Stadt auf. | |
In den „Troerinnen“ spielt Lina Beckmann Andromachae. „Riecht ihr noch | |
nichts von der göttlichen Verwesung“, schreit eine der Troerinnen, die nach | |
der Zerstörung ihrer Stadt Sklavinnen der Griechen werden sollen. | |
Eine Stimme über Megafon lässt sie Säcke schleppen, eine sinnlose, | |
demütigende Arbeit. Andromache, Witwe von Hektor, ist dennoch eifrig und | |
gehorsam, versucht sich zu schicken und an die Verhältnisse anzupassen. | |
Alles herunterzubrechen auf die Instinkte, die das Überleben sichern, mit | |
jeder Faser spielt Beckmann das. | |
## Sie konkurrieren und hetzen | |
Nichts ist unter diesen Verliererinnen von Solidarität zu spüren, sie | |
hetzen gegeneinander. Sie konkurrieren, wer mehr Opfer ist; die große | |
Trauer ist aufgelöst in viele kleine hässliche Finten, gegeneinander und | |
gegen die Götter. Und da, wo nichts mehr edel ist und groß, da ist alles | |
nachvollziehbar und ergreifend im Spiel der Schauspielerinnen. | |
Eines der Plakate, die für „Die Rasenden“ werben, zeigt drei Männer auf | |
einer Bank, als ob sie Fernsehen schauen würden, sich leicht gruselnd vor | |
Nachrichten, aber im Schutz des eigenen Wohnzimmers. | |
Wer auch nur einen der drei Schauspieler Joachim Meyerhoff, Michael | |
Wittenborn und Gustav Peter Wöhler kennt, freut sich auf ihren Auftritt in | |
den „Rasenden“. Nach der großen Pause ist es so weit. In „Agamemnon“ | |
verkörpern sie den Chor der in Griechenland gebliebenen Greise. | |
## Der Chor, Stellvertreter der Zuschauer-Existenz | |
Diese drei sind Abgesandte des Heute in den antiken Dramen, die eine | |
leutselige und witzige Distanz zu Helden und Göttern halten. Wir, die | |
Zuschauer 2014, in einem frisch manikürten, Jahrhunderte zitierenden | |
Prachtbau, lachen über ihr Nörgeln am Feldherrn Agamemnon, ihr Jammern | |
„früher war alles besser“, ihre Großmäuligkeit in der Theorie und | |
Kleingeistigkeit in der Praxis. Und doch haben wir in ihnen Stellvertreter | |
der eigenen Zuschauer-Existenz. | |
Sich stets etwas Neues in der Küchenzeile am Bühnenrand zu essen holend, | |
spotten sie über jedes Geschehnis im Königshaus und wissen es immer besser. | |
Aber nie sehen sie den Punkt, wo sie selbst ins Spiel kämen und zu | |
Handelnden würden. | |
Die schnell aufeinanderfolgenden Stücke wechseln die emotionalen | |
Temperaturen. Glüht der Königsmord, den Klytaimnestra an Agamemnon verübt – | |
Rache für Iphigenie steht auf ihrem vorgehaltenen Schild, doch hat sie sich | |
längst im eignen Regiment eingerichtet, was soll ihr da ein zurückgekehrter | |
Kriegsherr –, glüht dieser Mord in schönstem Rot, so scheinen „Elektra“ | |
alle Farben entzogen. | |
## Eine Kriegerin, die sich Gefühle verboten hat | |
Wir sehen die Tochter, die nun den Vater an der Mutter rächen will, | |
zunächst nur in grauen Kamerabildern, übertragen aus einem Verlies unter | |
der Bühne. Sie ist eine Kriegerin, die sich jeden Wunsch nach einem anderen | |
Leben verboten hat, alle Gefühle zurückgeschnitten. | |
Dabei wirkt Birgit Minichmayr zugleich ungeheuer klein und schmal in dieser | |
Rolle, sie braucht ja schon alle Kraft, um einen Eimer Wasser zu schleppen. | |
Ihr Kleid wischt über den Boden, als wäre sie noch nicht hineingewachsen. | |
Die Gesetze aber, die ihr diese Rache und diese Selbstverleugnung | |
auftragen, sind – der ganze Abend ist darauf angelegt, das immer wieder zu | |
erzählen – so falsch wie selbst gemacht. | |
Denn überall dort, wo sich die Reden auf Götter beziehen, auf ihren | |
Auftrag, lassen die Texte der antiken Autoren immer schon zu, den Glauben | |
als vorgeschobenes Argument zu sehen. Aber selbst wenn die Figuren dies, | |
wie Elektra, durchschauen, sehen sie keine Möglichkeit auszubrechen. | |
So gut und intelligent man sich die meiste Zeit unterhalten fühlt, am Ende | |
bleibt die Frage offen: Warum behalten die Götter diese Macht, auch wenn | |
keiner an sie glaubt? Warum findet niemand einen Weg aus dem Muster der | |
Rache? An dieser Frage scheitert ja auch die Gegenwart. Es ist nicht | |
tröstlich zu sehen, dass man schon vor Jahrtausenden damit kämpfte. | |
21 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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