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# taz.de -- Antikapitalismus heute: Wos is des für a Revolution?
> Warum ist Antikapitalismus idiotisch? Eine Begegnung mit Wolf Lotter,
> Mitbegründer von „brand eins“ und Autor des neuen Buchs
> „Zivilkapitalismus“.
Bild: Linker Neobiedermeiers: Schön die Hyazinthe im Glas ziehen und dabei auf…
Wir können mit den Veränderungen der Welt nicht zurechtkommen, wenn wir
nicht mal den Versuch machen, sie zu verstehen. Sagt Wolf Lotter.
Also dann: Warum ist Antikapitalismus im Jahr 2014 idiotisch, Herr Lotter?
„Der Antikapitalismus, den ich kenne, ist ein Gefühlsantikapitalismus“,
antwortet er lächelnd. „Insofern ist er idiotisch.“
Lotter, 51, ist Gründungsmitglied von brand eins, das als
„Wirtschaftsmagazin“ sehr unzureichend etikettiert ist. Es geht um alles.
Weshalb Wirtschaft im Zentrum steht, das ist ja eh klar. Beziehungsweise
eben nicht. Lotter schreibt die Titelthemenessays und steht damit solitär
in der Bahnhofsbuchhandel-Gegenwart. Jüngst hat er ein herausragendes Buch
mit dem Titel „Zivilkapitalismus“ (Pantheon) veröffentlicht, einen
Befreiungsschlag aus verkrustetem Denken. Wenn man dafür bereit ist.
Die Redaktion von brand eins arbeitet in der zweiten Etage des Zeit-Hauses
am Hamburger Speersort. Am Nachmittag ist Titelkonferenz, aber zuvor ist
Lotter heiter in die Gesprächsnische des Konferenzraumes gekommen, was
nicht dem Augenblick, sondern seinem Wesen geschuldet zu sein scheint. Das
ist jedenfalls zwei Stunden später der Eindruck.
## Linker „Neobiedermeier“
Er ist ein kräftiger Mann, speziell im mittleren Bereich. Stammt wie
Elfriede Jelinek aus dem österreichischen Mürzzuschlag, das liegt zwischen
Wien und Graz. Es langweilt ihn, den Kapitalismus immer noch eindimensional
zu denken als etwas Böses, was einem geschieht. Ohne eine Alternative
beschreiben zu können. Das ist für ihn linker „Neobiedermeier“, der auf
nichts hinaus will und kann. Und damit die Zivilgesellschaft nicht stärkt,
sondern eklatant schwächt. Kapitalismus ist für ihn keine Ideologie,
sondern ein Werkzeug, das man so oder so einsetzen kann.
Der andere Kapitalismus ist also kein delegierter „ethischer“ Kapitalismus,
wie er seit einigen Jahren mancherorts beschworen wird; dass Unternehmer
und Manager plötzlich umdenken und Markt und Moral versöhnen. Der andere
Kapitalismus ist eigeninitiativer Kapitalismus. Du eignest dir die Ökonomie
an und gestaltest sie. Zivil. Es geht also darum, sich nicht theoretisch um
die anderen zu sorgen, sondern praktisch für sich und andere, etwa seine
Angestellten.
Das ist selbstverständlich unbequemer, als aus der Verbeamtung, der
Festanstellung und der Dachgeschosswohnung heraus „den“ Kapitalismus
gemütlich rhetorisch „überwinden“ zu wollen. Lotter geht noch weiter und
fordert einen „amoralischen Kapitalismus“. Tschieses Kreist, Lotter. Dafür
können Sie verbrannt werden. Er grinst. „Amoralisch heißt, dass ich die
Welt nicht nach meiner Vorstellung definiere, sondern sehe, was anderen
hilft, ihr Leben zu verbessern.“ Moral ist für ihn das Delegieren der
Eigenverantwortung, die Verweigerung, sich selbst in einer Situation ein
Urteil zu bilden. „Ethisches Mitläufertum“ nennt er das.
Er sieht uns in selbstgenügsamer geistiger Gefangenschaft von
Grundschulpoesiealbumsprüchen wie „Geld verdirbt den Charakter“. Das
solidarische „Wir“ ist für ihn nicht die Lösung, sondern Paternalismus
derjenigen, die das propagieren. Und eine Illusion, um sich der
Verantwortung verweigern zu können, die nur eine persönliche Sache sein
kann.
Wer denkt, Lotter sei Mitglied des FDP-Präsidiums und so weiter: Nein. Ihn
befremdet indes die Häme nach der Bundestagswahl und er unterscheidet
zwischen „der abgewählten Truppe“, die keiner brauche, und dem
Liberalismus, für den es sehr wohl Bedarf gebe. Selbstverständlich hat er
aber eine einwandfrei kommunistische Vergangenheit. Ein Großonkel, der ihn
stark prägte, kämpfte in Spanien gegen den Franco-Faschismus. Und legte ihm
die Schriften des Ökonomen Joseph Schumpeter zur Lektüre hin, als er 14
war. Er selbst war Mitglied der KPÖ. Zwei Wochen lang.
## Mit 53 bereits in Pension
Lotter stammt aus einer Steiermärker Arbeiterfamilie. Die mütterliche Linie
bestand aus Holzknechten und Tagelöhnern bei der Kirche.
Krankenversicherung spendierte die nicht, dafür im Fall seines Großvaters
gleich die Sterbesakramente. War billiger, wurde als nachhaltiger promotet.
Wäre er innerhalb der Familienoptionen geblieben, hätte er zu den
staatlichen Vereinigte Edelstahl Werken Mürzzuschlag gehen müssen oder bei
der Österreichischen Bundesbahn irgendwas mit Formularen machen.
