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# taz.de -- Debatte Akzelerationismus: Aus der Kapitalismus-Falle befreien!
> Eine neue Theorieströmung sucht die Beschleunigung im Kapitalismus. Der
> Akzelerationismus will eine linke Politik der Zukunft.
Bild: Kapitalismuskritik auf einer Demo in Bochum.
In den letzten 40 Jahren wurde die Vision eines ständigen Fortschritts
unserer Gesellschaft bitter enttäuscht. Der seit den 1970ern und 1980ern
immer aggressiver auftretende Kapitalismus, der in den 1990ern endgültig
gesiegt zu haben schien, steht seit den späten 2000er Jahren vor massiven
Problemen.
Heute ist es Common Sense, dass der Kapitalismus unsere Umwelt weiter
zerstört, die Einkommen stagnieren, die Situation am Arbeitsmarkt prekärer
wird, Pensionen immer unsicherer werden und Ungleichheit und Ausbeutung die
Schwächsten unserer Gesellschaft immer stärker treffen werden. Ungefähr so
sieht unsere „Zukunft“ in einer von der neoliberalen Ökonomie gesteuerten
Politik aus.
Diese Auslöschung von Zukunft beobachten wir auch im Konservativismus
großer Teile der politischen Linken, die sich verzweifelt darauf
beschränkt, Überbleibsel des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats zu
bewahren. „Gegen Austerität!“ lautet der beschauliche Schlachtruf des
linken Mainstreams heute.
Die etablierte Linke in den führenden europäischen Nationen stützt sich
fast ausschließlich auf eine ängstliche Politik, statt ein positives
Projekt einer tatsächlich gerechten Gesellschaft zu verfolgen. Parallel
dazu werden die an und für sich lobenswerten sozialdemokratischen
Langzeitziele beständig durch den Einsatz innovativer Finanzinstrumente und
einen stark flexibilisierten Arbeitsmarkt unterwandert. Gegen die nach der
Finanzkrise von 2008 nur noch gewachsene Gier des Neoliberalismus kann die
gute alte sozialdemokratische Politik höchstens kleine Teilerfolge
verzeichnen.
Gleichzeitig zeigt sich an zahlreichen Erhebungen weltweit – von
Griechenland bis Spanien, von den USA bis Großbritannien, von Brasilien bis
in die Türkei, von Sudan bis Ägypten –, dass es doch noch einen Sinn für
Zukunft gibt, eine Zukunft, die aber erst – und zwar nach ganz neuen
Maßstäben – konstruiert werden muss. Für dieses offensive Begehren scheint
uns „Akzelerationismus“ eine passende Antwort. Akzelerationismus ist der
Name für ein neues (und gewiss in vielem noch unausgefeiltes) Projekt für
eine linke Politik der Zukunft.
## Mehr Leidenschaft
Zukunft wieder als zentrales Thema zu reklamieren bedeutet zugleich, gegen
die Zukunftsvergessenheit in den von pessimistischen Kräften bestimmten
politischen Parteien anzugehen; und gegen die Missverständnisse der
bürgerlichen Presse, die Akzelerationismus mit althergebrachten Kategorien
kritisiert und dabei untauglich gewordene Oppositionen bemüht: entweder die
Horizontalität von Netzwerken oder die Vertikalität der alten
Gewerkschaften, entweder die vorhandene parlamentarische Demokratie oder
die Gefahr eines autoritären Staates, entweder praxisferner technologischer
Utopismus oder letztlich apolitischer Primitivismus. Dazwischen soll es dem
politischen Mainstream zufolge keine Optionen geben; alles andere sollen
naive Träumereien oder frivole Hipster-Attitüden sein.
Einige Kommentatoren haben sich sofort bemüßigt gefühlt, Akzelerationismus
als realitätsfernen Intellektualismus oder modischen Unsinn zu diffamieren.
Aber ist es nicht ziemlich elitär, neue politische Ideen, nur weil sie von
einer jüngeren Generation und etwas leidenschaftlicher als üblich
vorgetragen werden, als Zeichen mangelnder Seriosität zu verstehen und – in
Zeiten ständig abnehmender Parteimitgliedschaften und zunehmender Apathie
der Wähler – stattdessen stur an den alten Konzepten festzuhalten?
Die von akzelerationistischem politischem Denken angefachte Leidenschaft
ist eine Erinnerung daran, dass eine Zukunft, die ihren Namen verdient,
durchaus denkbar und realisierbar ist. Auf ganz unterschiedlichen Feldern
(Politik, Kunst, Biologie, Kunst etc.) arbeiten heute unzählige Menschen an
einer Welt, die sich von den Motivationen des Kapitalismus löst. Und warum
sollte das eigentlich nicht möglich sein?
