| # taz.de -- Schwarze Italiener: Somalis gegen Nazis | |
| > Der Doku-Roman „Timira“ erzählt die Geschichte der Geschwister Giorgio | |
| > und Isabella Marincola als italo-somalische Odyssee – mit Überraschungen. | |
| Bild: Isabella Marincola (l.) im Film „Bitterer Reis“ (1949). | |
| Ein kühler Abend in Berlin-Mitte: Die junge italienische Gemeinde hat sich | |
| im Keller der Buchhandlung Mondolibro eingefunden, um Wu Ming 2 zuzuhören | |
| alias Giovanni Cattabriga. Hinter Wu Ming verbirgt sich ein in Bologna | |
| ansässiges Autorenkollektiv, das seit Anfang der 1990er Jahre von sich | |
| reden macht. | |
| Cattabriga stellt das neue Buch vor, [1][„Timira – Romanzo meticcio“], was | |
| „Hybrid-“, aber auch „Mischlingsroman“ heißen kann. Der 500-Seiten-Wä… | |
| ist beides: formal eine Collage aus Doku und Fiction, inhaltlich die | |
| Geschichte einer Frau, die im somalischen Mogadischu Timira und in Rom | |
| Isabella heißt, die die Sprache ihres Geburtslandes nur rudimentär | |
| beherrscht und sich ihr Leben lang fragen lassen muss, warum sie, die | |
| Schwarze, so gut Italienisch spricht. | |
| Cattabriga erzählt, er habe sich die Arbeit an dem Projekt zunächst einfach | |
| vorgestellt. Über viele Monate, bis zu ihrem plötzlichen Tod 2010, besuchte | |
| er die über 80-jährige Isabella Marincola, um sich ihr spektakuläres Leben | |
| erzählen zu lassen und daraus in Wu-Ming-Manier einen dokumentarischen | |
| Roman zu formen. | |
| ## "Bitterer Reis" | |
| Doch es kam anders. Denn nicht nur, dass die 1925 in Mogadischu geborene | |
| Isabella die Hoheit über ihre eigene Geschichte nicht abgeben, dass sie | |
| Mitautorin sein wollte; sehr klar und selbstbewusst in ihren Bedürfnissen | |
| forderte die alte Dame für jedes Juwel aus ihrer Vergangenheit ein Stück | |
| von Cattabrigas Gegenwart: Geschichten von Geliebten und Kindern, von | |
| alltäglichen Sorgen und kleinen Freuden. | |
| Der Autor musste erfahren: Was uns interessiert, was wir überhaupt | |
| wahrnehmen, ist abhängig von unserer Perspektive, unser Gehirn ist ein | |
| soziales Produkt. Beiläufig erwähnte Isabella, sie habe in einem Hauptwerk | |
| des italienischen Neorealismus mitgespielt. | |
| Wie bitte? Eine Afroitalienerin in [2][„Riso amaro“] ("Bitterer Reis", | |
| 1949), dem etwas langweiligen, aber epochemachenden Film über den | |
| ländlichen Klassenkampf im Nachkriegsitalien, einem Meisterwerk, das jeder | |
| Cineast mindestens einmal gesehen hat? | |
| Und ja, tatsächlich, erzählt Cattabriga: Zu Hause vor dem Videorecorder | |
| habe er plötzlich nicht mehr nur auf die Hauptdarstellerin und | |
| Hot-Pants-Ikone Silvana Mangano geachtet, sondern zum ersten mal auch | |
| Isabella wahrgenommen, wie sie sich mit anderen Erntehelferin lachend und | |
| scherzend zur Arbeit aufmacht. Es ist nicht die einzige Überraschung in | |
| dieser Lebensgeschichte. | |
| ## Der Herrenmensch als Gentleman | |
| Als Isabella Marincola im September 1925 in Somalia zur Welt kommt, ist das | |
| Land am Horn von Afrika eine italienische Kolonie. Zwei Jahre zuvor ist ihr | |
| Bruder Giorgio geboren worden. | |
| Ihre Mutter Aschirò Assan ist Somalierin und das Hausmädchen ihres Vaters | |
| Giuseppe Marincola, ein aus Kalabrien stammender Offizier der | |
| faschistischen Besatzungsarmee. Als seine Dienstzeit in Afrika endet, | |
| erkennt er die Kinder als seine an und nimmt sie mit nach Italien – er | |
| wollte sich, so erklärt er später seiner Tochter, wie ein Gentleman | |
| benehmen, die Kinder privilegieren. | |
| Isabella und Giorgio Marincola wachsen in Rom auf, mit Stiefgeschwistern | |
| und einer Stiefmutter, die ihnen wenig zugetan ist: Vor allem in Isabella | |
| sieht Signora Marincola ein nicht zu leugnendes Schandmal der Untreue ihre | |
| Ehemannes – und lässt sie das mit regelmäßigen Prügeln spüren. | |
| ## Der schwarze Partisan | |
| Isabellas Bruder Giorgio Marincola besucht ein humanistisches Gymnasium. | |
| Anschließend will er Tropenmedizin studieren und nach Somalia zurückkehren. | |
| Doch es kommt anders. Einer seiner Lehrer, Pilo Albertelli, ist ein | |
| Anführer des antifaschistischen Widerstands. Am 24. März 1944 wird | |
| Albertelli von den Deutschen ermordet, beim Massaker in den Ardeatinischen | |
| Höhlen, zusammen mit 335 anderen Opfern. Einer der Täter ist der kürzlich | |
| verstorbene SS-Offizier Erich Priebke. | |
| Giorgio schließt sich daraufhin der Resistenza an. Im August 1944 landet er | |
