| # taz.de -- Tscherkessen in Russland: Auf den Gräbern der Vorfahren | |
| > Der Genozid an den Tscherkessen durch russische Eroberer wird | |
| > totgeschwiegen. Daran hat sich vor und während Olympia in Sotschi nichts | |
| > geändert. | |
| Bild: Tscherkessen demonstrieren Anfang Februar vor der russischen Botschaft in… | |
| MOSKAU taz | „Russland hat für die Eroberung einen so hohen Preis gezahlt, | |
| dass es bis heute nicht mit den unterworfenen Völkern offen sprechen kann“, | |
| meint Boris. Der junge Mann ist Tscherkesse aus dem Nordkaukasus, | |
| russischer Staatsbürger und lebt in Moskau. Boris möchte anonym bleiben. | |
| Mit der Austragung der Olympischen Spiele in Sotschi ist das Leben für | |
| Aktivisten aus der tscherkessischen Diaspora schwieriger geworden. | |
| Seit Bewegungen wie NoSochi versuchten, gegen die Spiele mobilzumachen, | |
| trat auch der russische Geheimdienst auf den Plan. Die Welt soll partout | |
| von dem begangenen Unrecht – Völkermord und Vertreibung – des Eroberers im | |
| Kaukasus vor 150 Jahren nichts erfahren. Noch am Tag der Eröffnungsfeier | |
| wurden dutzende Demonstranten in der Republik Kabardino-Balkarien | |
| festgenommen – eine der zwei nordkaukasischen Republiken, in denen Stalin | |
| Tscherkessen mit Turkvölkern und Russen zusammensperrte. Nach der Devise: | |
| Teile und herrsche. | |
| Auch Verbände, die lediglich verlangen, Russland möge Unrecht eingestehen | |
| und die Tscherkessen im offiziellen Olympiaprogramm erwähnen, wurden von | |
| den Behörden schikaniert. Gezielt wird versucht, sie durch vermeintliche | |
| Verbindungen zum islamistischen Terror in Misskredit zu bringen. | |
| 700.000 Tscherkessen leben noch in Russland. Sie verfügen mit der Republik | |
| Adygeja auch über eine eigene Verwaltungseinheit, stellen dort aber nur | |
| eine Minderheit. Adygeja ist ein tscherkessisches Wort und bedeutet | |
| Krieger. Bis 1864 war Sotschi (Schetsch) die Hauptstadt der Tscherkessen. | |
| Die Völker der ethnischen Großfamilie siedelten an der Ostküste des | |
| Schwarzen Meeres und im Vorgebirge. Im Schicksalsjahr 1864 brach der | |
| Eroberer den letzten Widerstand der Tscherkessen. | |
| Vier Heereskolonnen trafen am 7. Mai 1864 im Hochtal von Kbaade ein, wo der | |
| tscherkessische Stamm der Ubychen lebte und wohin sich die letzten Häuflein | |
| Unbeugsamer zurückgezogen hatten. Nach vier Tagen Artilleriebeschuss gab es | |
| keine Überlebenden mehr. Der Bruder des Zaren ließ auf der Hochebene mit | |
| einem Dankgottesdienst und einer Parade das Ende des Kaukasuskriegs nach | |
| mehr als 100 Jahren feiern. | |
| ## Pietätloses Massenspektakel | |
| Kbaade heißt heute Krasnaja Poljana und ist Austragungsort der alpinen | |
| olympischen Wettbewerbe. Ein Massenspektakel auf den Gräbern der Vorfahren | |
| abzuhalten, hielt die Diaspora für pietätlos, fand aber kein Gehör. Bislang | |
| gibt es nicht einmal ein Denkmal, das an Mord und Vertreibung erinnern | |
| würde. | |
| Im Kampf gegen den russischen Eindringling starben in der Endphase des | |
| Vernichtungskrieges ab Ende 1863 nach vorsichtigen Schätzungen 400.000 | |
| Menschen, mindestens 1,2 Millionen wurden vertrieben. Die meisten | |
| flüchteten ins Osmanische Reich. Doch auch auf der Flucht kamen noch mal | |
| mindestens 200.000 Menschen ums Leben. | |
| Russische Militärs beschrieben erstaunlich offen, welcher grauenhaften | |
| Szenen sie während der Vertreibung an der Küste gewahr wurden: „Es lagen | |
| Leichen von Kindern, Frauen und Alten herum, zerfleischt und halb | |
| aufgefressen von Hunden. Die türkischen Schiffer, die die Flüchtlinge nach | |
