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# taz.de -- Ausblick aufs Jahr 2020: Alle leben in Grandhotels
> Alle können flexibler und billiger in großen Hotels wohnen – und
> ökologischer. Der Schweizer Schriftsteller P.M. blickt zurück auf heute.
Bild: Diese gemeinsam nutzbaren Räume sind ökologisch sehr effektiv, pro Pers…
Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie wir in den zehner Jahren
lebten. Wir plagten uns zum Beispiel vierzig Stunden pro Woche ab, um all
den Krempel kaufen zu können, den wir dann periodisch wieder fortschmissen.
Wir pendelten per Auto zwischen sinnlosen Jobs und öden Wohnquartieren hin
und her, obwohl es wissenschaftlich belegt war, dass Pendeln der größte
Unglücksfaktor in einer westlichen Gesellschaft war, noch vor Zahnweh oder
dem Tod selbst (sterben macht übrigens nicht unglücklich).
Wir hatten unsere private Wohnfläche von 30 Quadratmeter in den achtziger
Jahren auf 50 erweitert, nur um uns dann auf dem Sofa zu langweilen. Klar,
wir brauchten ein Rückzugsgebiet, eine private Wellnesszone, weil die öden
Jobs uns so ausgelaugt hatten. Und wir brauchten die Jobs, um die Mieten
bezahlen zu können.
Schließlich entdeckten wir, dass wir gar nicht mehr wohnen mussten. Der
ganze Ärger um die Wohnungssuche, das Putzen, das Umziehen, das Möbelkaufen
war gar nicht nötig. Heute wohnen wir überall und nirgends. Kein Mensch hat
mehr Möbel. Warum Möbel herumschieben, wenn doch überall schon welche
stehen? Die Stadt, die Schweiz, die Welt sind endlich bewohnbar.
Klar müssen wir irgendwo schlafen, aber das kann man ganz gut in einem
Hotel. Im Jahr 2014 fanden wir es heraus: Der Mensch ist dazu gemacht, in
einem Grandhotel zu leben. Grandhotels sind die modernen Nomadenzelte,
Basislager oder Unterstände. Endlich sind wir angekommen. Wir sind alle
Gäste auf diesem Planeten, die für durchschnittlich 80 Jahre pauschal
gebucht haben.
## Solide Möbel, vernünftiges Essen
Die Zimmer können von allen benutzt werden – und nur, wenn wirklich
gebraucht. Es lohnt sich endlich, solide Möbel anzuschaffen. Gekocht wird
in vernünftigen, größeren Mengen, also hocheffizient in der Hotelküche, die
Lagerhaltung ist dank großer Mengen und professioneller Einrichtung
abfallfrei. Selbst zu kochen ist ja hauptsächlich ein Umweltverbrechen: 30
Prozent des Energiebedarfs der Ernährung wurden in unseren Küchen und
Lebensmittelsärgen – den Kühlschränken – verursacht.
In den Salons, Fumoirs, Bibliotheken, Billardzimmern, Ball- und Esssälen im
Erdgeschoss wird getanzt, geraucht, gelesen, gespielt, getratscht und
geschrieben, ohne dass jemand ein Möbel, ein Buch, einen Teller kaufen
müsste. Es gibt sogar betreute Kinderspielräume – etwas abgelegen –, so
dass auch Eltern bei all dem mitmachen können.
Diese gemeinsam nutzbaren Räume sind ökologisch sehr effektiv, pro Person
fallen nicht mehr als zwei Quadratmeter an (das macht 1.000 Quadratmeter
bei 500 Gästen). Dazu kommen noch 20 für das Zimmer, macht 22 Quadratmeter.
Früher waren es gegen 50. Diese Räume mussten beheizt werden. Sie mussten
gebaut und unterhalten werden. Das führte dazu, dass Wohnen ein Viertel
unserer Umweltbelastung ausmachte. Ein Wahnsinn!
Dabei bringt Wohnen nur Kummer und Sorgen. Wohnungen fixieren uns an einem
Ort, lähmen unsere Bewegungsfreiheit, generieren viel Arbeit. Umziehen ist
ein Krampf. Zieht jemand um von einem Grandhotel in ein anderes, braucht er
nur eine kleine Tasche zu packen. Sie braucht nicht einmal Kleider
mitzunehmen, denn jedes Grandhotel hat eine Ausleihgarderobe, Bettwäsche
ist schon da, Schirme gibt’s auch.
## Jeder kann sich das leisten
Hotelzimmer sind teuer – wer kann sich das leisten? Jeder: unsere 50
Quadratmeter privater Wohnraum kosten ca. 10.000 Franken pro Jahr, 28
Franken pro Tag, wenn man Glück hat (für zwei Personen wäre es eine
Monatsmiete von 1.700 Franken – etwa 1.400 Euro). Hotelzimmer bauen kostet
auch nicht mehr – 20 Quadratmeter, also die Hälfte, also 14 Franken pro
Tag.
Was früher Hotels teuer machte, war der Service. Dieser ließ sich aber
unter die Gäste als Ersatz für die eingesparte Hausarbeit aufteilen. Früher
leisteten wir etwa 11 Stunden Hausarbeit pro Woche, Männer 6, Frauen 16
Stunden (so das Soziologische Institut der Uni Zürich).