| als Teil eines Partisanenkommandos mit dem Fallschirm in Norditalien. Am 4. | |
| Mai 1945 – seit dem 25. April herrscht Waffenstillstand – wird er im | |
| Alpental Val di Fiemme von marodierenden deutschen Soldaten getötet, | |
| zusammen mit 20 anderen Partisanen und Zivilisten. Als die Leichen geborgen | |
| werden, hält man den Schwarzen Giorgio zunächst für einen britischen | |
| Soldaten. | |
| Isabellas geliebter Bruder ist tot, die Stiefmutter macht ihr das Leben zur | |
| Hölle. Es hält sie nichts mehr zu Hause. Um sich ihren Lebensunterhalt zu | |
| verdienen, steht sie Modell für Künstler, spielt kleine Rollen am Theater | |
| und im Film – so auch in „Riso amaro“. Regisseur Giuseppe De Santis ist | |
| Kommunist, Isabella soll die Internationale der Arbeiterklasse | |
| symbolisieren. | |
| Das Bohemeleben im Nachkriegs-Rom gefällt Isabella – auch wenn sie | |
| beständig daran erinnert wird, dass sie, die Schwarze, kein Umgang für die | |
| höheren Söhne und Töchter ist. | |
| Schließlich geht Isabella eine Ehe mit einem mittellosen Theatermann ein, | |
| lässt sich wieder scheiden, und fährt 1956 mit ihrem zweiten Ehemann, einem | |
| linken Journalisten, nach Somalia, wo sie ihre Mutter kennenlernt. Als | |
| hätte es Krieg und Faschismus nie gegeben, ist das verarmte Land da schon | |
| wieder unter italienische Verwaltung gestellt worden, nach erbitterten | |
| Protesten der Bevölkerung. | |
| ## Rückkehr nach Italien | |
| Wieder in Italien, heiratet Isabella ein drittes und letztes Mal, einen | |
| Regierungsbeamten des 1960 unabhängig gewordenen Somalia, der in Rom | |
| studiert. Mit ihm kehrt sie nach Mogadischu zurück – wo sie bereits die | |
| Erstfrau ihres Ehemannes samt fünf Kindern erwartet. Auch Isabella wird | |
| Mutter und nimmt den somalischen Namen Timira an. Ihr Sohn Antar wird | |
| später in Bologna studieren. | |
| Isabella bleibt in Somalia, bis 1991 der Bürgerkrieg ihre Lage unhaltbar | |
| macht. Nach zahlreichen bürokratischen Hindernissen, die nicht zuletzt mit | |
| ihrer Namensänderung zu tun haben, wird sie als letzte italienische | |
| Staatsbürgerin aus dem von Banden verwüsteten Mogadischu ausgeflogen und | |
| lebt bis zu ihrem Tod im März 2010 bei ihrem Sohn in Norditalien, immer in | |
| prekären Verhältnissen, ständig konfrontiert mit dem Rassismus der | |
| Mehrheitsgesellschaft. | |
| Antar ist Mitautor des Romans, der diese somalisch-italienische Odyssee | |
| ohne Ethnokitsch erzählt, in wechselnden Perspektiven, mit | |
| Originaldokumenten und fiktiven Dialogen. | |
| ## Vor Lampedusa | |
| Der Autor [3][Marco d’Eramo] hat Italien einmal als ein extrem | |
| provinzielles Land beschrieben, „was die Präsenz und Wahrnehmung von | |
| Menschen mit schwarzer Hautfarbe angeht“. Somalier, Äthiopier, Eritreer und | |
| Libyer – die Bewohner der italienischen Kolonien also – hätten immer nur in | |
| sehr geringer Zahl in Italien gelebt. Ein mal locker-paternalistischer, mal | |
| hasserfüllt-ignoranter Umgang mit dem Phänomen Einwanderung ist bis heute | |
| typisch. | |
| Aber die italienische Kolonialgeschichte lässt sich nicht verdrängen, | |
| gerade dann nicht, wenn von den fast 400 Flüchtlingen, die am 3. Oktober | |
| vor der Insel Lampedusa ertranken, die meisten aus den ehemaligen | |
| italienischen Kolonien stammten. | |
| Der Roman „Timira“ birgt auch ihre Geschichte, er schlägt den großen Boge… | |
| vom anständigen Herrenmenschen in Somalia über den schwarzen Partisanen, | |
| der mithalf, Italien vom Nazifaschismus zu befreien, zur jungen Frau aus | |
| Mogadischu, die im Film den Reis der Poebene erntet, bis hin zu denen, die, | |
| auf eine besseres Leben hoffend, jämmerlich zugrunde gehen. | |
| Das Publikum, dem Cattabriga an diesem Abend sein Buch vorstellt, besteht | |
| nicht zuletzt aus jungen Leuten, die vor der Dauerkrise in ihrem Land | |
| ausgewichen sind und nun in einem Berliner Keller eine sehr besondere | |
| Geschichte aus ihrer Heimat hören. | |
| Wie es im Buch heißt: „Wir sind alle Flüchtlinge, ohne festen Wohnsitz, in | |
| einer undurchdringlichen Welt. Und während wir an jeder Grenze von einem | |
| Heer von Worten abgewiesen werden, suchen wir wenigstens in der Geschichte | |
| Zuflucht und Trost.“ | |
| 26 Jan 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.razzapartigiana.it/ | |
| [2] http://www.youtube.com/watch?v=LRXtUylZVTw | |
| [3] /Marco-DEramo-zur-EM/!95281/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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