| Kleinasien bringen sollten, verluden die Tscherkessen wie eine Fracht, „die | |
| sie bei kleinsten Anzeichen einer Krankheit über Bord warfen“, schreibt der | |
| Offizier Iwan Drosdow in seinem Bericht. | |
| Auch ein federführender General, Rostislaw Fadejew, nimmt bei der | |
| Beschreibung des Kriegsziels kein Blatt vor den Mund: Im Unterschied zum | |
| Osten des Kaukasus würde die Unterwerfung der Völker im Westen im | |
| herkömmlichen Sinne nicht ausreichen. Die Exklusivität der Schwarzmeerküste | |
| müsste für Russland gesichert werden: „Russland braucht das Land, nicht | |
| dessen Menschen.“ Fadejew spricht von Pogromen und systematischer | |
| Vernichtung. | |
| ## Ethnische Säuberungen | |
| Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurden tscherkessische | |
| Organisationen immer wieder vorstellig und forderten Moskau auf, die | |
| Verbrechen einzugestehen und ethnische Säuberungen nicht mehr zu leugnen. | |
| In Wladimir Putins Entwurf einer harmonischen Vielvölkerzivilisation hat | |
| die tatsächliche Geschichte von Kolonialgewalt und systematischer | |
| Ausmerzung jedoch keinen Platz. | |
| Erstaunlich ist, dass die sowjetische Geschichtsschreibung selbst unter | |
| Stalin bis Ende der 1940er Jahre die Eroberungen des Zarenreichs als | |
| Kolonialismus behandeln und Kolonialgewalt beim Namen nennen durfte. Erst | |
| danach wurden kaukasische Nationalhelden wie Imam Schamil zu Agenten | |
| imperialistischer Mächte wie England oder der Pforte – und nicht zuletzt zu | |
| „Protagonisten einer reaktionären Revolte“, so der Kaukasusexperte Uwe | |
| Halbach. In der Folge wurde der Anschluss an Russland als eine „bessere | |
| Entwicklungsperspektive“ und Inbegriff des „absolut Guten“ gewertet. | |
| Dieses Geschichtsbild beherrscht auch noch die Ära Wladimir Putins. | |
| Wünschenswert wäre gewesen, wenn der Kreml mit Olympia ein Zeichen gesetzt | |
| hätte. „Wie Kanada bei den Winterspielen 2010 in Vancouver, das die | |
| indianischen Ureinwohner am Programm der Spiele beteiligte“, meint Boris. | |
| Stattdessen wurden die Tscherkessen erneut totgeschwiegen. | |
| ## Langsame Assimilation | |
| Viele von ihnen wären indes schon zufrieden, wenn Russland den Nachfahren | |
| der Vertriebenen heute ein großzügigeres Rückkehrrecht einräumen würde. Sie | |
| fürchten langsam assimiliert zu werden. Auch die Gründung einer | |
| eigenständigen Republik im russischen Staatsverband wird diskutiert. | |
| Solange Moskau den Dialog jedoch verweigert, bleibt das eine Utopie. | |
| Dennoch spielen separatistische Bestrebungen keine Rolle. | |
| Experten schätzen, dass zwischen 4 und 6 Millionen Menschen mit | |
| tscherkessischen Wurzeln noch in der Diaspora leben. Die größten | |
| Kontingente entfallen auf die Türkei, Europa und die USA. Eine bedeutende | |
| Minderheit von 100.000 ließ sich in Syrien nieder. Seit Ausbruch des | |
| Bürgerkriegs versuchen viele in den Kaukasus zurückzukehren. Bislang | |
| erlaubte der Kreml jedoch nur 1.000 Antragstellern die Heimkehr. | |
| Am 23. Februar findet die Abschlussfeier der Winterspiele in Sotschi statt. | |
| Russland begeht an diesem Datum auch den Tag der Vaterlandsverteidiger. Für | |
| die Völker des Kaukasus verbindet sich der 23. Februar mit einem tragischen | |
| Ereignis. 1944 wurden sie von den Schergen Stalins nach Zentralasien | |
| deportiert. Die sowjetische Deportation könne – so die | |
| Tscherkessen-Expertin Irma Kreiten – als die Wiederaufnahme eines Projekts | |
| gesehen werden, das die imperialen Vorgänger begonnen, aber unvollendet | |
| gelassen hatten. | |
| 13 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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