## Freiräume außerhalb des Zwangs
Ein konkretes Beispiel ist die Rückkehr des alten, schon von Karl Marx und
John Maynard Keynes gehegten Traums einer massiven Reduktion der
Arbeitszeit. Das und ein allgemeines Mindesteinkommen könnte ungeahnte
politische Folgen haben: neue Freiräume außerhalb des Zwangs, immer mehr
und immer länger zu arbeiten, und nicht mehr in der ständigen Sorge um sein
Einkommen zu leben. Es wäre ein Triumph akzelerationistischen
Realitätssinns, wenn die Medien endlich aufhören würden, Rationalisierung
und Automatisierung nur als tragischen Verlust von Arbeitsmöglichkeiten
darzustellen.
Wir haben einen Punkt in der Menschheitsgeschichte erreicht, an dem eine
immense Zahl an Tätigkeiten automatisiert werden kann. Arbeit um der Arbeit
willen ist eine (regressive) Perversion und nichts anderes als eine
(rückwärtsgewandte) Ideologie, die den Menschen durch die kapitalistische
Arbeitsethik aufgezwungen wird.
Akzelerationismus bedeutet dagegen die Suche nach Auswegen: Das Potenzial
der Menschen muss sich aus der Falle des gegenwärtigen Kapitalismus
befreien!
In einem entwickelten Land wie den USA könnten, einer jüngst
veröffentlichten Studie der Universität Oxford zufolge, automatisierte
Systeme in den nächsten zwanzig Jahren 47 % aller Tätigkeiten übernehmen,
für die heute noch menschliche Arbeitskraft benötigt wird. Wir wissen noch
nicht, was die genauen Konsequenzen daraus sind, aber so viel ist klar: Dem
uns bekannten Konsumkapitalismus steht eine schwere Krise bevor, die er
nicht so leicht überleben wird.
## Fast forward
Der Ausgang dieser Krise hängt ganz davon ab, wie wir uns politisch zu den
neuen Technologien verhalten, z. B. ob die linken politischen Parteien
ihren tendenziellen Analphabetismus in Sachen Wissenschaft und Technologie
überwinden und zu progressiven Antworten auf aktuelle Fragen finden werden.
Wenn wir wirklich in einer anderen Welt leben wollen, dann müssen wir alles
technologische Potenzial nutzen, um über den real existierenden
Kapitalismus hinauszugelangen: Die Fragen lauten, was denn eigentlich heute
Arbeit bedeutet, was eine Gesellschaft als Gewinn oder Wert berechnet und
welchen Teilen der Bevölkerung die Vorteile der technologischen Entwicklung
zugutekommen sollen.
Ein akzelerationistisches politisches Denken plädiert für eine Abkehr von
defensiven Strategien einer notdürftigen Sicherung des (ohnedies nur für
einige wenige in der westlichen Welt gültigen) Status quo – eine Haltung,
die sich sowohl an den immer konservativeren parteipolitischen
Ausrichtungen als auch an der lokalistischen Nischensuche radikalerer
linker oder ökologischer Gruppierungen ablesen lässt. Stattdessen sollte
eine durch akzelerationistischen Optimismus angefeuerte linke Politik an
ihre Wurzeln in der Aufklärung und an deren rationalistische und
universalistische Utopien anschließen.
Die Idee einer kollektiven Arbeit der Menschheit an sich selbst bedeutet
eine positive Vision der Zukunft anstelle des gegenwärtigen ökonomischen
Systems und seiner politischen Instandhaltung. An die Adresse all jener,
die sich der letztlich esoterischen Fantasie hingeben, unsere zahlreichen
Krisen würden sich durch lokale Teilmaßnahmen wieder in Luft auflösen, gilt
es darauf hinzuweisen: Eine Lösung der gegenwärtigen gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und ökologischen Probleme ist nur als Umgestaltung einer
in ihrer ganzen Komplexität verstandenen Welt möglich.
Anstelle eines folkloristischen Lokalismus sollten wir eine Politik
vorantreiben, die auf Automatisierung der Arbeit, radikale
Arbeitszeitverkürzung und ein garantiertes Mindesteinkommen für alle setzt.
Diese Vorschläge bilden eine Alternative zu der gegenwärtig dominanten,
letztlich konservativen Antiausteritätspolitik.
Nur wenn Modernisierung wieder synonym mit linker Politik wird, nur wenn
wir die Zukunft wieder für uns reklamieren (statt nach Nischen zu suchen,
die Schutz bieten sollen), nur wenn wir die Welt anders verstehen, nur dann
können wir sie auch ändern.
4 Feb 2014
## AUTOREN
N. Srnicek
A. Williams
A. Avanessian
## TAGS
Kapitalismus
Kapitalismuskritik
Akzelerationismus
Kapitalismus
Hipster
Liberalismus
Ausstellung
Schwerpunkt Occupy-Bewegung
Merve Verlag
Jakob Augstein
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