Wenn wir im Grandhotel 5 Stunden einsetzen, bei 350 arbeitsfähigen Gästen
(ganz Alte, Kranke und Kinder ausgenommen), dann haben wir 1.750 Stunden
pro Woche zur Verfügung, das sind 44 Vollzeitjobs, die wir für Kochen,
Waschen und Servieren einsetzen können. (Reinigung und Unterhalt sind ja
als Nebenkosten bei den Mietkosten schon inbegriffen.)
## Nanny, Sekretär, Pianist, Lehrerin einstellen
Wenn wir dazu noch ein paar Profis (sagen wir sechs: Köchin, Sommelière,
Nanny, Sekretär, Pianist, Lehrerin) einstellen, dann kostet das 360.000
Franken pro Jahr (bei einem Monatslohn von circa 5.000), 720 Franken pro
Bewohner, also 60 Franken mehr pro Monat, erhöht die Kosten um 2 auf 16
Franken pro Tag.
Nehmen wir dazu noch die Nahrungsmittelkosten, 300 Franken pro Person und
Monat, dann bekommen wir für 26 Franken am Tag, 780 im Monat oder auch 650
Euro, Vollpension mit Service. Für eine vierköpfige Familie sind das dann
3.120 Franken (Kinder voll gerechnet) auf 80 Quadratmetern, wahrscheinlich
aber eher weniger.
Familien können ihre Zimmer mit Zwischentüren zu Suiten verbinden. Wenn die
Kinder groß sind, werden die Türen geschlossen, und die Zimmer werden
wieder frei. Nur 10 bis 14 Prozent der Zürcher Bevölkerung leben in
Familien, „Familie“ ist also nur eine Phase, die etwa 15 Jahre dauert. Es
ist völlig abwegig, für diese Phase Familienwohnungen zu bauen.
Natürlich kommen noch andere Ausgaben dazu: der Hotelbus, der einen zum
Bahnhof oder zur nächsten ÖPNV-Haltestelle bringt, der Unterhalt von
Bibliothek, Humidor, Weinkeller, der Ersatz von Wäsche und Geschirr,
Reparaturen und so weiter. Dafür spart man aber das Auto, das sind 667
Franken im Monat (es hat dafür ein paar bekanntlich ewig haltbare
Leih-Rolls-Royces und Motorräder).
## Fünf Jahre dauert der Umbau
Da die 14.000 Grandhotels der Schweiz (niemand will mehr anders wohnen)
eine einzige Kette bilden, wie früher McDonald’s oder Ibis, kann man
jederzeit in einem anderen absteigen, wenn man sich mit allen Gästen
zerstritten hat.
Der Umbau der Schweiz zu den Grandhotels dauerte nur fünf Jahre und
erzeugte verschiedenste und bunteste Hotel-Formen: Blockrandhotels,
Hochhaushotels, diffuse Dorfhotels, mit Zwischenbauten verbundene
Agglohotels und so weiter. Einzig aus den Einfamilienhaussiedlungen ließ
sich nichts Vernünftiges machen: sie wurden vom Zivilschutz abgerissen und
wieder in stadtnahes Landwirtschaftsland zurückverwandelt.
Wir sind nicht nur Gäste, sondern haben irgendwo noch Jobs, zum Beispiel
als Pianist in einem anderen Grandhotel. Doch viel Arbeit fällt nicht mehr
an: gebaut wird nichts mehr, Autos gibt’s kaum mehr (früher hing jeder
siebte Job am Auto), es müssen nur noch halb so viel Nahrungsmittel erzeugt
werden, Möbel, Kleider, Haushaltskrempel wird kaum noch neu hergestellt;
Ökodesign (haltbar, reparierbar und so weiter) lohnt sich.
Man kommt jetzt gut mit 50 Prozent der damaligen formellen Arbeit aus, also
mit vier Stunden pro Tag, oder eher 150 Arbeitstagen pro Jahr. Neben dieser
Profiarbeit (als Kampfpilotin, Gehirnchirurgin oder Richterin) fallen
allerdings noch vier Stunden Arbeit im erweiterten Haushaltsbereich an. Man
hat Küchendienst, Waschdienst, man ist im Service. Man darf einander die
Betten machen.
## Ein guter Kompromiss
Da jedes Grandhotel seine Nahrungsmittel auf einem Hof der Region (das
braucht 80 Hektar, also 0,8 Quadratkilometer) selbst produziert und einen
Teil der Landarbeit übernimmt, konnte ihr Preis leicht halbiert werden, und
die Pensionskosten sanken weiter. Ein Teil der Gesundheitskosten entfällt,
weil interne Pflege in den Hotels gut organisiert werden kann.
Als wir all das ausgerechnet hatten, kamen wir zum Schluss, dass man das
ganze Paket gleich für alle BewohnerInnen ab Geburt als Generalabonnement
gratis machen konnte. Wir hatten eine echte Lösung gefunden.
Die Grandhotels gelten als guter Kompromiss zwischen unseren nomadischen
und sesshaften Instinkten. Die Standards sind – natürlich mit lokalen
Anpassungen – überall auf der Welt etwa die gleichen. Nationale und andere
Grenzen haben sich weitgehend aufgelöst, wir sind einfach Gäste einer
einzigen, globalen Hotelkette.
28 Sep 2014
## AUTOREN
P. M.
## TAGS
Ökonomie
Wohnen
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Leben
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