In letzterem Fall hätte er nächstes Jahr mit 53 bereits in Pension gehen
können. So machten es einige seiner Jugendfreunde. Er wollte das damals
nicht, wurde Buchhändler und fühlte sich als Außenseiter. Später wurde er
Dichter und Mitglied der Grazer Autorenversammlung. Die war sehr politisch.
Sie schrieben „unglaubliche viele Petitionen“. Es folgte nie was daraus,
aber schuld waren immer die anderen. Und er fühlte sich gut.
Eine Zeit lang. Über den zweiten Bildungsweg kam er zu einem
Geschichtsstudium und im Zuge dieses Kompetenzerwerbs war es mit der
Monokausalität vorbei. Ende der 80er wurde er vom enttäuschten Linken zum
„Internet-Theoretiker“. Er merkte, dass er tatsächlich etwas verändern
konnte, für sich und für andere. Aber er machte sich auch jede Menge
Illusionen. Nach dem Motto: Wir schaffen uns digital eine eigene Welt, wie
sie uns gefällt. „Jetzt lernen wir, dass auch diese Welt von Staaten,
Geheimdiensten und Konzernen gestaltet wird.“
## Überforderte Elite
Für ihn sind die Parallelen zwischen der Finanzkrise und der NSA-Krise
frappant. Hier wie da eine überforderte Elite, die das Dilemma nicht lösen
kann, weil sie es nicht im Ansatz verstanden hat. Wissenschaft im
Wolkenkuckucksheim und politisches Establishment, das sofort Kapital aus
der Situation schlagen will, genau wissend, dass sie das Problem
mitzuverantworten hat.
Mit noch mehr Regeln ist für ihn der Finanzkapitalismus nicht zu bändigen.
Das System sei ja explodiert, weil der US-Finanzminister im Fall von Lehman
die Verflechtung zwischen Politik und Banken („too big to fail“)
aufkündigte.
Generell werde zu viel aus dem Verantwortungsbereich des Einzelnen
weggenommen. Es gäbe auch kaum Kritik am Angestelltendasein, am
Arbeiterleben, am „stahlharten Gehäuse“, in dem abhängig Beschäftigte
steckten. Kaum einer werde inspiriert, Unternehmer zu werden oder
Genossenschaften zu gründen, „also Instrumente des Marktes nutzen und der
ökonomischen Emanzipation“. Woraus für ihn folgt: „Wir sind nicht bei ein…
fortschrittlichen Bewegung, die den Kapitalismus kritisiert, um ihn
verändern zu wollen. Wir sind beim Biedermeier, der schreit, dass der
Kapitalismus böse ist, weil er ihn in seiner Ruhe stört.“
Die abhängig Festangestellten, grade auch in Medienberufen, neigten zu zwei
Sichtweisen auf selbstständige Unternehmer: Auf finanziell
Schlechtergestellte herunterzuschauen, etwa Spätkaufbetreiber oder freie
Journalisten. Und die Erfolgreichen und Bessergestellten als Feindbild
nutzen. Damit man selbst fein raus ist. „Wos is des für a Revolution“, sagt
Lotter heiteren Gesichts, „die auf der Befindlichkeit von Leuten beruht,
deren Maßstab die eigene Festanstellung ist?“
## Die Expansion in China
Lotter ist gerade Vater eines Sohnes geworden, was ja häufig dazu führt,
sich über die eigene Lebenserwartung hinaus ernsthaft mit der Zukunft zu
beschäftigen. Was den Klimawandel angeht und die damit verbundenen Krisen,
ist er sicher, dass „wir die Expansion in China nicht überleben werden mit
derselben Methode, die wir im Westen angewendet haben.“ Über die schönen
„Sustainability“-Broschüren der Unternehmen kann er sich genauso aufregen
wie über Ökos, die aus ethischen Gründen zur Ökodiktatur neigen. Den Schrei
nach Postwachstum, also Reduktion von Verbrauch und eine schrumpfende
Wirtschaft, hält er für Quatsch beziehungsweise Besitzstandswahrung jener,
die mehr als genug haben.
Und der Green New Deal, nachhaltiges Wachstum, wie es der Grünen-Denker
Ralf Fücks propagiert, ist ihm zu „paternalistisch und von oben gesteuert“.
Weder könne man noch will er die nachholenden Gesellschaften am Wachsen
hindern. Die Frage sei daher: „Können wir Methoden entwickeln, damit wir
das alle zusammen weiter wachsen lassen können?“
Auch der Rezensent der Neuen Zürcher Zeitung fand das Buch gut, bemängelte
allerdings die fehlende Konkretion; also wie der Zivilkapitalismus – im
Gegensatz zum Industrie- und Finanzkapitalismus – denn nun genau
funktioniert. „Das halte ich für albern, den Leuten eine Anleitung zum
Zivilkapitalismus zu geben“, sagt Lotter. „Eine Bedienungsanleitung wäre
Bevormundung.“
Das Buch sei ein Aufruf zum Kern allen politischen Bewusstseins: „Du bist
in der Lage, etwas zu ändern.“ Als sozial unternehmerisches Bürger. Die
ökonomische Emanzipation, das Zusammendenken von Zivilgesellschaft und
Zivilkapitalismus, die Befreiung des Menschen von seiner selbst
verschuldeten ökonomischen Abhängigkeit: Das ist für Wolf Lotter der letzte
und fehlende Bereich der Aufklärung.
6 Apr 2014
## AUTOREN
Peter Unfried
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